O wecke nicht den scheuen Stolz!

[126] O wecke nicht den scheuen Stolz,

Ihn weckt ein leicht Geräusch,

Er bricht den Liebespfeil im Holz,

Die Spitze bleibt im Fleisch;

Er geht urplötzlich wie ein Sturm

Durch den allerschönsten Mai,

Die Liebe krümmt sich wie ein Wurm,

Der Frühling ist vorbei!


Ich habe Dich so sehr geliebt,

So sehr ein Mann gekonnt,

Dein Aug' hat meine Stirn getrübt,

Dein Auge sie besonnt.

Vielleicht hast Du mich auch geminnt!

Vielleicht – es ist zu spät!

Die Stunde rinnt, die Wunde rinnt,

Die Saat ist abgemäht! –


Wie bist Du schön! Im Herzen wühlt

Der abgebrochne Schaft,

Du hast zu gerne Ball gespielt

Mit mir und meiner Kraft.

Ich bog mein trotzig Knie um Dich,

Du hast Dich abgekehrt;

Da lacht' ich wild und stürzte mich

In meines Stolzes Schwert.


Fahr' wohl, ich kann nicht zweimal knien

Um alles Heil der Welt!

Dir aber wünsch' ich Maiengrün,

Wohin Dein Auge fällt.

Und wenn es einst in Liebe schmolz

Für einen bessern Mann,

Du kennst den Stolz, den scheuen Stolz,

O rühre nie daran!

Quelle:
Moritz von Strachwitz: Sämtliche Lieder und Balladen, Berlin 1912, S. 126-127.
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