Leidenschaft über Empfindsamkeit

[8] Wenn die Wälder tief verstummen,

Sich der Himmel weitet, breitet,

Durch das Blau mit leisem Summen

Nicht ein einzig Lüftchen gleitet;


Wenn die Ströme schweigend rollen

Und der Sturm die Renner zügelt,

Auf dem See, dem ruhevollen,

Nicht ein Hauch die Welle hügelt:


Hört man wohl beim Abendschillern

Turteltauben Seufzer tauschen,

Hört man wohl die Lerche trillern

Und das Bächlein schwatzend rauschen.


Wenn in zornigem Erzittern

Sich im Kampf die Äste schlagen,

Durch das Blau in Schlachtgewittern

Donnerwolkenheere jagen;


Wenn der Stromschuß jach hereinbraust

Und das Sturmroß schnaubt im Zorne,

Hoch die Welle ans Gestein braust

Aus des Seees Strudelborne:


Schweige dann, du Westessäuseln,

Lerchenschwirren, Taubengirren;

Höre, Bächlein, auf zu kräuseln

Und durch Rosen hinzuirren.


Wenn mit Macht die Adern kochen

Und im Sturm die Triebe streiten:

Schweige dann, du leises Pochen

Liebeszarter Seligkeiten.


Tränen ihr, ihr süßen, bittern,

Laßt euch stillen, flüssig laue,

Wenn die Blitze Felsen splittern,

Ist's nicht Zeit zum Morgentaue.

Quelle:
Moritz von Strachwitz: Sämtliche Lieder und Balladen, Berlin 1912, S. 8-9.
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