Dreizehntes Kapitel

Die Eroberung Berlins

[221] Der Zug, mit dem ich in die weite Welt hinausfuhr, war fürs erste nur bis Tilsit vorgedrungen, da stieg in das Abteil dritter Klasse, in dem ich mich für die nächsten vierundzwanzig Stunden häuslich eingerichtet hatte, ein junger Mensch meines Alters, dessen Erscheinen mich unangenehm berührte.

Man kannte sich und kannte sich auch nicht. Buchhändlerlehrlinge, zumal wenn sie die Dreistigkeit besessen hatten, in schönwissenschaftlichen Dingen besser Bescheid zu wissen als der literarische Matador der Prima, sind nicht dazu angetan, einem, der inzwischen auf den Höhen der Menschheit gewandelt ist, zum Verkehr zu dienen.

Ich beschloß also, Herrn Neumann – »denn er war es«, wie es in den Romanen der gelben Hefte heißt – nach Menschenkraft eine kalte Achsel zu zeigen und diesen Körperteil nicht warm werden zu lassen, wenn selbst das Schicksal es wollte, daß ich bis Berlin mit ihm zusammengepfercht blieb.

»Ich würde mich sehr wundern, wenn wir uns nicht schon im Leben begegnet wären«, sagte Herr Neumann, indem er mich durch den funkelnden Zwicker prüfend musterte.

»Auch ich erinnere mich dunkel«, erwiderte ich mit gebotener Zurückhaltung.

»Nun, hat des Mississippi gelbe Woge inzwischen Ihren Fuß umspült?« fragte Herr Neumann unschuldig.

»Wieso?« fragte ich zurück und wurde sehr rot, denn dies war eine der hervorragenderen Stellen aus der famosen Abschiedsrede, die ich vor zwei Jahren in der Aula des Realgymnasiums gehalten hatte.

»Ich zitiere Sudermann, und Sudermann versteht mich[222] nicht«, sagte Herr Neumann. »Ein gewählteres Kompliment dürfte Ihnen nach zweijähriger Abwesenheit von einem Einwohner dieser braven Stadt kaum gemacht werden können. Übrigens bin ich aufs längste ihr Einwohner gewesen. Ich habe mein Abitur erledigt und gehe jetzt nach Berlin studieren.«

»Ich auch«, entfuhr es mir. Und damit war das Schicksal meiner nächsten Stunden besiegelt. Und noch vieler tausend Stunden hinterher. Aber dies ahnte ich damals noch nicht.

Fünf Minuten später saßen wir mitten in heftigster Diskussion. Mein Reisegefährte hatte die Absicht, sich der Mathematik und den Naturwissenschaften zuzuwenden, aber seine literarischen Kenntnisse waren enorm.

Gutzkow? »Blech« ... Laube? »Stümper« ... Storm? »Alle Achtung« ... Hamerling? »Kolossal« ... Freytag? »Lala«.

Man konnte im übrigen über ihn denken wie man wollte, aber diesen Urteilen mußte man zustimmen. Außerdem kannte er Leute – »ganz große Leute«, behauptete er –, deren Namen ich noch niemals gehört hatte. Da war einer, der hieß Keller, der sollte den ganzen Heyse in die Tasche stecken. Und ein anderer, der hieß Grisebach, der war nichts weniger als ein neuer Heine. Und ich wußte nichts von ihm.

Ein solcher Vorsprung an literarischem Wissen war peinlich und konnte nur durch meine Überlegenheit in Philosophie wieder eingeholt werden.

Aber da kam ich schön an.

Hegel? »Zeitverschwendung« ... Fichte? »Moraltrompeter« ... Schelling? »Kommt drauf an, welchen der drei Schellinge Sie meinen.« Ich erschrak heftig. Sollten etwa ebenso wie zwei große Dichter auch zwei große Philosophen – die Namensvettern oder Verwandte Schellings waren – meiner Aufmerksamkeit entgangen sein? Gab es gar eine Dynastie Schelling? Niemals hatte ich von ihr gelesen oder gehört.[223]

»Sehen Sie mich nicht so verdutzt an«, sagte Herr Neumann.

»Schelling hatte doch bekanntlich drei Perioden, die in seiner Beurteilung streng zu unterscheiden sind. Ehe wir uns über ihn unterhalten, muß ich wissen, welche Sie im Auge haben.«

Und noch weiter gedieh meine Demütigung. »Eduard von Hartmann.« – »Jawohl – jawohl.« Bis zu Schopenhauer war ich vorgedrungen, aber von der Philosophie des Unbewußten hatte ich kaum eine Ahnung.

Ein Glück war's, daß Herbart, Lotze und Wundt mich wieder herausrissen, sonst hätte ich, trotz meiner vier Semester, glatt vor ihm auf dem Rücken gelegen.

Schließlich einigten wir uns in der Verehrung Ludwig Feuerbachs, in dem wir gemeinsam den Heiland des modernen Denkens erblickten.

Die Nacht war über unserem Gedankenaustausch hingegangen, und der Morgenglanz vergoldete die Zinnen der Marienburg. Elbing, mein geliebtes Elbing, Klara Hornigs Heimat, lag hinter mir, und ich hatte es nicht einmal bemerkt.

Die Backen brannten mir, als käm ich von einem Feste. Hier war der Mann, der mir fehlte, der mich über mich selber hinausriß.

Wäre er nur nicht so eckig gewesen! In Aussehen und Manieren prädestiniert zu einem richtigen »Kamel«. Und für »Kamele« hatte ich, obwohl ich doch längst selber eins war, nur grenzenlose Verachtung – so wirkte der Zauber des grünweiß-roten Bandes noch immer auf mich ein.

Der Tag verrann. Die klötrige Tuchler Heide, die uns die Polen gnädig abgenommen haben – was gäben wir drum, wäre sie unser! – zog langsam vorüber. Es kam Schneidemühl, es kam Kreuz. Küstrin mit seinen friderizianischen Erinnerungen tauchte aus den Odersümpfen auf – und wir debattierten noch immer.

Plötzlich fiel der Name Sardou.[224]

Wir sahen uns an und erschraken beide. Um Gottes willen – die Franzosen! Seit bald vierundzwanzig Stunden hatten wir im Meinungskampfe gelegen und so getan, als ob die großen Dramatiker unserer Nachbarn, die doch auch die deutschen Bühnen beherrschten, nicht auf der Welt wären.

Wie konnte das nachgeholt werden, zumal uns jetzt unser Ziel mit jeder Sekunde um ein erkleckliches Stück entgegenflog? Die Stationen begannen einander auf die Füße zu treten, und wie das bekannte Schlachtfeld auf der flachen Hand wuchs auf der flachen Ebene ein nie geschauter Häuserkasten nach dem anderen – unheimlich mit seinen blinden Brandmauern, die nach Anlehnung schrien, und dem grellweißen Bauschutt drum herum, der an Verfall gemahnte, während er doch nur ein Zeichen der Nichtvollendung war.

An ein gesammeltes Weitersprechen war nicht zu denken. Hier mußte ein rascher Entschluß gefaßt werden, denn wenn der Ozean der Weltstadt uns erst in seine Arme genommen hatte, führte er uns vielleicht nie mehr zusammen.

Das einfachste war, wir trennten uns überhaupt nicht mehr, wir bezogen dieselbe Bude und konnten dann streiten vom Morgen bis zum Abend, und wenn ein Thema sich als dringend erwies, auch vom Abend bis zum Morgen – und die paar Kollegstunden würden nur eine wenig erhebliche Unterbrechung sein.

Ein Handschlag, der den Entschluß besiegelte – und dann war plötzlich die alte, rußige Bahnhofshalle da, die, bevor die Stadtbahn neue Zugänge schuf, die Welteroberer, die wie einstens Dschingis-Chan vom fernen Osten kamen, in ihrem dunklen Schoße aufnahm, um sie für eine siegreiche Zukunft neu zu gebären.

Ein Platz, umstanden von lauter Palästen, tat sich auf. Getöse und Gewühl. Geheimnisvolles Brausen über allem wie eine Mahnung an den Jüngsten Tag.[225]

Auf dem Verdeck eines Omnibusses, der uns irgendwo ins Unbekannte trug, fand ich neben dem neuen Freunde einen Platz.

Und die Paläste nahmen kein Ende.

Aber siehe – was war das? ... Noch keine fünf Minuten waren wir durch immer gleiche Straßenzüge gefahren, da las ich auf einem Halbbogen, der ein schmuckloses Haustor schmuddlig umwölbte, den Schicksalsnamen: »Residenztheater«.

Als erstes in der Unendlichkeit der neuen Welt begrüßte mich die Stätte meiner künftigen Triumphe.

Und glücklich im Fieber meines Hoffens fuhr ich weiter. Mein Freund, dem irgendwo ein Unterschlupf winkte, hatte mich verlassen, ich aber fuhr und fuhr und trank mich nicht satt an den immer neu sich aufrollenden Wundern, wie es mir später, viel später in Paris und in London geschah, denn von nirgendher läßt eine Großstadt sich besser kennenlernen und genießen als von dem Thronsitz eines Omnibusverdecks.

Das hat schon Victor Hugo gewußt, als dessen Schüler ich mich hierin bekenne, obwohl ich ihm sonst noch niemals nachgeeifert habe.

Auch mein Weg kam zu einem Ende. Rasch im »Kaiserhof« für eine Mark fünfzig das billigste Zimmer gemietet und dann hinübergeschlafen, selig und traumlos in jenes neue Märchenleben, das auf Blumenpfaden ungesäumt in die Unsterblichkeit hinüberführte.

Um neun Uhr früh, so war verabredet, sollte ich mit dem künftigen Studiosus Neumann zum Zweck der Suche eines gemeinsamen Zimmers im Vorgarten der Universität zusammentreffen. Aber charakterlos, wie ich nun einmal war, hatte ich mir inzwischen klargemacht, daß ich in jenem wildfremden Kamel, mochte es mir über Augier, Dumas und Sardou noch so tiefgründige Dinge zu offenbaren wissen, den ersehnten Gefährten künftiger Tage nicht würde finden können.[226] Darum schlich ich um die angegebene Stunde mit scheuem Umblick und in weitem Bogen um den Ort des Stelldicheins herum und fühlte mich erst wieder sicher, als die Kolonnaden der Nationalgalerie, deren Tempelbau ich als meine eigenste Entdeckung stolz bestaunte, mich mit dem Gefühl begnadeten, peripathetisch in den Säulenhallen der antiken Welt umherzuirren.

Hier konnte kein unerwünschter Stubenknochen die Visionen meiner Phantasie behelligen. Da plötzlich – wer kommt, die Arme schlenkernd, das Kneiferband kamelhaft hinter das rechte Ohr zurückgestrichen, auf den hallenden Fliesen mir entgegen? – Sieht mich, stutzt und versucht, mit kurzer Schwenkung nach links hin zu verschwinden? Und als jeder Fluchtgedanke als unmöglich ausgeschaltet werden mußte, wer eilt in plötzlichem Strahlen und mit der wortläufigen Ausrede, das verfluchte Verschlafen und die Fremdheit des Straßenbildes und die falschgehende Uhr und weiß Gott was sonst noch trage am Verfehlen die Schuld, wer also eilt als glücklicher Finder und glücklich Gefundener traulich auf mich zu?

Unter diesen wenig vertrauenerweckenden Auspizien traten der künftige Studiosus Neumann und meine Wenigkeit in das neue Bündnis ein, das seine Stifter, die Herren Augier, Sardou und Genossen, um eine erhebliche Zeitspanne überdauert hat. Es währt nun schon mein Leben lang, und was Otto Neumann-Hofer darin war und ist, das wissen alle, die es kennen.

Vorerst fanden wir an der Spandauer Brücke, dicht neben dem Stadtbahnhof Börse, wo damals statt der heutigen Kaufpaläste brüchige und rauchschwarze Mietskasernen standen, im vierten Stock eines dumpfigen Armeleutshauses ein niedriges, doch geräumiges Heim, und alsbald saßen wir glückselig stöbernd über den Bücherschätzen, die der seine Zukunft ahnende Buchhändler billig hatte erwerben können und[227] die er, da es an Schränken fehlte, in mächtigen, wachstuchüberdeckten Stapeln an sämtlichen Wänden entlang sorgfältig aufbaute. –

Derweilen versäumte ich nicht, meine akademische Laufbahn in würdiger Weise einzuleiten.

Gestützt auf Empfehlungen, die mir mein verehrter Lehrer Schipper, der später nach Wien berufene Anglist, ins Leben mitgegeben hatte, machte ich den Gewaltigen des neusprachlichen Studiums, den Professoren Tobler und Zupitza, die schuldige Aufwartung und stellte mich ihnen als künftige Stütze ihrer entsprechenden Seminare vor. Sowohl jener, der finstere Pedant, wie dieser, der liebenswürdige Weltfreund, verwiesen mich abwartend auf die erforderlichen Leistungen, über die ich mich erst einmal unterrichten möchte, ehe ich den Anspruch erhöbe, als aktives Mitglied mein Licht leuchten zu lassen.

Um es gleich vorweg zu nehmen: Dieses Licht hat nie geleuchtet. Als ich bescheiden zuhörend den ersten Seminarübungen beiwohnte, erkannte ich auf der Stelle, daß ich die Höhen philologischen Wissens, auf denen Lehrer wie Schüler spielend herumturnten, sobald nicht, vielleicht niemals, erreichen würde. Und entmutigt blieb ich weg, um vorerst einmal von neuem in den Elementarien unterzutauchen, in deren trüben Gründen mir noch immer die Luft gefehlt hatte.

Nicht viel besser erging es mir in der Germanistik.

Ein noch junger Mann, namens Scherer, der mit seiner Stupsnase und mit seinem ewigen Räuspern und Brustbonbonwälzen meinem Onkel Eduard ähnelte, lehrte vor einer gewaltigen Hörerschaft deutsche Literaturgeschichte. Das freilich blitzte und klang und schlug Funken im eigenen Hirne – aber es war so unendlich reich und so unendlich weit, daß es nichts weiter als Herzklopfen gab und das Angstgefühl: »Wie wirst du dich in jener Welt zurechtfinden, die kein Ende hat, während[228] deine fünfhundert Rubel sehr bald zu Ende sein werden?«

Und dann war dieses auch nur Genuß und kein Lernen.

Das Lernen geschah beim alten Müllenhoff, und dort begann wieder das grausame Spiel mit dummen Flexionen und syntaktischen Nichtigkeiten und dem sich türmenden Wust von Belegen.

Die vierzigjährige Wüstenreise, die die Juden durchgemacht hatten, ehe sie das ersehnte Kanaan erschauten, war ein Nachmittagsvergnügen, verglichen mit dieser hoffnungslosen Irrfahrt durch die Einöden der Grammatik, die als Bedingung galt, bevor das gelobte Land der Dichtung seine Paradiese vor mir öffnen konnte.

Wäre als Entgelt und Erholung nicht Eugen Dühring gewesen, ich hätte die Qual nicht länger ertragen.

Dieser blinde, von Leiden ausgemergelte Mann, der von einem halbwüchsigen Sohne zum Katheder geleitet wurde, erschien vor mir als der Homer eines geistigen Heldengedichts, noch ehe er den Mund aufgetan hatte.

Was er lehrte, war Offenbarung, was er verwarf, sank in den tiefsten Abgrund der Hölle. Und im Verwerfen war er Meister. Nicht viele Größen in Vergangenheit und Gegenwart gab es, die vor seinem Urteil Gnade fanden.

Oh, wie habe ich Leibniz verachtet, diesen Scharlatan, diesen Plagiator, diesen Gewohnheitsdieb! Mit ihm verglichen war der Schwindelmatz Hegel beinahe noch ein ehrlicher Mann. Die Reihe der anzuprangernden Autoritätsfexe begann schon mit Anaxagoras, dessen weltordnender Geist, Nous genannt, einer schielenden Kompromißlerei im höchsten Grade verdächtig war, und endete – nun, endete eben mit den heute in Amt und Würden sich sonnenden Philosophieprofessoren.

Ihnen allen die Larve der heuchelnden Gottes- und Staatserhaltungslehre von den schmalzigen Gesichtern zu reißen, war heilige Tugend und jeder Märtyrerkrone wert.[229]

Zu grellstem Hohne, zu wildestem Abscheu steigerte sich der Zorn des vergötterten Lehrers, wenn er auf die beiden Koryphäen unserer Universität, die berühmten Professoren Helmholtz und Dubois-Reymond, zu sprechen kam. Und er kam täglich auf sie zu sprechen. Selbst ihre Frauen schonte er nicht. Was sie verbrochen hatten, weiß ich heute nicht mehr, wahrscheinlich wußte ich es auch damals nicht, aber das war kein Hinderungsgrund, die gewiß sehr verehrungswürdigen Damen ebenso glühend zu hassen wie er.

Es galt ja, die Mächtigen ihrer erborgten Glorie zu entkleiden, ihre knebelnden Machenschaften ans Licht zu ziehen, ihrem depravierenden Einfluß den Boden abzugraben! Welche nach Reinheit und Freiheit dürstende junge Seele durfte kalt bleiben, wenn so Großes auf dem Spiele stand?

Schade, daß ich nicht vier Jahrzehnte später auf die Welt gekommen bin! Jetzt ein Zwanzigjähriger – oh, wie hätte ich mich austoben können! War es in meiner Primanerzeit schon höchstes Ziel meiner Sehnsucht gewesen, auf dem Schafotte zu sterben, so hätte ich noch jüngst unter den Maschinengewehren der Schergen Noskes mein junges Leben in aller Bequemlichkeit aushauchen können, während es dem saturierten Sechziger als einzig nennenswerte Tragik übrigbleibt, von einem überraschten Teppichräuber niedergeknallt zu werden.

Ach, meine Lieben, das Revolutionmachen war damals nicht so leicht, wie die Revolutionäre von des neunten November Gnaden sich vorzustellen gelernt haben! Bismarcks Hausmeiertum stand gerade in der Blüte seiner inneren und äußeren Kraft – und daß man sich gar an den ehrwürdigen Monarchen heranwagen könne, wie es ein Jahr später von seiten zweier Mordbuben geschah, lag jenseits jeder menschlichen Phantasie. –

So mußten also die oben genannten kleineren Götter heran! Und als infolge der dauernden Schmähungen, die Dühring[230] gegen sie losließ, vom akademischen Senate dessen Maßregelung beschlossen wurde, die, wie naturgemäß, in der Entziehung der venia legendi bestand, da kannte der Zorn der stets empörungslustigen Jugend keine Schranken mehr.

Die Sozialdemokratie, die damals auch in der Arbeiterschaft selbst nur eine kleine und einflußreiche Gruppe war, verstand es mit großem Geschick, den Strom in ihr eigenes Bette zu leiten. Und wer von uns bis dahin zum jungen Kaiserreiche geschworen hatte, rieb sich eines Morgens erstaunt die Augen, als er sich erwachend im Sozialistenlager wiederfand.

Es fällt nicht leicht, sich die Gefühls- und Gedankenwege klarzustellen, auf denen wir damals zu dem alleinseligmachenden Ideal des Zukunftsstaates gelangten. Viel wußten wir nicht davon, und auch was Dühring selber in seinem »System der Nationalökonomie« darüber gesagt hatte, konnte uns nicht in entscheidendem Maße belehren. Marxens Schriften lagen außerhalb unserer Sehweite, und Bebels »Frau« war noch nicht erschienen. Als eigentliche Einführung diente uns Schäffles Büchelchen: »Die Quintessenz des Sozialismus«, aus dem wir, wiewohl es gegnerisch gerichtet war, mit Inbrunst den Gedankensaft der neuen Lehre sogen.

Daß wir es mit Utopien zu tun hatten, die sich, wenn überhaupt jemals, doch nur in Jahrhunderten oder Jahrtausenden in Wirklichkeit umsetzen lassen könnten, darüber hegten wir keinen Zweifel. Aber wann hat ein Zwanzigjähriger die Eintagsfrist, die ihm auf Erden gegeben ist, nicht mit Jahrtausenden verwechselt? Wann hat er sich nicht als Bürger künftiger Welten gefühlt? Und den Jüngling möchte ich kennenlernen, der, als zehn Jahre später Nietzsches Gedanken in ihm wiedergeboren wurden, sich selber nicht für eine zeitliche Vorwegnahme des Übermenschentums gehalten hat!

Aber wie gerne wir uns auch mit unserer Sehnsucht in jene fernen Paradiese tragen ließen, ein flaues Gefühl von Blödsinn und Windmacherei blieb immer in uns zurück. Und[231] wäre nicht das politische Freiheitsverlangen gewesen, das die Sozialdemokratie wohlbedacht vor ihren Karren spannte, sie hätte auch in den Kreisen der wirtschaftlich Interessierten keine so raschen Fortschritte zu verzeichnen gehabt.

Über eines täusche man sich nicht: Die bürgerliche Demokratie, mochte sie sich zeitweise noch so ungebärdig benehmen, ist niemals die legitime Erbin des Revolutionsgedankens gewesen, der im Jahre 48 den Staat zeitgemäß ausbauen und ein Deutschland schaffen wollte, das friedlich und machtvoll einen dauernden Platz im Rate der Völker eingenommen hätte, anstatt daß es heute ohnmächtig hingestreckt verhungernd in seine Ketten beißt.

Die Hohenzollernpolitik, rückwärts gerichtet und ohne Ahnung von den geheimen Triebkräften der Volksseele, glaubte den Gedanken des Achtundvierzigertums durch ihre Reichsgründung für immer erstickt zu haben, während er in der Sozialdemokratie lustig weiterlebte und sogar so weit erstarkte, um den wirtschaftlichen Radikalismus, an dessen Verwertungsmöglichkeiten nicht viele glaubten, auf seine Schultern zu heben.

Dieses nie ganz erstorbene Achtundvierzigertum muß es gewesen sein, das auch mich in den Jahren des Reifens mit einer schwelenden Wut erfüllte, die bei jedem Anlaß – auch dem widersinnigsten – lodernd hervorbrach und später, als ich in die Dienste einer Mittelpartei gekommen war, den Selbstvorwurf des Renegatentums so lange in mir lebendig hielt, bis ich mich von meinen Auftraggebern wieder getrennt hatte.

So schloß ich mich auch damals blindlings der Bewegung an, die den Sozialisten Dühring an seinen Verfolgern zu rächen gedachte.

Wie? Das war uns unklar. Wohl machte einer den Vorschlag, Helmholtz das Haus anzuzünden, ein anderer, Dubois-Reymond mit Armgewalt aus dem Saal zu schleifen – aber niemand, auch die Antragsteller kaum selber, nahm dergleichen[232] Scherze ernst. Das Höchste, wozu wir uns beinahe aufgeschwungen hätten, war eine zweifache Katzenmusik. Zur Ausführung kam sie wohl deshalb nicht, weil einer solchen Jämmmerlichkeit ein jeder sich schämte.

Einer Riesenversammlung erinnere ich mich, die im großen Saale des Handwerkervereins abgehalten wurde und in der Orkane der Entrüstung durch unsere Seelen fegten. Wie der Zufall uns jungen Leute zusammengeführt hatte, so blieben wir aneinander kleben, schwuren Rütlieide und marschierten, nachdem der Zauber zu Ende war, in Scharen zusammengeballt, durch die fiebrige Sommernacht.

Wo ein Gasthaus noch offen war, da brachen wir ein, vertrieben die übriggebliebenen Gäste und hielten blutrünstige Reden, bis man uns an die Luft setzte.

Aber morgen, morgen war auch noch ein Tag! Morgen wollten wir uns weiter entrüsten. Das Stelldichein wurde bestimmt, ein jeder versprach, der guten Sache neue Freunde zu werben, und so mußte die Bewegung anschwellen, lawinengleich, bis sie Staat und Gesellschaft zertrümmert hatte.

Unter den wildesten Rednern fiel mir einer auf, der mit einer gewissen grausamen Kühle, höhnisch und geschmeidig die Seelen widerstandslos mit sich riß. – Ein eleganter, junger Mann mit Schmissen auf ausgeblaßten Wangen und einer Artistenfrisur. Er flößte mir, der ich im Reden noch ungelenk war, eine scheue Bewunderung ein, und als er sich herabließ, sich mir wie einem Näherstehenden zuzuwenden, fühlte ich mich geehrt und beseligt.

»Wir beide wollen die Führerschaft übernehmen«, sagte er beim endlichen Heimweg, den Arm vertraulich unter den meinen schiebend. »Die anderen schnüffeln ja doch bloß ins Leere und verkrümeln sich, wenn man sie nicht an der Strippe hält. Wir alten Korpsstudenten sind von der Vorsehung dazu ausersehen, dieser ruppigen Finkenschaft den nötigen Appell beizubringen.«[233]

Die Gleichstellung, die er mir zuerkannte, hob mein Selbstbewußtsein gewaltig, nur, daß er mich für einen Korpsstudenten hielt und nicht sofort nach Nam' und Art befragte, wollte mich wundernehmen.

In einem vornehmen Restaurant am Dönhoffsplatz, wo man für eine Mark fünfzig vier Gänge und zum Nachtisch Backpflaumen und Käse à discrétion geliefert bekam, beschlossen wir, uns am nächsten Mittag wieder zu treffen, denn der Schlachtenplan wollte entworfen sein.

Als ich zur festgesetzten Stunde schwer verkatert ihm gegenüber saß, war in seinem Hirne schon alles gestaltet. In der abendlichen Zusammenkunft wollte er mich als Vorsitzenden in Vorschlag bringen, während ich meinerseits die Aufgabe hatte, ihm den Platz an meiner Seite zu verschaffen.

»Da diese armen Teufel ja doch nichts haben«, fuhr er fort, »müssen wir die nötigen Organisationsgelder vorläufig aus eigener Tasche bestreiten.

Aber ich habe gute Beziehungen zu den Führern der Sozialdemokratie und weiß, daß uns aus der Parteikasse alles vollauf zurückerstattet werden wird. Ja, im Vertrauen gesagt, wir werden noch über ganz andere Summen verfügen dürfen, wenn wir nur erst eine ansehnliche Zahl von Anhängern aufweisen können.«

»Wieviel wird nötig sein?« fragte ich etwas beklommen, denn meine übriggebliebenen fünfhundert Rubel waren schon arg zusammengeschmolzen.

»Nun – wenn jeder den kleinen Beitrag von dreihundert Mark hergibt«, sagte er herablassend, »wird es fürs erste genügen.«

Ich atmete erleichtert auf, denn so viel und einiges mehr war noch in meinem Besitze.

Und als diese Angelegenheit spielend erledigt war, legte er mir den Entwurf eines Aufrufs vor, der abends unter den Kommilitonen verbreitet werden sollte.[234]

Ich las ihn durch und sagte mit Offenheit, daß ich ihn etwas nüchtern fände.

»Sie als Vorsitzender haben natürlich den Wortlaut zu bestimmen«, erwiderte er. Der Kellner lieferte uns einen Bleistift, und ich, rasch entflammt, redigierte das Schriftstück um, bis es auch seinerseits Flammen sprühte.

Man ist ein Dichter, oder man ist es nicht. Und ich, Gott sei Dank, war einer.

»Das muß heute noch in die Zeitungen«, rief mein Mitverschworener, sich zu einer gewissen müden Begeisterung aufraffend. »Nein, mehr noch, das muß morgen früh an den Litfaßsäulen stehen. Und ganz Berlin wird sich hinreißen lassen.«

Das Herz schlug mir vor Seligkeit. Volksführer sein, die Seele der Weltstadt in den Händen halten – was auf der Welt konnte es Größeres geben?

»Ich werde das Manifest sofort einer Druckerei überbringen«, fuhr er fort. »Ich werde dann« – er stockte, in Gedanken erstarrend. »Nein, nein, das wird nicht gehen, denn man kennt uns ja nicht. Oder aber – wir müßten gleich die entsprechenden Vorschüsse zahlen.«

»Das könnten wir ja«, rief ich zitternd vor Eifer.

Geld spielte in einem so weltgeschichtlichen Augenblick gar keine Rolle.

»Gut«, sagte er. »Ich nehme an, daß man mit der genannten Summe zufrieden sein wird. Ich werde sofort die nötigen Erkundigungen einziehen und dann bei Ihnen vorsprechen, um Ihren Beitrag in Empfang zu nehmen.«

»Kommen Sie lieber gleich mit«, sagte ich, »damit wir ja keine Zeit verlieren.«

»Da haben Sie recht«, sagte er. »Man sieht doch gleich, daß Sie die nötigen Führerqualitäten besitzen.«

Wir riefen uns also eine Droschke – Geld spielte, wie schon gesagt, keine Rolle – fuhren nach der Spandauer Brücke, und[235] während er unten wartete, raffte ich mit bebenden Händen die Goldstücke zusammen, die dem großen Werke zu dienen hatten.

Und als er sie flüchtig zählend in Empfang genommen hatte, fuhr er sofort nach der Nauck-und-Hartmannschen Druckerei von hinnen.

Mit brennenden Backen legte ich mir die Rede zurecht, die ich des Abends zu halten gedachte.

Neumann lag auf seinem Bette und las in Georg Brandes' »Strömungen«, einem neuen, epochemachenden Werke, das ein genialer junger Däne soeben in die Welt hinausgeworfen hatte.

»Was quasselst du da immer?« fragte er.

Er war gestern nicht in der Versammlung gewesen und hatte deshalb keine Ahnung von dem, was sich unheilschwanger vorbereitete.

Er durfte auch erst davon erfahren, wenn das Schwert, das ich geschmiedet hatte, sausend den Nebel des Autoritätsglaubens durchhieb.

Darum rannte ich nach dem nahen Monbijougarten, wo die Kindermädchen keine Rechenschaft verlangten.

Der Abend kam.

Klopfenden Herzens betrat ich das Gasthaus, in dem uns ein Saal reserviert bleiben sollte.

Wo die Versammlung stattfinde.

»Welche Versammlung?« fragte der Kellner zurück.

»Nun, die diese Nacht angesagt worden ist.«

»Ja, ja, so! Ich besinn mich. Es ist aber keiner gekommen.«

»Das ist unmöglich.«

»Na, sehen Sie doch selber.«

Und er öffnete die Tür zum Saale, an dessen Schmalwand Fetzen von Theaterkulissen sich im Halbdunkel verloren. Um Tische und Bänke hallende Leere.[236]

»Aber der Herr, der den Saal selber bestellt hat?«

»Suchen Sie in den Gastzimmern. Vielleicht sitzt er da.«

Ich suchte in den Gastzimmern, ich wartete mehrere Stunden, doch er kam nicht.

Und ich habe ihn niemals wiedergesehen. –


Von dem Schicksal meines Dramas war inzwischen nicht das mindeste zu hören gewesen. Wieviel Apfelkuchen ich auch geopfert hatte – die Ankündigung, die sehnlich erwartete, wollte sich noch immer nicht einstellen.

Und da die Theatersaison sich dem Ende zuneigte, beschloß ich einen Gewaltstreich. Ich zog meinen Gehrock an, den mir der Dorfschneider Paetzel, den Modeblättern entsprechend, für feierliche Gelegenheiten angefertigt hatte, und begab mich, auf diese Weise würdig ausgerüstet, in die Blumenstraße, in der nach Angabe des Adreßbuches Herr Direktor Emil Claar, nicht fern vom Residenztheater, seine Privatwohnung hatte.

Ich wurde angemeldet und betrat ein Wohngemach, das in der Farbenpracht orientalischer Vorhänge glühte.

Ein mittelgroßer Herr mit rotblonder Tolle und weitgeöffnetem Stehkragen trat mir in liebenswürdiger Geschäftigkeit entgegen.

»Womit kann ich Ihnen dienen, Herr ...?«

»Mein Name ist Hermann Sudermann«, antwortete ich mit bescheidenem Nachdruck.

Aber die erwartete Wirkung blieb aus.

»Ja, und ...?«

»Ich habe Ihnen vor einigen Monaten das Manuskript eines Schauspiels übersandt, über dessen Aufnahme ich noch keine Nachricht erhalten habe.«

»So – so ... So – so! Nun, das kann ja wohl vorkommen. Aber das Versäumte wird sofort nachgeholt werden. Darf ich mir Ihre Adresse ausbitten?«[237]

Ich wiederholte meinen Namen und fügte die Adresse hinzu, die er sich schriftlich merkte.

»Sie werden umgehend Bescheid bekommen und – und – jawohl.«

So war ich entlassen.

Mit beruhigtem Selbstgefühl begab ich mich in meine Stadtgegend zurück.

Nun war alles klar. Infolge irgendeines Versehens war mein Manuskript bisher unbeachtet geblieben. Aber jetzt würde man es aus seinem Versteck hervorziehen, würde lesen, würde staunen und mir die Nachricht der Annahme ohne Verzögerung zugehen lassen. Schon am nächsten Morgen konnte ich das Zeugnis meines Glückes in Händen halten.

Aber die Tage, die Wochen vergingen, ohne daß ein Brief mit dem Stempel des Residenztheaters sich bei mir eingefunden hätte.

Da zog ich zum anderen Male meinen Gehrock an und schlug den bekannten Weg zur Blumenstraße ein.

Mit der gleichen eilfertigen Liebenswürdigkeit trat der Direktor mir entgegen.

»Womit kann ich dienen?«

»Ich habe mir vor einiger Zeit erlaubt, bei Ihnen vorzusprechen, Herr Direktor, um mich nach dem Schicksal eines Manuskriptes zu erkundigen, das ich eingesandt hatte.«

»Jawohl, ich besinne mich ... Richtig, ja! ... Und Sie haben es nicht erhalten? ... Das ist eine unbegreifliche Nachlässigkeit meines Büros, die sofort gutgemacht werden soll. Die Eingänge werden dort stets auf das sorgfältigste geprüft. Was wir irgend gebrauchen können, das behalten wir. Jedenfalls entschuldigen Sie gütigst.«

»O bitte«, entgegnete ich mit Würde. »Ich darf nun also bestimmt auf baldigen Bescheid rechnen?«

»Ich gebe Ihnen mein Wort darauf, Herr Silbermann.«

Mit bezaubernder Herzlichkeit drückte er mir die Hand, er[238] geleitete mich sogar in den Hausflur hinaus und schloß selber die Tür so höflich hinter mir, daß ich mich berechtigt fühlte, neue Hoffnungen zu schöpfen.

Am nächsten Tag lag ein Paket mit der Aufschrift des Residenztheaters auf meinem Tische.

Mein Manuskript befand sich darin, aber dessen Form hatte sich in merkwürdiger Weise verengt und verschmälert.

Der Direktor hatte sein Versprechen wahr gemacht.

»Was wir irgend gebrauchen können, das behalten wir«, so hatte er gesagt.

Die schönen, breiten, weißen Ränder waren abgeschnitten. Das übrige stand wieder zu meiner Verfügung.


Fürs erste glaubte ich, diesem Zusammenbruch meiner Hoffnungen mit Gleichmut begegnen zu dürfen, erst allmählich sah ich ein, daß auch die Fortsetzung meiner Studien mit ihnen zugrunde ging.

Der Schatz russischen Ursprungs ging zur Neige, und ich war dem von der Notwendigkeit gesteckten Ziele ferner denn je.

Seitdem ich eingesehen hatte, daß die Methoden des sprachwissenschaftlichen Unterrichts mich immer stumpfsinniger machten, war ich vollkommen ins Bummeln geraten – und zwar auf eine Weise, die jeder Selbstdisziplin und jeder Rechtfertigung durch das soziale Gewissen, die bei den Litauern immer noch mitsprachen, ins Gesicht schlug.

Neumann hatte einen Freund mit Namen Bodky, der uns im Skat als dritter Mann unentbehrlich geworden war. Darum nahmen wir ihn, wenn wir nach durchsumpfter Nacht heimkehrten, der Bequemlichkeit halber gleich auf die Bude mit, machten ihm auf dem Sofa ein Lager zurecht und hatten ihn infolgedessen sofort zur Hand, wenn wir nach dem Erwachen unsere Skatpartie fortsetzen wollten.

Auf diese Weise kommt man nicht vorwärts, auch wenn man[239] nachmittags, allein gelassen, seine Widerstandslosigkeit gegenüber der Unmasse vampirhafter Eindrücke durch die Niederschrift weltschmerzlich revolutionärer Gedichte zu rechtfertigen sucht.

Man war dämonisch. Ohne Zweifel. Aber ein Dämon ohne Geld – bloß biertrinkend, bloß skatspielend – konnte sich nicht sehr ernsthaft nehmen.

Und dann die Brustschmerzen. Auch hatte sich schon mehrfach Blut im Taschentuch gefunden. Man war also dem Tode geweiht.

Vielleicht hatte Angela bis jetzt gewartet, um mich nachzuziehen – vielleicht rächten sich bereits die durchbummelten Nächte. Wer konnte es wissen?

Ein Glück, daß die Liebe mich leidlich in Ruhe gelassen hatte! Gegen das Dirnentum, das sumpfblumenhaft an allen Wegen wuchs, war ich gefeit, und auch sonstige Erlebnisse weltstadthafter Natur hatten nicht viel Einfluß auf mich gewonnen.

Die heißäugige Schusterstochter von nebenan, die sich gar zu gerne in unsere Bude hineinziehen ließ, war von ihrem Vater durchgeprügelt worden und kam dann nicht mehr. – Die hochschlanke Kindergärtnerin am Monbijouplatz war höchstens als Objekt wunschloser Lyrik zu verwerten.

Nur die reife Hausdame von drüben, die, wenn sie sich nicht gerade vor dem Stehspiegel puderte, mit dem Feldstecher hinter der Gardine saß, konnte allenfalls dämonisch verwertet werden. Sie zeigte sich den Reizen der Gebärdensprache durchaus nicht abgeneigt, war auch bereits zweimal in einer Konditorei der Rosentaler Straße mit mir zusammengetroffen, der Orkan entfesselter Leidenschaft konnte demnach seinen verheerenden Weg nehmen. Da geschah es, daß ich eines Nachmittags, mitten im Dichten, durch ein mißtöniges Papageiengeschrei zum Hinausschauen genötigt wurde. Auf dem Fensterbrett meiner Angebeteten stand ein vergoldeter[240] Käfig, und der Vogel darin schmetterte, den Lärm der Straße übertönend, das zarte Geständnis: »Ich liebee mein Wisawi«, trompetenhaft in die Welt hinaus.

Dunkel erinnerte ich mich, diesen Ruf, freilich ohne darauf zu achten, schon früher bisweilen vernommen zu haben, und wurde mir allgemach klar, daß Papchen als gefälliger Vermittler eine Dauerstellung einnahm, die schon vielen meiner Vorgänger zugute gekommen sein mochte. Da fühlte ich mich abgekühlt und wich den Bezauberungen aus, die dann drüben allgemach einschliefen.

Nur Papchen schrie sein Geständnis unentwegt in die Welt hinaus.


Eines Tages zählte ich meine Barschaft und fand, daß sie beinahe erschöpft war. Die Summe, die ich der deutschen Freiheit geopfert hatte, wäre imstande gewesen, mich noch ein Vierteljahr länger über Wasser zu halten. Jetzt sah ich vor mir nichts als das Nichts.

Aber fern, fern an der russischen Grenze in Deutschlands gottvergessenem Winkel wartete meiner noch immer die Heimat. Wie unwillig mein Vater auch meiner Lebenslaufbahn gegenüberstand, den Unterschlupf im Elternhause hatte er mir noch nie verweigert.

Wenn ich den Rest meines Eigentums anwandte, um mir die Lehrbücher anzuschaffen, die von meinen neusprachlichen Professoren zu jeder Stunde mit hohem Respekt genannt worden waren, dann mußte es mir ein Leichtes sein, durch Selbststudium nachzuholen, was während des Kollegs um keinen Preis in meinen Kopf zu trichtern war.

Ein Wintersemester, in unerschlaffter Arbeit über ihnen zugebracht, mußte mich selbst über die ausschweifendsten Forderungen des Seminars triumphieren lassen.

Und dann besann ich mich, daß ich ja eigentlich brustkrank war. – Um so besser. – Dann würde man mich in der Heimaterde[241] betten, Muttertränen würden mein Grab betauen, und vielleicht kam zur Dämmerzeit bisweilen ein Mägdlein – ich wußte nur nicht recht welches, denn seit Ottilie Settegast die Erkorene meines annoch unberührten Herzens gewesen war, hatte ich immer auswärts geliebt.

Aber vielleicht blieb mir doch das Leben geschenkt. Und für diesen Fall kaufte ich mir, nach Rücklegung des nötigen Reisegeldes, in der Buchhandlung von Mayer und Müller die hochgelehrten Werke – sie prangen noch heut in meinem Blankenseer Bücherschrank –, in denen die Geschichte der altfranzösischen Dialekte und des Überganges vom Angelsächsischen zum Altenglischen zauberkräftig geschrieben steht.

Mit ihrem Besitz war meine Zukunft gesichert, selbst wenn meine dichterische Sendung fürs erste in den Wolken hängen blieb.

An einem heißdunstigen Augustmorgen saß ich wieder auf dem Omnibus, der mich im Frühling meinem Glück entgegengetragen hatte.

Eines konnte ich mir nicht verhehlen: Die Eroberung Berlins war fürs erste mißglückt. –

Quelle:
Sudermann, Hermann: Das Bilderbuch meiner Jugend. München, Wien 1981, S. 221-242.
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