Aurea mediocritas

[25] Die »aurea mediocritas« des Horaz scheint mir ein Deckmantel für Memmen und Schufte.

Passows Briefe


Durch ungebahnte Bergesengen,

Wo rechts und links der Abgrund gähnt,

Dort hab' ich oft, dahinzusprengen

Auf wildem Renner, mich gesehnt.

Lawinen donnern, Geier schweben

Fraßgierig über mir im Blauen;

Ich aber will die Sporen geben

Und nicht zurück, nicht seitwärts schauen.


Im stillen Tal, auf weichen Matten,

Von Lind' und Rose überpflanzt,

Wo unterm breiten Blätterschatten

Die Schäferin den Reigen tanzt:

Dort, weinberauscht, auf üpp'gen Kissen

Im Arm der Liebe mich zu dehnen,

Auch dahin ging, Ihr sollt es wissen,

Auch dahin ging mein heißes Sehnen.


Ihr aber geht die Mittelstraße

Hin zwischen Alpe, Tal und Fluß;

Das Reiten dient Euch nicht zum Spaße,

Drum geht Ihr lieber hübsch zu Fuß;

Gemächlich schlendert Ihr von hinnen

Und seht nicht vorwärts, noch zurücke,

Und plumpt Ihr in die Straßenrinnen,

So nennt Ihr's große Mißgeschicke.


Indes ich zaumlos überspringe

Des Felsenschlundes offnes Maul,

Führt Ihr bequem am Nasenringe

Den hüftenlahmen Karrengaul;

Indes im weichlichsten Genusse

Ich hingegeben schwelgend ruhe,

Macht Ihr zu Hause Fidibusse,

Damit der Geist doch etwas tue.
[26]

Sollt schwarz und weiß Ihr unterscheiden

Und zwischen beiden wählen schlau,

So sagt Ihr: Her mit allen beiden!

Wir mischen beide in das Grau.

Wenn Leu und Tiger sich bedrängen,

Steht Ihr parteilos in der Mitten;

Sollt Ihr von Zweien Einen hängen,

So nehmt Ihr ganz gewiß den Dritten.


Das ist die Pest des edlen Blutes,

Der Hemmschuh für das Rad der Zeit,

Das ist der Tod des freien Mutes

In Rat und Tat, in Fried' und Streit.

Du Mittelweg für Schuft' und Memmen,

Du Schlupfloch jeder feigen Blöße,

Wann wird dich endlich niederschwemmen

Der Alpenstrom der Kraft und Größe?

Quelle:
Moritz von Strachwitz: Sämtliche Lieder und Balladen, Berlin 1912, S. 25-27.
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