Neunzehntes Kapitel

Gang durch die Dämmerung

[341] Der Sommer, der diesem aufwühlenden Begebnis auf dem Fuße folgte, sah mich einsam und meiner Seelenstille hingegeben in dem Arbeitswinkel der Auguststraße, in dem nichts verändert war, seit ich vor zwei Jahren zum ersten Male davon Besitz ergriffen hatte.

Aber der dort saß, mit halber Hoffnung und halber Anteilnahme büffelnd und jede freie Stunde aussparend, um sie zum Weiterschreiben der begonnenen Novelle zu verwenden, war ein anderer als der straffe Junge, der damals, voll aufgespeicherter Kräfte und zum Härtesten bereit, den Kampf mit äußerer Not und innerem Unvermögen entschlossen aufgenommen hatte.

Er war müde geworden – müde des ewigen Wechselspiels zwischen pflichtgemäßem Studium und verbrecherischer Dichterei. Müde der Aussichtslosigkeit, die an dem einen hing wie an der anderen, und müde vor allem des Bewußtseins, daß das Leben stillestand, während jede Fiber nach Handeln und Vorwärtskommen schrie.

Daß ich das Haus des reichen Mannes verlassen hatte, war mir nicht einen Augenblick leid geworden. Und auch die neue Armut drückte mich nicht. Was aber würde werden, wenn die Ersparnisse zu Ende gingen, die trotz äußerster Genügsamkeit in erschreckender Weise zusammenschmolzen?

Mit Anspannung aller Energie kämpfte ich die Sorge nieder, die in Erinnerung an jene Hungerzeit mich ganz zu lähmen drohte, und vertiefte mich in die abstrakten Gedankengänge, die vom Katheder her quer durch mein Hirn ins Leere führten.[342]

Paulsen war inzwischen mein Führer, mein Abgott geworden, und Kants Lehre der Inbegriff alles Gedachten und je zu Denkenden.

Wie ein großer Roman mit architektonisch strengem Aufbau, mit Steigerungen, Peripetien, Katastrophen und ahnenden Fernsichten baute sich sein System beglückend vor mir auf. Und daß ich auch die Brüche darin nicht übersah, dafür hatte Paulsen wohl gesorgt, dem jede unbedingte Heeresfolge fernlag. Daneben war es Hobbes, der mich im Banne hielt. Seine achselzuckende Verneinung, die schließlich Bejahung des Machtgedankens war, half mir, der liberalen Spießbürgerei gegenüber auf einen sicheren Platz zu kommen. Und wie sehr ich Bismarck als Verderber des deutschen Bürgerstolzes auch haßte – unter der Wucht seiner Erscheinung brach ich ja doch in die Knie.

So spinnefeind fühlte ich mich der Entwicklung, die der deutsche Geist gegen Ende der siebziger Jahre genommen hatte, daß ich einmal in den Seminarübungen, die Paulsen abhielt, die Äußerung in den Hörsaal hineinschleuderte: dem deutschen Volke täte nichts so not wie ein neues Jena. Und nie werde ich das halb bestürzte, halb belustigte Gesicht vergessen, mit dem unser verehrter Lehrer diesen Ausbruch unverschämten Ingrimms zurückwies.

Jetzt haben wir ja Gott sei Dank das neue Jena, und ich kann tagtäglich die Probe aufs Exempel machen, wenn mit der Morgenzeitung neues Elend und neue Schmach sich über uns ergießt.


Als das Semester zu Ende ging, faßte ich den Entschluß, die Heimat wieder aufzusuchen. Seit zweieinhalb Jahren war ich nicht dort gewesen. Wenn ich ein paar Monate lang im Frieden des elterlichen Hauses Ausruh fand, durfte ich hoffen, den Stürmen der Not, die unweigerlich wieder über mich hereinbrechen mußten, besser gewachsen zu sein.[343]

Aber diesmal legte ich mir vorsichtigerweise das Geld zur Rückfahrt bereit und gab mir ein heiliges Ehrenwort, es nicht zu berühren. Jener furchtbare Winter durfte sich nicht wiederholen.

An einem rosigen Spätsommernachmittag trat ich unangemeldet im Heimathause ein.

Meine Mutter maß verwundert den fremden, langbärtigen Herrn, der sie begrüßte, und stürzte sich dann aufweinend an meine Brust. Und auch über das harte und zersorgte Gesicht meines Vaters breitete sich ein Freudenschimmer, der mich sehr glücklich machte. Bruder und Kusine kamen strahlend vor Staunen dazu, und ich saß da wie im Traume.

Zweieinhalb Jahre! Was für Jahre! Ganze Welten lagen zwischen dem ahnungslosen Studentlein, das damals ausgezogen war, mit seiner Unreife wie mit einem goldpappenen Panzer angetan, und dem müden und wunden Gesellen, der heute wiederkam. Müde seiner Eitelkeit und seines Blendertums, wund an gescheitertem Ehrgeiz, an gescheiterter Jugend.

Ich fühlte wohl: meine Studienzeit war zu Ende. Und ich hatte nichts erreicht. Rein gar nichts. Nicht einmal den lumpigen Doktortitel hatte ich mir zu eigen gemacht.

Das war das Ergebnis von fünf langen, mit Hoffnungen und Hochflügen angefüllten Jahren, an Dummheiten überreich, doch auch nicht arm an ehrlichem Fleiß und vollgültigem Streben.

Gutes und Schlechtes zeugten in gleicher Weise gegen mich. »Gewogen und zu leicht erfunden«, so lautete das Urteil, das ich mir fällen mußte.

Und doch, so sagte mir ein tröstendes Gefühl, hast du die Zeit nicht ganz verdorben. Ich brauchte mich nur an denen zu messen, die ungefähr im gleichen Alter standen, Referendaren und Kandidaten, die mein Heimatsort gerade beherbergte. Wie eng und klein waren sie geblieben, wie ungeschickt im Wortkampf und wie versagend bei jeder Probe allgemeinen[344] Wissens! Ihre Interessen drehten sich immer noch um die Bierbank, und wenn ihr Humor sich lüftete, kam irgendein Spaß zum Vorschein, den ich seit Jahren zum alten Eisen geworfen glaubte.

Nein, nein, ich war gewachsen, und zum Verzweifeln gab es keinen Grund.

Aber die Müdigkeit war da und ließ sich nicht mehr aus der Seele schaffen.

Ängstlich blieb ich darauf bedacht, meine Armut zu verheimlichen. Selbst meine Mutter sollte nichts davon ahnen. Aber einmal hatte sie meinen Geldbeutel revidiert, und als ich ihn wieder vornahm, sah ich ein Zwanzigmarkstück darin, das sich stillschweigends hinzugefunden hatte.

Den Fremden schwindelte ich vor, daß ich von meinen literarischen Arbeiten lebe, die mir höchst anständig bezahlt würden. Dem Gasthaus wich ich aus, soviel ich konnte, und auch in die Häuser, die sich mir einst freundlich geöffnet hatten, ging ich nicht mehr. Kaum, daß ich es über mich gewann, den Frauen und Töchtern der Honoratioren, die mich auf der Straße begrüßten, höflich standzuhalten. Die Blicke, die mich voll Verwunderung und, wie mir schien, auch Argwohn schon von weitem musterten, waren mir Grund genug, die Wege zu meiden, auf denen man sich zu begegnen pflegte. Lieber schlich ich mich querfeldein in die Wälder, wo ich viele Stunden des Tages verträumte.

Und diese Scheu, meinen Heimatsgenossen zu begegnen, ist mir jahrzehntelang geblieben, selbst dann noch, als mein Ruf rechtfertigend vor mir herschritt.

Aber einen Freund und Schützer gewann ich mir, dessen teilnehmende Güte mir für alle Zeit von unermeßlichem Werte blieb. Das war jener gewaltige Mann, der mich einst aus den Banden des Apothekertums befreit hatte, Doktor Kittel aus Ruß, der auch damals oft herüberkam, weil er wieder einmal die Physikatsgeschäfte verwaltete.[345]

Ihm verdanke ich ein Erlebnis, das mich bis in das Mark meines Wesens hinein erschütterte und weitergewirkt hat, bewußt und unbewußt, ich glaube fast bis heute.


An einem heißen Sonnenmorgen hielt des Doktors Wagen vor meiner Tür, und der Wotansbart, den jeder kannte auf Meilen in die Runde, wehte rotstrahlig über den weißen Staubmantel hin.

Ob ich zu einer gerichtlichen Sektion mitkommen wolle, rief er zu mir hernieder. Ich, begierig nach jeder Erweiterung meiner Anschauungswelt, sagte mit Freuden ja. Und so fuhren wir zwischen kahlliegenden Äckern durch niedrige Dörfer und ragende Wälder einige Meilen weit, bis wir ein vereinzeltes Gehöft erreichten, das sich durch nichts von den Bauernwirtschaften unterschied, die, auf Heide und Moor verstreut, die tote Fläche belebten.

Ein windschiefes Wohnhaus, strohgedeckt, unter der zerblätternden Kalkschicht voll lehmfarbener Flecken – ein grauhölzerner Stall – eine Fachwerkscheune – Garten – Misthaufen – Schweine und Hühner.

Vor der brüchigen Haustür lagen als Zeichen der Festlichkeit Tannengeästel und Kalmusschnitte, und durch die geöffneten Fenster drang plärrend Choralgesang.

Als unsere zwei Wagen – die Untersuchungskommission, aus Richter, Protokollführer und einem mir unbekannten jungen Arzt bestehend, hatte sich schweigend uns angeschlossen – auf dem Hofe vorfuhren, verstummte er plötzlich, und ein schwarzes Häuflein von bestürzten und entsetzten Menschen erschien vor der Tür. Aus ihm löste sich eine ältliche Frau in schwarzem Kopftuch, das eine rotgeweinte Nase und zwei unsicher funkelnde Augen umrahmte, und kam schreiend und händeringend auf uns zu.

Was wir hier zu tun hätten? Warum wir ein ehrliches Begräbnis stören kämen, das in einer Stunde beendet sein müsse, da[346] der Herr Lehrer dann keine Zeit mehr habe? Und ob wir etwa glaubten, es sei nicht bloß ein Unglück geschehen? Die Tochter sei wegen der Finsternis in den tiefen Graben geraten und habe nicht mehr herausgekonnt. Das habe sie selber auch schon dem Gendarm gesagt, und der könn' es bezeugen.

Dieser Gendarm war mit einemmal auch da. Aber er bezeugte nichts, sondern schob die Verzweifelte unwirsch beiseite und verlangte den Sarg, der alsbald, von vier Männern getragen, im schwarzen Türloch erschien.

Darin lag, von der Vormittagssonne grell umlichtet, ein Jungmädchengebilde, wie aus Stein, wie aus Wachs geformt, gleichsam plattgedrückt, als wäre es nicht vollkörperlich mehr, sondern nur ein Flachrelief seiner selbst.

»Zur Scheune!« befahl der Gendarm.

Ein Mann, der mir aufgefallen war, weil er bisher in scheinbarer Ratlosigkeit, von dem Häuflein der Trauergäste halb versteckt, an der Hausmauer und am Gartenzaun entlanggetanzt war, sprang jetzt rasch vor und riß, dienstfertig voraneilend, das Scheunentor auf.

»Der Stiefvater!« sagte der Gendarm erklärend zu uns.

»Hat sich vor vier Wochen hier 'reingeheiratet.«

Unser aller Blicke lagen auf ihm. Ein ansehnlicher Bursch, nicht älter als dreißig, mit schöngewölbtem Schnurrbart, wie man ihn in Potsdam bei der Garde wohl drehen lernte.

Einer der Torflügel wurde aus den Angeln gehakt und in der lichtdurchfluteten Tenne über zwei Tonnen gelegt. Der Sarg stand daneben.

»Alle weg von hier!« befahl der Gendarm der Trauergesellschaft, die sich hinter dem Sarge her in die Scheune drängte. Sie staute zurück und stand dann wie eine Mauer. Erst der Dazwischenkunft des jungen Lehrers bedurfte es, der wie gebräuchlich der Ersparnis halber des Geistlichen Amt versah, um sie ins Haus zurückzubringen, wo sie sich fortan mit dem Singsang geistlicher Lieder die Zeit vertrieb.[347]

Auch die Mutter mußte aus der Nähe des Sarges verschwinden, und der Stiefvater tanzte jenseits des Hofraums wieder an Hauswand und Garten entlang.

Der Doktor gab einen Wink. Die Linnendecke flog zurück, und von vier kundigen Armen getragen hob sich der weißumkleidete Körper zur Fläche des liegenden Tors empor.

»Hemd fort!« befahl der Doktor.

Ich erschrak. Die Blicke so vieler Männer – auch mein Blick – sollten den Leib entweihen, der sich nun nicht mehr wehren konnte. Im Innersten hatte ich noch immer geglaubt, auch wir würden, bevor die Sektion begann, durch einen Wink des Doktors beiseitegeschoben werden.

Aber nichts dergleichen geschah. Das Hemd, hochgestreift, flog über den Kopf weg. Der Leib sank zurück, und nun lag er in seiner jungen Schönheit hüllenlos – gezwungen, sein keusches Geheimnis dem Sonnenlicht und all den Fremden preiszugeben.

Von einer unwillkürlichen Andacht gepackt, ließ ich meine Hände sich falten.

Wie anders lag dies Bildnis vor mir da als sonst ein Frauenkörper, wenn die Leidenschaft des Augenblicks ihn umtastet hatte. Wieviel reiner, wieviel hoheitsvoller! Und wieviel natürlicher zugleich! Wie himmelweit enthoben irdischem Wünschen und Begehren!

Das war ein Menschenkind wie jedes andere, leidend wie jedes andere – nur, daß es ausgelitten hatte.

Das Köpfchen hatte sich im Niedergleiten leise auf die Seite geneigt; nun lag es fast auf der linken Schulter, und eine Flechte von stumpfen Braun drängte sich schattengebend dazwischen.

Das Gesicht war nicht schön – und doch schön in seiner ergebenen Ruhe mit den fast geschlossenen Lidern, unter denen ein verlorener Glanz perlmutterhaft hervorquoll. Mit der schmalkantigen Nase, deren edle Linie vielleicht erst der Tod[348] zu formen verstanden hatte, mit den blauschillernden Lippen, in deren Gekräusel eine Frage, ein Wunsch noch verfangen schien.

Der Doktor zog ein paar Messer aus ihrer Hülle und legte sie neben sich.

Das Herz wollte mir stillstehen.

Ein Schnitt, geräuschlos, wie gar nicht geschehen, wie ein Gleiten, ein Streicheln nur, und das Marmorbild war zerstört – ein blutroter Schlund klaffte mitten hindurch.

Zugleich breitete sich, schwerlastend wie eine Decke von Pest, ein grausig würgender, fressender, kraft- und gedankenauslaugender Gestank rings um uns aus.

»Wer rauchen will, kann rauchen«, sagte der Untersuchungsrichter, »aber mit Vorsicht, wenn ich bitten darf.« Und er wies auf das Fachwerk rechts und links, das ganz mit Garben gefüllt war.

Ich rauchte nicht. Ich wollte die Qual des Ekels als Opferung darbieten vor dem Altar dieser Stunde, die mir so Schwerwiegendes und nie Geahntes schenkte.

Der Doktor arbeitete, und der junge Arzt assistierte. Dabei sprach er in kurzen, abgerissenen Sätzen, und der Protokollführer schrieb nach. Ein Stück des Innern nach dem anderen wurde beschaut, untersucht und beiseite gelegt, und der Gestank wuchs immer noch.

Da lag der Magen – aufgeschnitten und seines Inhalts entleert.

»Brandige Flecken – Anzeichen von Arsenikvergiftung«, sagte der Doktor. Und dann, während eine breithalsige Flasche vom Wagen geholt wurde, um den Körperteil für das Auskochen in der Apotheke versiegelt aufzubewahren, fiel mein Blick nach dem Wohnhaus hinüber, wo der junge Hausherr und Gatte jetzt auf der Schwelle in sich zusammengebrochen kauerte. Fast tat er mir leid in diesem unbeherrschten Sich-preisgeben,[349] das ihm den Kopf kosten konnte, denn daß in ihm der Mörder zu suchen war, daran zweifelte ich nun nicht mehr. Vielleicht hatte er sich der Mitbesitzerin entledigen wollen, die zwischen ihm und seiner Beute stand, vielleicht auch – wer konnte wissen?

Ebenso wurden Teile des Darms in anderen Flaschen verstaut und diese sorgsam versiegelt.

Und dann sah ich etwas wie einen blutroten Beutel, von der Hand des Doktors gewogen, Ein Schnitt hinein – ein Stutzen, ein Erschrecken fast in seinen Augen.

»Gravida!« sprach er noch dunkler, noch grollender, als seine Stimme sonst klang.

»Gravida«, wiederholte tief atmend der Richter, und der schreibende Sekretär sagte kopfnickend zweimal: »Gravida! Gravida!«

»Gravida«, murmelte selbst der Gendarm, obwohl der Latein doch nicht kannte. Wie ein Schicksalsspruch ging das fremde Wort von Mund zu Mund.

Und er war es auch. »Damit freilich ändert sich das Bild«, sagte gewichtig der Doktor, »Nun sind die Indizien eines Selbstmords gegeben.«

Zu gleicher Zeit hob er ein rosiges Püppchen, wie aus Glas geblasen, an zwei Fingern empor und sagte: »Fötus – drei Monate alt – in Spiritus und siegeln wie auch das andere.«

»Wie läßt sich das alles erklären?« erlaubte ich mir zu fragen. »Vergiftet und dann noch ertränkt?«

»Das findet sich manchmal zusammen«, erwiderte der Doktor. »Wenn die fürchterlichen Schmerzen kommen, die das Arsenik verursacht, wirft man sich gerne ins Wasser, denn das kürzt die Qual etwas ab.«

Armes Ding! Armes Ding!

Da lag das Köpfchen so friedlich, jetzt ganz auf die Schulter gesunken, und der bläuliche Mund schwieg, wie er geschwiegen hatte, als Todesnot ihn verzerrte.[350]

Für mein Leben gern hätte ich ihr ein einziges Mal die Wange gestreichelt. Aber ich wollte vor diesen harten Männern keine Theateraufführung machen, und darum stopfte ich meine zuckende Hand rasch in die Tasche.

Eine Pause entstand. Der Doktor hatte sich in den Finger geschnitten, und um der sich daraus ergebenden Todesgefahr sofort zu begegnen, wurde allem Wehtun zum Trotz unverdünntes Karbolöl auf die Wunde gegossen und ein Notverband rinsgumgeschnürt.

Derweilen reimte ich mir das ganze Drama zusammen, das sich hier abgespielt hatte:

Der drüben saß, die Hände ineinandergekrampft und schuldbewußt zu uns herüberschielend, der hatte zuerst mit der hübschen Tochter gebandelt – eine gute Partie immerhin, vielleicht auch nur eine Liebschaft, aussichtslos bis aufs weitere, da die Mutter als Herrin des Hofes die Zügel nicht aus der Hand gab. Aber dann hatte die selbst ein Auge auf ihn geworfen, und der Schwächling, zwischen die Wahl gestellt, der verführten Tochter das Wort zu halten oder sich der alternden Mutter bedingungslos zu verkaufen, war der Versuchung erlegen und hatte Liebe und Ehre zum Teufel geschickt.

Nun saß er da, hoffnungslos und von den Furien gepeitscht. Kein Mörder vor der Gerechtigkeit dieser Welt, doch ewig ein Mörder vor dem eigenen Gewissen.

Was mochte sie ausgehalten haben, die zwiefach Verlassene, als sie die Frucht ohne Stillstand, ohne Erbarmen wachsen fühlte in ihrem Leibe, während der Mann, der zu ihr gehörte, mit der verliebten Alten in notgedrungenem Getändel scheu und beklommen neben ihr herschlich? – Bis ihr endlich ein wohltätiger Hausierer das Pülverchen in die Hand drückte, das ihr Erlösung versprach!

Armes Ding! Armes Ding!

Unversehrt, unzerfleischt war nur ihr Kopf noch da, der in[351] seiner Todeslieblichkeit über die Verstümmelung des Leibes ruhig hinwegsah. Aber nun kam die Reihe auch an ihn.

Der Doktor hatte plötzlich ein Instrument in der Hand, gezahnt wie eine Säge, und ging ans Werk, die Hirnschale zu durchschneiden.

»Um Gottes willen – wozu noch?« rief ich entsetzt und machte Miene, ihm in den Arm zu fallen.

Mit einem halben Lächeln wehrte er ab. »Vorschrift«, sagte er und führte die Säge weiter.

Da hielt ich mich nicht länger. Ich stürzte hinaus und verbarg mein Grauen draußen in der Öde der Stoppeln. Erst als ich die Wagen vorfahren hörte, kehrte ich auf den Hof zurück.

Eben wurde der Sarg – jetzt mit übergestülptem Deckel – zum Wohnhaus zurückgetragen.

»Von Verhaftungen wollen wir absehen«, hörte ich den Untersuchungsrichter zum Gendarmen sagen. »Flucht und Verdunklungsgefahr liegen nicht vor, und was sich wohl schließlich ergeben wird, sieht man schon jetzt.«

Wie die Heimfahrt war, weiß ich nicht mehr. Ich finde mich erst wieder, als ich eingeschlossen in meiner Giebelstube, ohne zu essen – der Leichengeschmack saß mir noch fünf Tage lang tief unten im Schlünde – ohne zu ruhen und ohne ein Menschenantlitz zu sehen, des Ungeheuren, das über mich hereingebrochen war, in langen, harten Kämpfen Herr zu werden suchte.

Nicht jener Elende war schuld, auch nicht die mannsgierige Alte, ich war schuld, das ganze Männergeschlecht war schuld, daß dieses junge Blut verderben mußte. Denn wie die eine verdarben alljährlich Tausende und Abertausende, deren Leichname man aus dem Wasser zog, die, von Kohlendunst erstickt, von Lysol vergiftet, durch den Polizeibericht der Welt ein letztes Lebewohl zuriefen. Und nicht sie allein, auch alle die Heerscharen, die im Straßenkehricht und im Sumpf der Bordelle verkamen, hatten wir auf dem Gewissen.[352]

Sie wollten es so, gewiß, aber auch, wenn sie nicht gewollt hätten, sie mußten ja, weil wir als Träger eines stärkeren Willens es so beschlossen hatten.

Die Erkenntnis der Wehrlosigkeit alles Weiblichen gegenüber dem Mannestum wuchs in mir groß – und damit die Forderung einer Verantwortlichkeit, die wir jungen Mannsleute kaum ahnten, wenn wir lachend ein Fest der Liebe dem anderen folgen ließen.

Wohl durfte ich erlöst aufatmen bei dem Gedanken, der Gefahr einer Reue bis heute ausgewichen zu sein. Aber das war wohl mehr instinktmäßig geschehen und stand mit tausend Glückzufällen im Bunde. Von nun an sollte sich alles ändern.

Asket wollte ich werden, Priester der Menschenliebe wollte ich werden, und selige Brüderlichkeit sollte überall dort regieren, wo bisher der Höllenzwang der Sinne sein Zepter geführt hatte.

Nun, ich bin kein Asket geworden, gewiß nicht, und die Erkenntnis von der Wehrlosigkeit alles Weiblichen hat auch nicht standgehalten, denn was streitbar ist und kanaillenhaft, dem fällt der Heiligenschein doch schließlich einmal selbst aus dem künstlichsten Lockengebäude. Aber die Erinnerung an jene Vormittagsstunden ist mir in Fleisch und Blut hineingewachsen und hat mahnend allemal ans Herz gepocht, wenn eine wilde Gelegenheit mich von Verantwortung freisprechen wollte.

Mein Roman »Das Hohe Lied«, dessen Stoff mich wohl zwanzig Jahre lang begleitet hat, ehe ich ihn niederschrieb, mag als Zeuge jener Gedankengänge gelten, und wenn man ihn mißverständlich als Verherrlichung des Buhlerinnentums aufgefaßt hat, so ist dies nicht meine Schuld.

Will man eine Tendenz aus ihm herauslesen, so kann es nur die eine sein: Ihr Männer, ehrt und schützt den heiligen Besitz, den ihr im Weibe habt! Sonst wird unter eurer Hand[353] selbst das treugeartete, das edelblütige, das zur Glückbringerin geschaffene Weib nichts besseres als eine Dirne.


Die Ferienzeit verging. Als die Frostnächte kamen, fing auch die Seele, näherkommender Not gewärtig, zu frösteln an.

Nun nicht mehr zaudern, sonst konnte es sich ereignen, daß ich wieder einmal als verbummelter Student am Heimatsboden kleben blieb.

Geld nahm ich diesmal nicht an – ich hätte genug, erklärte ich jedem, selbst meiner Mutter – und fuhr von dannen, müder noch, als ich gekommen war.

Meinen lieben Arbeitswinkel, den ich mir der Kosten halber nicht hatte sichern können, fand ich im Besitze eines Fremden, der diesmal nicht zu vertreiben war, und so sah ich mich genötigt, mir einen anderen Unterschlupf zu suchen. Ich fand ihn in der Schützenstraße nahe dem Dönhoffsplatz. Ein Zimmerchen, zu dem man, ähnlich wie dort, gelangte, wenn man die Wohnstube der Wirtsleute behutsam durchquert hatte. Nur daß in ihr niemand schlief, wie bei meinen lieben Freunden, die ich nun endgültig verließ.

Ein richtiges Dirnenviertel. Dirnen auf allen Steigen. Dirnen auf jeder Treppe. Dirnen mittags, Dirnen nachts. Wenn ich einschlief und wenn ich aufstand, drang durch die Tür des Nebenzimmers das Kosen oder Keifen einer Dirne.

Mir war es gerade recht. So steckte ich doch tief im Volkstum, und das waidwunde Gefühl gewollter Selbsterniedrigung war auch dabei.

Die Tretmühle des Kollegbesuchens und des Stundengebens sollte noch einmal in Gang gesetzt werden. Aber ich hatte keine Lust mehr. Zu beidem nicht. Wohl belegte ich, was zu belegen war, wohl stöberte ich im Anzeigenteil der Tagesblätter umher. Aber wenn ich ans Werk gehen sollte, blieb ich am Schreibtisch sitzen.

Von da an wurde es nicht mehr recht Tag in meinem Leben.[354] Jetzt haben sich die Bilder in meiner Erinnerung verwischt. Aber lange Jahre hindurch habe ich an das, was zu jener Zeit geschah, nur denken können wie an einen Dämmerzustand, in dem ich, meiner selbst nicht mächtig, dahinlebte, unfähig eines Entschlusses, unfähig selbst, den Notwendigkeiten des Tages und der Stunde ins Auge zu sehen.

Ich fand kaum mehr den Mut, vor die Haustür zu treten. Ich schlang hinunter, was meine Wirtin mir brachte. Ich saß und las und wußte nicht, was ich las.

Erst wenn die Lampe abends auf dem Tische stand, begann ich aufzuwachen. Dann bekam das tagsüber Aufgenommene ein Ungewisses Leben; wirre Gedanken quälten sich daraus empor, und während die Feder ihre ersten Flüge wagte, schoß als eine tollkühne und sofort zu bekämpfende Phantastik der zage Trost mir durch den Kopf: »Vielleicht kommst du doch noch durch.«

Die Niederschrift einer philosophischen Abhandlung beschäftigte mich, die ich, wenn das Glück gut war, künftig einmal als Doktorarbeit verwerten konnte. Ich nannte sie: »Die vierfache Wurzel der Teleologie.« Der Kundige wird sofort erkennen, welch ein Größenwahn in diesem Titel steckt, der durch seinen Anklang an den Namen eines berühmten Erstlingswerkes zu Vergleichen herausfordern mußte.

Die Naturgeschichte des Zweckbegriffes hatte es mir seit langem angetan. Ich sah in ihm den letzten Schlupfwinkel der landläufigen Gottesanschauung, die ich historisch und polemisch zu durchleuchten für nötig hielt, um damit zugleich dem lieben Gott selber zu Leibe zu gehen.

Dies waren meine abendlichen Vergnügungen, denen ich frönte, bis spät nach Mitternacht der künstlich aufgepeitschte Gedankenzorn in Erschlaffung zusammensank.

Am nächsten Morgen begann das Elend von neuem und ging weiter – wochenlang, monatelang.[355]

Als ein unnennbares Glück mußte ich es betrachten, daß meine Freundin Mathilde für die Wintermonate nach Berlin gekommen war. Sie bewohnte in der Köthener Straße ein Pensionszimmer, wo ich sie wöchentlich einmal um die Dämmerstunde besuchen durfte. Dann ging sie selber in die Küche und bereitete mir ein Beefsteak, dessen Duft allein schon eine Wonne war. Derweilen saß ich still in die Sofaecke gedrückt, und so wohltätig wirkte der bloße Gedanke, von einem lieben Menschen umhegt und umsorgt zu sein, auf mein Gemüt, daß die qualvolle Spannung, in der ich dauernd dahinlebte, sich zu lösen begann und eine unbezwingliche Schläfrigkeit mich befiel, die manchmal erst wich, wenn das Beefsteak schon kalt war.

So schleppte ich mich von einem der dunklen Tage zum anderen. In einer Art von seelischem Starrkrampf sah ich zu, wie einer, der aussah wie ich und sprach wie ich und sich bewegte wie ich, zwecklose und hoffnungslose Dinge tat, die ebensogut unterbleiben konnten, mochten sie im Augenblick noch so notwendig erscheinen.

Bei einem Rechtsanwalt hatte ich mir einige Arbeiten verschaft, Übertragungen ins Französische und Englische, die leidlich bezahlt wurden und mir fürs erste weiterhalfen. Auch mein Freund Neumann half, und erst recht half meine Freundin Mathilde, so daß ich körperliche Not nicht zu leiden brauchte.

Aber je weiter der Winter voranschritt, desto klarer sah ich ein, daß es so nicht weitergehen konnte.

Was tun? Wieder eine Stelle suchen wie jene, in der es mir nur allzu wohl gewesen war? O nein. Damit wäre mein hochgemutes Opfer zur Farce geworden.

Fort von Berlin! Das war es! Sich verkriechen in irgendeinen Winkel, wo niemand meinen Stolz und meine Schande kannte, wo ich verbauern und versauern konnte, in Bedientenhaftigkeit versunken, von einem Gut zum anderen geschoben,[356] wie in meiner Heimat die Hofmeister, die, wenn sie langsam ergrauten, als altes Hausinventar, als Spaßmacher und Blitzableiter, als Saufkumpane und Prügeljungen immer noch ihren Platz ausfüllten.

Nicht jedem ging es so gut wie meinem Freunde Reubekeul, der als Hauslehrer in einer Pfarrfamilie nicht bloß Frieden und Arbeitsfreude, sondern auch eine liebliche Braut gefunden hatte, die ihm Halt und Hoffnung geworden war, so daß er nun nach bestandenem Mittelschulexamen sich ein bescheidenes Glück im Winkel aufbauen konnte.

Nein, so gut konnte es mir nicht ergehen. Und es sollte auch nicht. Für Idyllen war kein Platz in meinem Leben. Verfallen, niederbrechen, durch Selbstzerstörung hohnlachend zugrunde gehen, das ja, nicht aber in kläglichem Verzicht aus dem Abfall des Gewesenen sich eine Bettlermahlzeit kochen, an der man sich nur Ekel aß.

Ich studierte den Anzeigenteil der »Kreuzzeitung« und der »Post«, wo ich in Fülle fand, was ich suchte. Ich ließ mir Bilder machen, die mein Äußeres empfahlen – der allzu noble Graf-Waldemar-Bart war längst der Schere zum Opfer gefallen –, ich schrieb Meldebriefe und erhielt auch Antwort.

Fort von Berlin! Hinaus in den Schiffbruch! Je schneller es ging, desto besser. Fort, nur fort!

Das war meiner Jugend Dämmerung.

Quelle:
Sudermann, Hermann: Das Bilderbuch meiner Jugend. München, Wien 1981, S. 341-357.
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