[50] Sylva Sylvarum.

[50] Einleitung.


In der Mitte meines Lebensweges setzte ich mich nieder, um auszuruhen und nachzudenken. Das Kühnste, was ich gewünscht und geträumt, hatte ich gehabt. Der Schande wie der Ehre, des Genusses wie der Leiden satt, fragte ich mich: was nun?

Alles wiederholte sich in ertötender Eintönigkeit, alles glich sich, alles kam wieder. Die Alten hatten gesagt: die Welt hat keine Geheimnisse mehr; wir haben die Auflösung aller Rätsel gefunden, wir haben alle Probleme gelöst. Wir haben mit Hilfe des Spektroskops gesehen, daß die Sonne keinen Sauerstoff besitzt, was sie jedoch nicht hindert, so gut wie Antimon in Chlor oder Kupfer in Schwefel zu brennen.

Wir haben die Kanäle des Mars gezeichnet, welche in fataler Weise den Widmanstettenschen Figuren der kosmischen Meteorkörper gleichen, und dabei sind wir erst in allerjüngster Zeit über das Innere Afrikas aufgeklärt worden und kennen noch immer weder Borneo noch die Polarmeere.

Eine Generation, die den Mut gehabt hatte, Gott abzuschaffen, den Staat, die Kirche, die Gesellschaft, die Moral niederzureißen, beugte sich noch vor der Wissenschaft. Und da, in der Wissenschaft, wo jede Freiheit herrschen sollte, lautete nun die Parole: Glaube der Autorität oder stirb! Keine Julisäule war noch auf[51] dem Platz der alten Sorbonne errichtet worden, und das Kreuz überragte noch das Pantheon und die Kuppel des Instituts.

Es gab also nichts mehr auf dieser Welt zu tun, und ich beschloß, als unnütz, vom Schauplatze abzutreten.

Schon brannte die Weingeistlampe unter der Retorte, und das aus Blut und Eisen destillierte Eisenzyankali, goldgelb und in seinem erhitzten Zustande vom Dufte des gelben Labkrauts, war bereit, die Schwefelsäure aufzunehmen, welche, konzentriert, den Tod herbeiführt und, verdünnt, durch Gärung das Leben schafft. Diesmal sollte sie verdünnt werden, um den Tod herbeizuführen. – Welch ein geringfügiger Unterschied? Und welch erhabener Gegensatz!

Der Kohlenstickstoff, der Erzeuger eines blauen Salzes, wie er von einem gelben herstammt, begann sich zu entwickeln, jene unschuldigste aller Kombinationen, wo die reine Kohle mit dem indifferenten Stickstoff eine schreckliche Verbindung eingegangen ist, ein Wunder von Verbindung, davor die Wissenschaft ihre Unwissenheit hat bekennen müssen.

Die Dämpfe entstiegen dem Rezipienten, und sofort schnürte sich mir wie von Diphtheritis oder sauerstofflosem Leichengift die Kehle zu. Die Lähmung der Armmuskeln begann, und ich bekam Stiche im Rückenmark.

Ich unterbrach die Operation, als ein Geruch wie von bitteren Mandeln sich zu verbreiten begann; mir war, als sähe ich an einem Gartenweg einen blühenden Mandelbaum und hörte die Stimme einer alten Frau.[52] Die Stimme aber sagte: »So glaube doch nicht daran, mein Kind!«

Und ich habe nicht mehr daran geglaubt, daß das Welt-Geheimnis entschleiert sei, sondern habe manchmal allein, manchmal mit andern angefangen, über die große Unordnung nachzudenken, um zuletzt in ihr einen unbegrenzten Zusammenhang zu entdecken.

Dieses Buch ist das Buch von der großen Unordnung und dem unendlichen Zusammenhang.

Folge mir, Wanderer, wenn dich dein Weg mir vorüberführt, und du wirst freier atmen; denn in meiner Welt herrscht die Unordnung, und das bedeutet da nichts anderes als die Freiheit.

Quelle:
Strindberg, August: Inferno. Berlin [1919], S. 50-53.
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