Erster Auftritt.

[187] Julie, Frau von Wichmann.


FRAU VON WICHMANN. In diesem Hause ist nun alles so traurig, Julie, wenn ich an die Freude denke, die sonst hier herrschte, so geht es mir nahe – und besonders deswegen geht es mir nahe, liebes Kind, weil du wirklich allein Schuld daran bist. Ich habe dich nicht immer so eigensinnig gekannt, Julie, und ich hätte ein wenig mehr Folgsamkeit von dir erwartet, eine mehr nachgebende Liebe gegen deinem Vater –

JULIE. Ach, liebste Tante! ich habe meine Kräfte versucht, wenn Sie mich gesehen hätten, wie ich in langen schlaflosen Nächten gerungen und gekämpft habe – gewiß, Sie würden mir, Sie könnten mir Ihr Mitleiden nicht versagen – ich kann es nicht zwingen, sagen[187] Sie mir, woher kommt diese Unfähigkeit einem Vater zu gehorchen, den ich verehre? diese Widerstrebung gegen Gründe, die mir gültig vorkommen? Ein flüchtiger Gedanke an Ihn macht alles zu nichte – Ich bin doch kein lasterhaftes Mägdchen nicht – aber Ihn – Ihn kann ich nicht aus dieser Brust vertilgen – Unglücklicher! dein Leiden macht dich mir theuer, den um meinetwegen leidest du – Sie kennen Ihn wohl nicht, haben Sie Ihn niemals gesehen?

FRAU VON WICHMANN. Nein, ich kenne ihn nicht, armes Kind – aber man hat mir viel gutes von Ihm gesagt – indessen ist der Mann, den man dir bestimmt, doch auch ein würdiger tugendhafter Mann – und o, wie beugst du sein Herz, Julie.

JULIE. Der Mann ist ein vortrefflicher Mann – aber er ist der Mann, der mich mit seiner Liebe verfolgt, den ich ohne Zittern nicht sehen kann – Glückselige Zeiten meiner ersten Jugend! ihr seyd vorbey. – Ruhe meines Lebens! du bist dahin – Wie hätte ich wohl dieser Liebe widerstehen sollen, liebste Tante? Sie entstand mit unserer Kraft zu empfinden, und mein Vater und das ganze Haus schälten ihn hoch – ist es nicht unser Verwandter? nennte Ihn mein Vater nicht oft[188] seinen Sohn? glaubten Sie nicht alle, daß er mir bestimmt wäre, ehe man das unglückliche Verspreche erfuhr? konnte ich voraus sehen, daß man noch etwas anders als Uebereinstimmung der Gemüther bey meiner Verheirathung fordern würde? O sagen Sie mir, liebste Tante, ist es nicht sehr hart? was wird es mir helfen, wenn ich reich und nicht glücklich bin?

FRAU VON WICHMANN. Was soll ich dir sagen, meine Tochter? du bist sinnreich deine Leidenschaft zu vertheidigen – und gegen alle Vorstellungen hast du dich gewaffnet: die erste Liebe, Kind, ist meistentheils unvernünftig; glaubst du, daß man ohne Erfahrung, bloß nach der Empfindung der ersten Jugend einen Mann wählen müsse? sehr wenige Mägdchen haben ihre erste Liebhaber geheirathet. Ueberdies so hat dein Vater allerdings Rechte über dich; Er hat seinem einzigen Freunde auf seinem Todtbette versprochen, daß sein Sohn mit dir verbunden werden sollte: wenn dieser Sohn ein verdienstloser Mann geworden wäre, so müßte diese Zusage nichts seyn; aber er ist tugendhaft, Julie, und er ist deiner würdig; er liebt dich zärtlich, und denkt so edel, daß er dem Ansehen deines Vaters nichts schuldig seyn will, schon sechs Monate hat er mit unglaublicher Gedult deinen Kaltsinn ertragen – sey einen Augenblick[189] unpartheyisch, Julie, sage mir, ist der Mann, der so handelt, hassenswürdig? sind die Bewegungsgründe deines Vaters verwerflich, die Bitte eines sterbenden Freundes, was sollte Ihren Eindruck wohl entkräften.

JULIE. Meine Thränen, liebste Tante! mein Leiden – Mein Vater hätte mich an dem Bette seines Freundes opfern sollen? o das wäre grausam, der alte Woldemar war, wie man sagt, ein verdienstvoller Mann – wie konnte er in der letzten Stunde seines Lebens mich mit dieser schrecklichen Bitte fesseln? was hatte ich ihm zu Leide gethan, daß ich an seinem Grabe verurtheilt, und zum Triumph seines Sohnes aufbewahret werden sollte?

FRAU VON WICHMANN. Ich muß es dir gestehen, Kind, in allem was du sagst, ist viel ungerechtes, denn deine Haupteinwendung ist doch eigentlich nur, daß du verliebt bist, in einen Menschen verliebt, der gar kein Vermögen, vielleicht ein gutes Herz und wilde Sitten hat, der dich ungroßmüthig in einem wehrlosen Alter überfiel, und dessen Sieg über dich eine Undankbarkeit gegen deinen Vater seinen Wohlthäter war, denn er konnte wohl einsehen, daß die einzige Erbin meines Bruders seine Frau nie werden konnte, diese Seite von der[190] Sache willst du nicht sehen – du hältst die Augen zu – nimm dich in Acht Kind, daß du im finstern dem Abgrunde nicht nahe kommst.

JULIE weinend. Auch Sie, liebste Tante – auch Sie stossen mich weg – weit von sich weg ins Elend –? Belmont! du ein Undankbarer –? o ich habe deine Thränen, deine dankbare Thränen gesehen. Weint.

FRAU VON WICHMANN. Weine nicht Julie – du machst mich weichherzig – weine nicht, mein Kind, ich sollte nicht so weich seyn. Wo ist Belmont? hast du Briefe von ihm? schreibst du Ihm oft?

JULIE. Ich ihm schreiben? ach in welchem entfernten Lande wird er vielleicht jetzt mit der Verzweifelung ringen? Mein Vater hat mir drehend geboten, ihm nicht eine Sylbe zu schreiben – ich habe in sechs Monaten nichts von ihm gehört – Ach wo wird er seyn – wie wird es ihm gehen – Allmächtiger! Beschützer der Unschuld – der du die Reinigkeit unserer Herzen kennst – breite, o breite deine Hand über den unglücklichen Menschen – ach Tante, ich zittere, wenn ich an die Last seines Unglücks, und an seine Heftigkeit denke.[191]

FRAU VON WICHMANN. Ich will mit deinem Vater reden Julie – aber ich sage dir voraus, ich verspreche dir nichts – ich kann dir nicht Recht geben Kind, denn du rührst mich mehr als du mich überzeugest. – Hier kömmt mein Bruder, laß mich allein mit ihm sprechen –


Julie geht ab.


Quelle:
Peter Helfrich Sturz: Schriften. Band 1, Leipzig 1779–1782, S. 187-192.
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