Viertes Kapitel

Bei der guten Tante in Elbing

[58] Unter der Obhut des Herrn Hoffmann, desselben Herrn Hoffmann, bei dem die zwei Tuchanzüge gekauft waren und der sich jetzt zur Leipziger Messe begab, um neuen Vorrat zu schaffen, fuhr ich an einem sonnigen Aprilmorgen von dannen – bis Tilsit mit der Post –, von dort mit dem Personenzuge weiter.

Bei Herrn Hoffmann – gesegnet sei sein Andenken! – war zwei Tage vorher große Gesellschaft gewesen, und darum hatte seine sorgliche Gattin ihm einen ganzen Freßkober mit gefüllten Blätterteigschnitten vollgepackt-Dinge, von denen man im Sudermannschen Hause gerade nur eine Ahnung bekam, wenn Mama auf »Ressource« gewesen war. Und wenn ich mit vollen Händen herausholen durfte, mehr als mein Herz begehrte, dann war es wie eine glückliche Vorbedeutung für die Üppigkeit kommender Zeiten, war fast eine Reise ins Schlaraffenland.

Die Nacht über saß ich wach in meiner harten Ecke und malte mir die Wonnen künftiger Tage.

Am meisten freute ich mich auf Onkel Heinrich.

Onkel Heinrich war der einzige rechte Bruder meines Vaters und hatte in meinem Elternhause eine Stellung von märchenhafter Wichtigkeit. Er war der Besitzer des Hotels »Zum goldenen Löwen« gewesen, das er verkauft hatte, als seine Frau, eine sehr üppige und vornehme Frau – beider oft angestauntes Bildnis hing in unserer guten Stube – ihm nach einer geheimnisvollen Krankheit, bei der alles zu Zucker wird, vom Tode entrissen worden war. Was er seither getan hatte, darüber war Genaues nicht mehr zu uns gedrungen. Er lebte bei[59] den Verwandten, wie es hieß, gewiß als ein wohlhabender und lebensfroher Rentner, bereit, auch seinem dankbaren Neffen einen Anteil an den Genüssen des eigenen Daseins zu vergönnen.

Dieser Onkel Heinrich würde mich mit Fuhrwerk vom Bahnhof abholen kommen, so hatte die Tante in ihrem letzten Briefe geschrieben, und als ich in Elbing um fünf Uhr früh dem Zuge entstiegen war, sah ich mich herzpochend nach der Karosse und ihrem Kutscher um, die meiner warteten. Wo sie waren, da konnte auch Onkel Heinrich nicht fern sein.

Aber nichts dergleichen ließ sich bemerken. Hinter dem knallgelben Postwagen stand nur ein klappriges Brettergefährt, auf dem ein zweifelhaft aussehender Mann mit langem Fetthaar und einer roten Nase zigarrenlutschend kauerte. Als der mich in meiner Ratlosigkeit suchend dastehen sah, winkte er mir zutraulich mit seiner Peitsche und rief: »Wenn du der Hermann bist, mein Jungchen, dann komm nur! Der Gaul ist zwar noch nie im Leben durchgegangen, aber mir ist gesagt worden, ich soll ihn nicht allein lassen.«

Sehr beklommen trat ich näher, und als er sich mit zwei feuchten Schmatzlippen zu mir herniederneigte, kletterte ich auf die Radnabe und küßte ihn tapfer, während ein verdächtiger Dunst, den ich von Krügen und Landstraße her wohl kannte, lähmend über mich herfiel.

Das war mein Onkel Heinrich.

Als ich meinen Koffer besorgt hatte, fuhren wir quer durch die noch schlafende Stadt, und überall glitzerten in der Morgensonne die hohlgebogenen Fensterscheiben, die ich in solcher Fülle an keinem anderen Ort der Erde gefunden habe.

Das sprach von Glanz und Glück und Lebensfülle, aber mir war das Herz sehr schwer.

»Hier ist der ›Goldene Löwe‹«, sagte mein Onkel und wies mit der Peitsche nach einem hohen, kahlen und kleinfenstrigen Hause, das altmodisch eingeklemmt zwischen ähnlichen[60] Giebelbauten stand, und mit einem von Bitterkeit freien, fast fröhlichen Lachen fügte er hinzu: »Ja, ja, mein Jungchen, das war einmal.«

Dann kam der breite Elbingfluß, von bauchigen Kähnen und schwarzen Dampfern voll – und dann ein Stadtteil, der mit seltsamen himmelhohen, schwarzweißen Fachwerkhäusern dicht besetzt war, ein Stadtteil, in dem kein Mensch sich sehen ließ, in dem keine Gardine leuchtete, in dem alles tot und erstorben schien.

»Das ist die Speicherinsel«, erklärte mein Onkel.

Und dann war es plötzlich wie auf dem Lande. Noch kahle Chausseebäume säumten die Straße ein, ein Dorfgasthaus mit Einfahrt und Wolmen winkte zur Ankehr, Obstgärten rüsteten sich zum Blühen, ein Ackerfeld, frisch aufgebrochen, dunstete –

»Hier sind wir«, sagte mein Onkel, auf ein stattliches blitzblankes Haus hinweisend, dessen Fensterglas so hohl geschliffen glitzerte wie in allen den gastlichen Wohnungen, die ich mit heimlichem Neid hinter mir hatte zurücksinken sehen.

Das also war eine »Villa«! Und als ich vom Wagen sprang, war das Herz mir wieder ganz leicht.

Und dann kam eine kleine, verschrumpelte Frau mit langen Zähnen und tränigen Augen mir freundlich entgegen, wischte sich die Reibeisenhände an einer blauen Küchenschürze und umhalste mich. Ein hochaufgeschossenes Jungfräulein, braunzopfig, blinkäugig und auch im übrigen leidlich wohlgetan, reichte mir die vollen Lippen zum Kusse – das war meine Kusine Marie.

In einem sonnendurchglänzten Giebelzimmer, in dem – das sah ich auf den ersten Blick – ein Pianino meiner Künstlertaten harrte, stand auf dem Sofatische die Kaffeekanne und das Butterbrot.

Ich war daheim.[61]

Nach zwei Tagen, vollgefüllt mit den Wonnen neuen Schauens und neuen Liebhabens, machte meine Tante sich mit mir auf den Weg, mich in der Realschule anzumelden. An den Besuch des Gymnasiums hätte ich niemals zu denken gewagt. Ein späteres Studium war selbstverständlich ausgeschlossen, und bis zum höheren Postfach und ähnlichen Berufen kam man als Realabiturient ja auch.

»Der Herr Direktor lassen bitten«, sagte der Schuldiener.

In einem blaudämmerigen Raume stand ein droßer, dicker Herr mit rotwallendem Barte und stechenden Brillengläsern.

Das war der Direktor Brunnemann, der Allgewaltige, der mein künftiges Schicksal zwischen den Fingern hielt.

»Was hast du für eine Vorbildung, mein Sohn?«

»Ich habe Latein gelernt, ich habe Mathematik gelernt, ich habe Literaturgeschichte gelernt, und die beiden Sprachen hab ich auch gelernt,« schnurrte ich herunter, um meiner Verzagtheit Herr zu werden.

»Halt, halt«, sagte er lachend, »sonst kann ich dir schließlich nur noch eine Lehrerstelle anbieten.«

Die Prüfung ergab, daß ich über die Anfangsgründe hinaus so gut wie gar nichts wußte.

»Also Quarta«, entschied der Direktor.

Da verlegte ich mich aufs Bitten. »Ach, versuchen Sie es doch mit mir, Herr Direktor! Ich werde mir solche Mühe geben, ich werde so fleißig sein! Wenigstens versuchen könnten Sie es.«

Und auch die Tante half mit. »Er kommt da von weit hinten her«, sagte sie. »Aus dem Litauischen. Da sind die Leute noch nicht so weit. Aber er ist ein aufgeweckter Junge und wird sich schon machen.«

»Gut«, sagte der Direktor, »ich werde dich also für die Tertia notieren; aber daß du binnen vier Wochen nach der Quarta zurückversetzt werden wirst, darauf kannst du dich verlassen.«[62]

Die Drohung schreckte mich nicht. In heller Seligkeit verließ ich das Schulgebäude. Und der Vetter, Tantens Sohn, ein murkliger Junge mit grellen, kohlschwarzen Fanatikeraugen, der als Apothekerlehrling der Welt zu Leibe ging, goß uns, als wir bei ihm ansprachen, zwei heimliche Magenschnäpse ein: erstens, um das große Glück zu begießen, und zweitens, weil er gerade allein war.

O Schicksal, der du Liebe in Haß und Haß in Liebe wandelst, wie kläglich spielst du mit uns! Dieser Vetter, der mir jahrelang der Inbegriff aller jungmännlichen Tugenden war, dem ich noch als Student mit heißer Verehrung anhing, hat später Broschüren gegen mich geschrieben und ist jahrelang auf den Berliner Redaktionen herumgelaufen, um mich als Landesverräter, als Meineidigen und, was weiß ich, sonst noch zu denunzieren. –

An demselben Tage lernte ich den ersten wirklichen Freund kennen, den das Leben mir bescheren sollte.

Er hieß Julius Blechschmidt, und seine Mutter, mit der meine Tante einen matten Verkehr unterhielt, war die Witwe eines höheren Beamten, die durch Weißzeugnähen ihrer kärglichen Pension die sehr nötige Aufbesserung schuf.

Er war ein wilder Bursche, älter und kleiner als ich, mit schwarzer, schlichter Mähne und einem Paar Augen von dunkelflammender Schönheit. Da er im zweiten Jahre auf der Tertia saß, mußte er naturgemäß mein Mentor werden, und dies Geschäft hat er so gründlich besorgt, daß es in den nächsten zwei Jahren keinen dummen und wüsten Streich in der Klasse gab, in den ich nicht mit Zagen und Widerwillen verwickelt gewesen wäre.

Zwei- oder dreimal habe ich dank ihm dicht vor der Relegation gestanden, aber immer hat seine Indianernatur unsere Untaten zu verwischen gewußt. Die ärgsten darf ich auch jetzt nicht erzählen, denn sie waren schlimmer als verbrecherisch – unappetitlich waren sie.[63]

Aber ich liebte ihn – liebte ihn mit der ganzen Hingabe des einsamen, leichtverzagten, vom Leben unsanft behandelten Knaben. Sein Denken und Handeln, wie sehr es meiner innersten Natur auch widerstreben mochte, war für mich Vorbild und unerreichbares Ideal. Vielleicht fühlte ich, daß er dem Naturwalten weit näherstand als ich, daß ungebändigte Naturtriebe in ihm wirkten, vor denen mein Sinn sich willenlos beugen mußte. Trotz seiner Kleinheit war er von unheimlicher Muskelstärke, ein Turner, ein Schwimmer, ein Schlittschuhläufer von Gottes Gnaden. Mit allem, was Tierzeug heißt, auf du und du und in der Pflanzenwelt zu Hause wie ein Botaniker von Fach. Vieles von dem, was ich ihm verdanke, lebt heute noch in mir.


Die Schulstunden nahmen ihren Anfang.

Als Letztangekommener bekam ich den letzten Platz, und daß er mir auch von Wissenschafts wegen gebührte, stellte sich rasch heraus.

Unser Ordinarius hieß Kutsch, ehemaliger Volksschullehrer und nur aufgrund altbewährter Ungebundenheiten – Preußen war damals noch nicht zu einer Maschine umreglementiert – zum Dienst auf Tertia zugelassen. Ein großer, starker Mann mit scharfen, hellgrauen Herrscheraugen und einem langen Bartbesen, an dem er unaufhörlich zerrte. Jupiter tonans, wenn er wollte; und wenn er nicht wollte, ein galoschenschlürfender Pedant, der das Klassenbuch mit Tadeln füllte und seine Gutherzigkeit im Zügel hielt, so daß sie nur bei Spaziergängen und auf dem Schulhof beseligend zum Vorschein kam. Dieser Mann hatte mich, seitdem mir in der Geometriestunde die erste blödsinnige Antwort entfallen war, auf die Plempe seines Humors gespießt, und wenn er eine Frage an mich tat, brüllte die Klasse, noch ehe ich den Mund aufgetan hatte. Bis meine deutschen Aufsätze ihm eine mürrische Achtung abnötigten. Aber das kam erst später.[64]

Noch weit schlimmer stand es mit Latein. Als das erste Extemporale zurückgegeben wurde, zeigte das beste 0 Fehler, das schlechteste hingegen 54. Die 0 Fehler hatte Claaßen I, die 54 Sudermann – von dem nächstschlechten durch die Ziffer 31 getrennt. Ein so skandalöses Ergebnis war auf der Tertia noch nicht dagewesen, wie der alte Lateinlehrer Genrich, der mir mein Lebtag ein Schrecknis geblieben ist – ich träume noch jetzt manchmal von ihm – mit schrillem Gelächter der Klasse verkündete.

Somit war es kein Wunder, daß eines Tages während der Mathematikstunde der Direktor bei uns erschien und ohne weitere Einleitung zu mir sagte: »Sudermann, pack deine Bücher, wir gehen jetzt nach der Quarta.«

Ich schrie hell auf: »Nein, nein, nein, Herr Direktor! Nein, nein, nein!«

Und als der Direktor mich mit einem Griff seines linken Armes aus der Bank zog, ließ ich mich auf die Knie fallen, hielt mich an dem Ständer des Schultisches fest und schrie schluchzend: »Ich gehe nicht, ich gehe nicht, ich gehe nicht.«

Die beiden großen Männer sahen sich an, strichen sich lächelnd die langen Bärte und wußten nicht, was beginnen.

»Ich werde ihn auf den Arm nehmen müssen«, sagte Kutsch, der zugleich Turnlehrer war und über herkulische Kräfte verfügte.

Noch verzweifelter umklammerte ich meinen Pfosten; man hätte mir die Arme abhacken müssen, um mich von ihm zu lösen.

»Vielleicht sehen wir noch eine Weile zu«, sagte der Direktor.

Der andere zuckte die Achseln. »Viel Zweck hat es zwar nicht«, erwiderte er.

»Man kann nie wissen«, sagte der Direktor, der immer noch neben mir stand. Zugleich fühlte ich ein leises Streichen über mein Haar.[65]

Dann reichten sich die beiden Mächtigen abschiednehmend die Hände, und ich war gerettet.


Nun hebt an, ihr Zimbeln, ihr Posaunen, zu klirren und zu schmettern, denn ich will singen ein hohes Lied der jungen Liebe!

Meine Kusine war es nicht. Nach wenigen Tagen inbrünstiger Zuneigung, wie sie die körperliche Nähe eines reifenden Weibwesens zwangsgemäß mit sich brachte, glitten meine Gefühle für sie in das sanfte Bette des Geschwisterlichen, aus dem sie nie mehr hinausstrebten.

Eine andere war's, weit holder, weit herrlicher, weit geheimnisvoller – ein halbflügger Cherub – eine Maienkönigin.

Als meine Mutter einst junges Mädchen war, hatte sie, um dem ärmlichen Witwenhaushalt daheim einige Erleichterung zu schaffen, ihr Brot in der Fremde suchen müssen und war über Haff nach Elbing gegangen, um in das Spielwarengeschäft von Franz Horning als Ladnerin einzutreten.

Daraus hatten sich Freundschaftsbeziehungen entwickelt, die auch nach ihrer Verheiratung durch Neujahrs- und Geburtstagsbriefe sorgsam gepflegt wurden und dahin führten, daß ich von ihr den Auftrag erhielt, mich alsbald nach meiner Ankunft bei Frau Hornig vorzustellen und dieser mütterlichen Freundin, deren Mann inzwischen gestorben war, ihre dankbaren Grüße auszurichten.

Als meine Kusine von dem bevorstehenden Besuche erfuhr, den meine Schüchternheit von einem Sonntage zum anderen hinausschob, hub ein heftiges Necken an und ich wurde zur Zielscheibe ihres Spotts.

»In die Klara wirst du dich auf der Stelle verknallen. Sie sitzt zwar noch auf der II b, obgleich sie auch schon über vierzehn ist« – sie selber gereichte längst schon der I b zur Zierde – »aber sie ist größer als ich und hat schon Tanzstunden genommen[66] und ist überhaupt sehr kokett und sehr eitel, und alle Primaner laufen ihr nach.«

Als Abschreckungsmittel diente diese Charakteristik nicht, wenn ich auch noch zu grün war, um zu wittern, daß der Neid sie diktiert hatte. Ich brauchte mich nun nicht erst zu verknallen, ich saß in Liebe schon drin bis über die Ohren.

Bei Tage mied ich die Straße, in der das Hornigsche Haus gelegen war, obgleich mein Schulweg durch sie hindurchführte; aber wenn die Dämmerung kam, schlich ich mich leise an ihm vorüber, den schielenden Blick nach dem Fenster gewandt, an dem die Angebetete sitzen mußte.

Ich hatte sie noch nie mit meinen Augen gesehen, ich wollte sie auch gar nicht sehen, denn ich fürchtete, bei ihrem Anblick zur Erde zu sinken. Zog sich mir doch das Herz bis zum Taumeln zusammen, wenn ich nur daran dachte.

Aber meine Mutter mahnte schon. In jedem Briefe stand: »Warum bist Du noch nicht bei Hornigs gewesen?« Und in dem letzten gar: »Schreibe nicht eher wieder, als bis Du mir von Deinem Besuche berichten kannst.«

Nun gab es keinen Aufschub mehr, und als der nächste Sonntagnachmittag kam, rückte ich die brokatne Krawattenschleife noch etwas weltmännischer zurecht, memorierte die schöngeistigen Wendungen, die ich für ein erstes Auftreten in der großen Welt seit langem auswendig konnte – das Verhältnis von Karl zu Franz Moor spielte darin keine unerhebliche Rolle –, und trat in Gottes Namen den Weg zu meiner Hinrichtung an.

Aber es ging alles vorzüglich. Die alte Frau Hornig empfing mich mit wahrhafter Freude, ein verkümmertes blaßgelbes Mädchen, das nicht gern aufstand, weil es verwachsen war, besah mich mit heimlicher Rührung, und ich sprudelte wie ein Wasserfall, ohne daß ich mein literarisches Wissen zu strapazieren brauchte.

Wie gesagt, alles ging vorzüglich – nur Klara machte gerade[67] eine Landpartie nach Vogelsang, was zur Folge hatte, daß meine Kusine mir vorm Schlafengehen ein Extrataschentuch überreichte.

»Zum Naßweinen«, sagte die mitleidige Seele. –

Vierzehn Tage später erhielt ich eine Einladung zum Sonntagsbraten.

»Iß dich nur ordentlich satt«, gab die gute Tante mir auf den Weg, »damit es auch zum Abendbrot noch etwas vorhält.« Und die Kusine griente. –

Diesmal war sie da.

Hoch, schlank, lieblächelnd, mit unwahrscheinlich blauen Augen und breiten, tiefdunklen Brauenbogen, die das langwimprig beschattete Augenblau noch unwahrscheinlicher machten, so stand sie vor mir und reichte mir unwürdigem Nichts, mir dummem, krummem Letzten der Tertia eine kameradschaftlich zugreifende Hand. Sie – mir! Sie, der schon die Primaner nachliefen!

Und als mich auch die anderen begrüßt hatten, erklärte sie mir, wie sehr es ihr leid getan habe, daß sie damals nicht zu Hause gewesen war – und das nächste Mal müsse ich jedenfalls mitkommen.

Ein Rausch von Selbstgefühl übermannte mich. Ja, wenn die Dinge so lagen, daß ich von ihr nicht verachtet, nicht als kindisch und belanglos beiseite geworfen wurde, dann würde ich der Lage schon Herr werden, dann würde ich es am Ende gar mit den Primanern aufnehmen können.

Wir setzten uns zu Tisch. Ein Bruder von ihr, ein lockiger junger Herr, der wie ein Künstler aussah und der mir gleich anvertraut hatte, daß er dem Geschäfte alsbald einen neuen Aufschwung geben würde, vervollständigte die Tafelrunde.

Ich fühlte mich im Himmel. Ich hatte noch nie im Leben meinen Geist so frohbeschwingt über die Erdenschwere hingleiten sehen – da, als die heiße Suppe gelöffelt wurde, merkte ich: Ich hatte mein Taschentuch vergessen.[68]

Aus! Erledigt meine Hoffnungen und Träume! Verscherzt die ungewohnte Gönnerschaft des Glücks! Wohlgefühl, Unbefangenheit, Redefluß, alles untergegangen in der einen qualvollen Frage: »Wo nehme ich ein Taschentuch her?«

Alles kommt zu seinem Ende, auch diese Mittagsstunde ging vorbei. Stumm, linkisch, blödsinnige Antworten stammelnd und nur darauf bedacht, mein Schnüffeln zu verbergen, ließ ich die Minuten verrinnen und schielte nach der Tür in dem aussichtslosen Verlangen, das Hasenpanier zu ergreifen.

Als aber nach manch peinlicher Pause und manch erzwungenem Notgespräch das »Gesegnete Mahlzeit« erklungen war – der gegebene Augenblick, mich mit diskreter Bitte an den Sohn des Hauses zu wenden –, da hielt ich mich nicht länger, erklärte meinen liebenswürdigen Wirten, ich hätte daheim höchst Dringendes zu tun, und floh – von den Furien gehetzt.

Damit war meine Rolle in dem Hause der Geliebten ausgespielt. Nie wieder wagte ich, dessen Schwelle zu übertreten. Nie wieder flog eine Einladung mir zu. Aber in meinem Herzen hegte ich hoffnungslos und trotzig die Liebe zu der Schönsten, der Herrlichsten auf Erden, alle die kommenden Zeiten hindurch.

Wenn ich nachts von meinem Freunde Blechschmidt heimging, stand ich stundenlang vor ihrer Tür, wenn ich sie auf der Straße kommen sah, kehrte ich um oder lief auf die andere Seite, und wenn ich ihr doch entgegengehen mußte und ihr lächelnder Blick auf mir Grüßendem ruhte, dann hatte ich stets das Gefühl des Blindwerdens und Hinsinkens, so daß es mir hinterher als ein Wunder erschien, daß ich in leidlich vorwurfsfreier Haltung an ihr vorbeikam. Und die neu aufgepeitschte Scham wühlte dann immer noch tagelang.

Das ging so, bis nach zwei Jahren – doch ich will lieber der Reihe nach erzählen. –[69]

In der Schule hielt ich mich leidlich. Von einer Rückversetzung war nicht mehr die Rede gewesen. Die Lehrer duldeten mich, und wenn den Klassenarbeiten eine neue Platzordnung folgte, rückte ich meistens ein paar Sitze nach oben. Nur in Latein blieb ich schlecht, und wenn der Oberlehrer Genrich eine Frage an mich richtete, brauchte ich nur in seine höhnisch funkelnden Augengläser zu sehen, damit mir die Sprache versagte.

Um so besser gedieh mir die Naturwissenschaft. Jetzt im Sommer gab es Botanik. Im Winter sollte Zoologie ihr folgen. Nach Physik und Chemie, den Sehnsuchtsfächern der Wissensgierigen, schielte ich vermessen empor wie die Gläubigen nach der Pforte des Paradieses.

Aber an Botanik hielt ich mich schadlos. Sie machte mir das Leben zu einem großen Fest. Sie schenkte mir die ersten Freuden kameradschaftlichen Wanderns und führte mich an bedachtsamer Hand in die Vorhöfe, in die Tempelhallen, in das Allerheiligste der großen Mutter.

Die Natur meiner litauischen Heimat habe ich ein wenig zu schildern versucht. Sie trägt ausgesprochen nordischen Charakter. Aus ihren Heiden und Mooren schaut schon das Antlitz der Sarmatischen Ebene. Hier um Elbing herum tat die Fülle der deutschen Marschen, die Lieblichkeit des deutschen Laubwaldes zum ersten Male ihre Wunder vor mir auf. Auf der Scheide zwischen Niederung und Hügelland gelegen, während Haff, Meer und Düne in wenigen Stunden zu erreichen sind, bietet diese Stadt in ihrer Umgebung einen Reichtum und eine Buntheit von Naturbildern wie kaum eine andere unseres Vaterlandes.

Freilich, ohne Führer und ohne Lernluft offenbart sich auch hier dem Auge nichts. Den Führer hatte ich in meinem Freunde, und die Lernluft, erst einmal angefacht, wuchs alsbald zur Leidenschaft.

Wenn ich am Sonnabend nach rasch geschlungenem Mittagessen[70] mit Blechschmidt und anderen Schulgefährten zu den Wäldern hinauszog, die hinter dem Luftort Vogelsang manche Meile weit die Höhen bedecken, dann fühlte ich in meiner Brust einen Funken von der Glut der alten Konquistadoren, die ins Ungewisse hinaussteuerten, um sich die Welt und ihre Schätze zu erobern.

Was ich heimbrachte, war meist nur eine Botanisiertrommel voll halbverwelktem Unkraut, aber zwischen den schlaff hängenden Blüten schimmerten Perlen neuer Erkenntnis.

Ein ungeschriebener Ehrenkodex gebot, daß wir von jeder Pflanze, die wir fanden, den lateinischen Art- und Gattungsnamen, die Klasse des Linnéschen und die Familie des natürlichen Systems auswendig wußten, weit genauer, als es in der Klasse von uns verlangt wurde. Und ebenso mußten wir in den geschwisterlichen Arten, in den Familienmerkmalen, auch in der Frage des Standortes und der Verbreitungsbezirke zu Hause sein.

Der Nichtwissende wurde als Bönhase betrachtet und von tiefgründigen Gesprächen ferngehalten.

So blieb es nicht aus, daß meine Kenntnisse in reißendem Tempo sich vermehrten und daß ich, der ich bei meiner Ankunft einen Hahnenfuß von einer Kuhblume nicht hatte unterscheiden können, selbst im Kreise der Eingeweihten wohl gelitten war.

Um gewisser rarer und geheimnisvoller Einzelstücke habhaft zu werden, unternahmen wir große Entdeckungsfahrten, von denen wir entweder in hellem Triumph oder schwer gedemütigt nach Hause kamen.

Der mörderische Sonnentau, die berühmte Linnaea borealis und etliche Orchideen, vor allem die Wunderblume, das heißumworbene Cypripedium calceolus, waren das Ziel unserer Sehnsucht, das Gaukelspiel unserer Träume und der Siegespreis manches Beutezugs.

Der Mann, der dieses segnende Feuer entzündet hatte, das[71] aus den Seelen der Gefährten zwingend zu mir übersprang, darf nicht vergessen sein. Er war der vierte Oberlehrer und hieß Doktor Nagel. In späteren Jahren, als er die Direktorialgeschäfte versah, hat er bei Gelegenheit eines Schuljubiläums an mich geschrieben, und ich habe ihm in meiner Antwort nicht einmal gedankt.

Wie wichtig die Pflanzensuche auch erschien, so war sie doch nur der Samenkeim, aus dem die inbrünstige Liebe zur Natur in mir erwuchs. Nie gekannte Ekstasen durchfieberten das Hirn, wenn auf die Blätterdome das Abendschweigen seine dunklen Flügel niedersenkte, wenn über den safrangelben Hügeln und den rosig umnebelten Türmen der fernen Stadt die sinkende Sonne ihren Flammenbogen baute, in dem das perlmutterne Band des Flusses sich mählich erbleichend verlor.

Wie sie entstanden, aus welchen Quellen sie sich nährten, ich wüßte es nicht zu sagen. Sie waren da und verschmolzen alles je Gefühlte und Gedachte im Feuerofen ihres Hellsehertums zu einem brodelnden Gemisch von Welterlösung, Lebensgier und Gottesanbetung.

Der Frömmigkeitsdrang, der einst das Kind vor die Altäre gezwungen hatte, um dann in Not und Nüchternheit zu versinken, war wieder erstanden und strömte sich angesichts der täglich neue Wunder spendenden Natur in stummen Lobgesängen aus.

Nicht immer stumm. Der deutsche Aufsatz war ja da, der alle vier Wochen niedergeschrieben wurde. Da hinein ließ manches sich bannen, von dessen Überfülle Herz und Hirn erzitterten, und wenn das Heft von Herrn Kutsch zurückgegeben wurde, erlebte ich meistens einen verwunderten Blick, wohl auch ein leises Kopfschütteln oder ein verhaltenes Lob, nie aber eine bessere Nummer als »im ganzen gut« oder »befriedigend«.

Und dann sorgte auch Freund Blechschmidt dafür, daß ich[72] ein Musterknabe nicht werden konnte. Fast jeden Tag gab es eine neue Nichtsnutzigkeit, an der ich teilzunehmen hatte, wollte ich nicht für ewig aus dem Kreise der Helden verbannt sein. Denn Helden waren sie und blieben sie für mich, er und sein Kumpan Christoph, der sommersprossige Recke, von dem die Sage ging, daß er schon »bei Mädchen« gewesen war, und die anderen vier oder fünf, die in der Klasse eine Schreckensherrschaft führten und bei jedem Banditenstreich die Rädelsführer waren.

Wer hat vor fünfzig Jahren die Gaslaternen der Speicherinsel entzweigeschmissen? Wer hat den Katzenmord in der Junkerstraße auf dem Gewissen? Wer brach nachts in den Kasinogarten ein und bekränzte mit den Girlanden, die dem morgigen Sommerfeste dienen sollten, die Badeanstalt, in der wir gerade Freischwimmen feierten?

Oh, meine lieben Elbinger, ich könnte euch mit Enthüllungen aufwarten, daß euch die Augen übergehen!

Aber ich würde prahlen, wenn ich behaupten wollte, daß ich gerne dabei war.

Ich hatte stets ein viel zu starkes Herzklopfen, und auch das Entwischen und heimliche Wiederkommen war viel zu schwer, als daß ich mit Behagen Räuber oder gar Räuberhauptmann hätte spielen können.

Und wäre jener genannte Onkel Heinrich nicht gewesen, der manche Schandtat vertuschen half, die gute Tante hätte mich wohl bald an die Luft gesetzt.

Ach ja, der Onkel Heinrich – das ist ein böses Kapitel!

»Mit dem Mann ist nichts mehr anzufangen«, sagte alltäglich die gute Tante, »er faulenzt und trinkt und läßt sich von seinen mildtätigen Verwandten erhalten, wo doch das Leben ohnehin schon so teuer ist.«

Derweilen schlief Onkel Heinrich im Keller auf einer Strohschütte und deckte sich mit seinem Mantel zu. In die Wohnräume ließen Tante und Kusine ihn ungern herein, denn auch[73] wenn er nicht getrunken hatte, verbreitete er um sich einen eigentümlichen Dunst, den Dunst von Leuten, die nachts ihre Kleider nicht von sich tun.

Bei Tage war er meistens unterwegs. Sich eine Stelle zu besorgen, wie er sagte. Aber es wurde nicht viel daraus. Wenn er abends wiederkam, stieß er wohl mit der Zunge an und hatte feuchtglänzende Äuglein, aber dafür war er auch um eine Hoffnung ärmer geworden. So lautete die regelmäßig wiederkehrende Wendung, die das Resultat seiner Bemühungen kennzeichnete.

Trotz dieses zunehmenden Verarmens war er ein höchst fideler alter Knabe, der sich in seinem Kellerloch ganz wohl fühlte. Man darf seinen Aufenthaltsort durchaus nicht mit einer menschlichen Wohnung vergleichen, es war ein mit Ziegeln gepflasterter und in Ziegeln gemauerter Raum, dessen Boden bei Überschwemmung manchmal unter Wasser stand. Dann mußte Onkel Heinrich seinen Schlafplatz erhöhen, indem er etliche Lagen Ziegel unterpflanzte, eine alte Tür darüberlegte und die Strohschicht enger zusammenzog.

Er nannte das »seine obere Etage beziehen«.

Als ich ihn zum ersten Male so vorfand, erschrak ich heftig, und die Tränen schossen mir in die Augen. Aber er tröstete mich.

»Ich schwebe hier wie der Geist Gottes über den Wassern«, sagte er, »und solange ich keinen Rheumatismus kriege, bin ich so gut wie im Himmel. Jedenfalls bitte die Tante um nichts, und vor allen Dingen: Schreibe es nicht deinem Vater. Helfen kann er mir nicht und grämt sich bloß unnütz.«

Da er als ehemaliger Besitzer des »Goldenen Löwen« im Hotelgewerbe wohl bewandert war, so beschäftigte er sich häufig in dem benachbarten Wirtshause, indem er den Pferden der ankehrenden Fuhrwerke Futter gab und mit deren Herren einen Schnaps trank: waren sie doch zum großen Teil seine Schulkameraden gewesen. Ich nehme an, daß er auch[74] seine Revenuen von ihnen bezog, die er dann sorgsam wieder in Schnaps anlegte.

Man sieht bereits: Viel Staat war mit meinem Onkel nicht zu machen und ist es auch heute noch nicht, selbst wenn ich mir noch so viel Mühe gebe, ihn herauszufrisieren.

Dabei war er in Wirklichkeit ein Philosoph, der aus allen Geschehnissen seine Lehren zog und danach handelte.

Wenn er vor der Kellertreppe im warmen Sonnen schein saß, wonach er in Anbetracht mancher feuchten Nacht ein lebhaftes Bedürfnis hatte, und ich gesellte mich zu ihm, erging er sich oft in erbaulichen Meditationen.

»Was fehlt mir eigentlich?« sagte er einmal. »Die Tante hat mir Kaffee mit Schmalzbrot heruntergeschickt, die zwei Zigarren, die ich von gestern noch habe, sind zwar etwas abgeblättert, aber schmecken werden sie doch, und fürs übrige sorgt die liebe Sonne. Nenne mir einen Menschen, der sich rühmen kann, daß es ihm besser geht.«

Wenn etwas auf der Welt ihm Leiden bereitete, dann war es nur die Erinnerung an seine einstige Wohlhabenheit und die Umstände, denen er sie verdankt hatte.

»Eines sage ich dir, mein Sohn: heirate nie eine Reiche! Vermiete dich als Dreschknecht oder als Stiefelputzer, aber niemals als Ehemann.«

Und weiter: »Du wachst auf und denkst, du bist ein Mensch. Ja prost! Schoßhundchen bist du und trägst ein goldenes Halsband, woran eine Uhr hängt. Und wenn du unartig bist, wird dir das Taschengeld entzogen, und wenn du aus Verzweiflung mal einen gehoben hast, dann mußt du auf dem Sofa schlafen, wo du dich nicht einmal ordentlich ausstrecken kannst. Viel lieber im Wasser, viel lieber im Sarg, als noch einmal auf dem Sofa.«

»Aber ich will nichts gegen sie gesagt haben«, fuhr er fort, sich ängstlich umschauend, als könnte der Schatten derer, die er bei mir verklagt hatte, unversehens im Kellerhalse hinter[75] ihm stehen. »Alles in allem war sie eine gute Frau und eine hübsche Frau und eine korpulente Frau und auch immer sehr zärtlich, aber meistens dann, wenn mir nicht gerade zärtlich zumute war.«

Und er schauderte leise in sich hinein, wie er wohl oft getan haben mochte, wenn er zärtlich zu sein hatte und ihm nicht zärtlich zumute war.

Über die gute Tante äußerte er sich nie. »Wes Brot ich eß, des Lied ich sing«, sagte er einmal, »und wenn mir das Brot in der Kehle stecken bleibt, dann tut es das Lied erst recht.«

Um so beredter war die gute Tante, wenn sie auf ihn zu sprechen kam. Und das tat sie, wie schon angedeutet, morgens, mittags und abends.

»Man müßte ihn nach Amerika abschieben«, sagte sie eines Tages, »denn sonst bleibt er mir auf dem Halse. Wenn nur die Verwandten was zur Überfahrt beisteuern möchten! An deinen Vater denke ich nicht, lieber Hermann, denn der hat sowieso nichts, aber der Onkel Jakob und die Tante aus Robach und die Tante Annchen – die könnten schon zahlen.«

Und dann erging sie sich in bitteren Klagen über die Hartherzigkeit der Verwandten und stellte fest, daß sie die einzige sei, die ein gutes Herz vom Himmel mitbekommen habe.

»Darum werde ich auch immer für dumm genommen«, fuhr sie fort. »Zum Beispiel mit deinem Pensionsgeld komme ich lange nicht aus, selbst wenn ich den Taler für die Klavierstunde dazurechne, denn du bist ein starker Esser, mein Sohn. Marie hat schon erklärt, daß sie dir den Unterricht umsonst geben will, denn die hat das gute Herz von mir geerbt, geradeso wie ihr Bruder.«

Mit diesem Unterricht hatte es eine eigene Bewandtnis. Er war eigentlich niemals begonnen worden und tat sich nur darin kund, daß ich allmählich, statt der mir ans Herz gelegten Fingerübungen, das Lied »Kommt ein Vogel geflogen« mit Zeige- und Mittelfinger tadellos herunterspielte. Ja, ich[76] mochte anfangen, was ich wollte, immer wurde »Kommt ein Vogel geflogen« daraus.

Meine Kusine sagte von sich selber, daß sie die ihr vielleicht noch fehlende Technik durch Gefühlstiefe vollauf zu ersetzen imstande sei, und darin mochte sie recht haben, denn das »Gebet der Jungfrau«, in dessen Wiedergabe sie sich hervortat, gedieh zwar nur selten bis zum Schlusse, aber was ich davon zu hören bekam, erfüllte mich stets mit Rührung und geheimem Sehnen. Noch schöner war ein anderes, genannt »Les Cloches du Monastère«, worin der Klang der Abendglocken in herzbewegender Weise nachgeahmt wurde. Ich bewunderte es schon deshalb so sehr, weil es auf dem Titelblatt als »Salonstück« bezeichnet war. Ich sah dann immer ein goldgetäfeltes Gemach, in dem schöne Frauen und vornehm gekleidete Männer tief ergriffen diesen Tönen lauschten, und darum war es auch eigentlich viel zu schade für mich.

Mein Verhältnis zu Tante und Kusine gestaltete sich im übrigen durchaus erfreulich. Ich sah in beiden etwas wie höhere Wesen, getragen von den Tugenden strengster Gerechtigkeit und unanfechtbaren Edelsinns. Auch mein Mitleid mit Onkel Heinrich tat diesen Gefühlen nicht den mindesten Abbruch; denn ich erfuhr es ja täglich, daß er so viel Wohltat eigentlich gar nicht verdiene und daß alle anderen, die nicht so guten und einfältigen Herzens seien, sich längst von ihm losgesagt haben würden.

Denn überhaupt die anderen! Wenn die Dämmerung niedersank und Tante sich einen vorjährigen Apfel schälte, dann erfuhren wir haarsträubende Beispiele von der Tücke und der Hartherzigkeit unserer Mitmenschen und ebenso auch von der allgemeinen Verschwendungssucht, der Vermögensverfall und Untergang als göttliche Strafe stets auf dem Fuße folgten.

Ja, es sah schlimm aus in der Welt! In der Pangritzkolonie – einem Armenviertel vor der Stadt – gab es Leute, die aus reiner[77] Niedertracht einem die Miete nicht zahlten und denen man noch viel zu viel Güte erwies, wenn man sie bloß an die Luft setzte. Die Familie, die das Parterrestockwerk hier unten innehatte, die war ja freilich noch nichts schuldig geblieben, aber daß die Frau in Samt und Seide ging und daß der Mann an höchst unsichere Leute Darlehen vergab, das mußte sich rächen. Und wer sich aufs Prophezeien verstand, der sah schon heute klar, daß sie eines Tages mit Schimpf und Schande aus dem Hause fliegen würden.

Und die Kusine ballte die kleinen, harten Fäuste dazu, und ihre Augen blitzten, als könnte sie die Stunde dieses Triumphes kaum noch erwarten.

Kam gelegentlich der Vetter zu Besuch, dann trug auch er ein wohlgerüttelt Maß an Bitterkeit herzu. Aber all das Süße, das sich in seinen Taschen barg, milderte die Stimmung um ein Erkleckliches. Da waren Brustbonbons und Apothekerschnäpse und Magenmorsellen und kandierter Ingwer und eine gewisse Art von Brausepulver, die einen himmlischen Apfelgeschmack entwickelte. Vor allem aber waren es Fruchtsäfte, in deren Mischen er Meister war, und diese Kunst, die ihn zu den Sternen führen sollte, hat ihm später auch den Hals gebrochen.

Uns schufen die bewußten Gaben – die eigentlich unbewußte Abgaben waren – stets einen Feiertag, denn auf andere Weise wären wir solcher Genüsse nie teilhaftig geworden. –

Von der Sparsamkeit der guten Tante kann ich wirklich nicht Rühmens genug machen. Sie war kein Vorzug, kein Verdienst, keine mühsam errungene Selbstverleugnung, o nein, sie war schlichte und überzeugende Natur, die auch mich überzeugte.

Daß ich morgens auf den Kaffee verzichtete und das Geld für die mir zustehenden zwei Semmeln in die Tasche steckte, um es in Theaterbilletts anzulegen, fiel schließlich auf mich selber zurück, und wenn die Tante um zwei Uhr mittags den Hunger[78] meines noch nüchternen Magens nicht immer zu stillen vermochte, so war das meine Schuld und nicht die ihre. Zudem standen meistens irgendwo in der Küche kalte Kartoffeln, an denen man sich schadlos hielt, während man vorgab, daß man sich gründlicher waschen müsse und nur darum den Riegel vorgelegt habe. Das Schlimmste, was einem passieren konnte, war, daß die spätere Abendmahlzeit überschlagen werden mußte, weil das Material für die dazu gehörigen Bratkartoffeln sich in rätselhafter Weise verringert hatte. Im »Überschlagen« von Mahlzeiten war die gute Tante sowieso Meisterin. Sie wies gern auf die Vorteile hin, die die Vereinigung von Vesper und Abendbrot für die menschliche Gesundheit mit sich bringt, sie fand auch, daß kalter Kaffee schön mache und daß gewärmter mit einer guten Schnitte Feinbrot dazu ein Souper von fünf Gängen förderlich zu ersetzen imstande sei.

Und was das Hungern betraf, so hatte die gute Tante sicherlich recht, wenn sie sagte, daß ein Junge von dreizehn Jahren, der mitten im Wachstum stehe, überhaupt nicht satt zu machen sei.

Damit tröstete ich mich und gedieh vorzüglich. Es kann also so schlimm nicht gewesen sein.

Quelle:
Sudermann, Hermann: Das Bilderbuch meiner Jugend. München, Wien 1981, S. 58-79.
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