Neuntes Kapitel

Weibliches, Allzuweibliches

[131] Und wiederum tat eine neue Welt sich vor mir auf.

Was dort in Elbing bei allem Gedeihen dumpfe Gewissensnot und wachsende Revolte gewesen war, wurde hier zu Behagen, Gutwilligkeit, Sich-umhegt-wissen und dem täglich erneuerten Glück, am rechten Platze zu sein.

Ein Haus, in dem Frieden, Herzensbildung und zarteste Rücksichtnahme herrschten, tat sich mir auf. Kleinbürgerlich in seinen Formen, doch verklärt durch die Güte, die jeder dem anderen entgegenbrachte und von ihm als selbstverständlich zurückempfing.

In der Klasse stand ich meinen Mann. Zwar fehlte mir viel, und die Sinus- und Kosinusscherze waren so einfach nicht, wie ich sie mir vorgestellt hatte. Aber die deutschen Aufsätze dienten als Rückhalt und hatten mir bald den Platz erobert, den ich mir wünschte. Als einer davon bei der Rückgabe zur Verlesung gelangt war, sagte ein Kamerad nach Schluß der Stunde: »Mensch, wo hast du das her? Das war ja beinah wie aus der ›Gartenlaube‹.«

Ich glaube nicht, daß ein Lob mich jemals so stolz gemacht hat wie dieses.

Die Stelle des Musterschülers, die in Elbing Claaßen I innegehabt hatte, war einem ehemaligen Heydekrüger zugefallen, dem Sohn eines Steuerkontrolleurs, der einst die Maische der väterlichen Brauerei überwacht hatte und meinen Eltern gut Freund gewesen war. Gustav Schulz hieß er und war ein stiller, anspruchsloser kleiner Bursch, von jedem Kneipenwesen, aber auch von jedem Strebertum gleich weit entfernt. Daß er die besten Extemporalien machte, verstand sich von[132] selbst, und niemand neidete sie ihm, ebensowenig wie er mir den deutschen Aufsatz neidete.

»Wenn er nur wollte, würde er uns alle in die Tasche stecken«, hat er später einmal zu meiner Mutter gesagt, als ich durch die Prima auf dem Blumenboot junggrünender Libertinage segelte.

Oh, ich wollte schon! Ich bin niemals ein Faulenzer gewesen, aber der Verführungen waren zu viele. Zu viele der süßen Mädelchen, die auf dem Trottoir der »Hohen Straße« ihren Abendspaziergang machten, hätten meine Abwesenheit als eine Kränkung betrachtet. (Sie promenieren noch heute, wie ich unlängst festgestellt habe, und sie sind noch genau so süß wie damals, aber keine mehr schaute sich nach mir um.) Und dann: Wären die nächtlichen Bierreisen ohne meine Führung von statten gegangen, wie hätte ich – nein, davon später.

Fürs erste saß ich bieder in der Ecke des schmählich kalt werdenden Ofens und büffelte Nacht für Nacht, denn das Examen, das vor dem Übergange nach der Prima von uns gefordert wurde, wollte auch von mir, dem Außenseiter, in Ehren bestanden sein.

Ich glaube nicht, daß für die Wissenschaft sehr viel dabei herauskam. Es war wohl mehr das Verlangen, mich des vom Himmel gefallenen Glückes würdig zu erweisen, das mich in den Kleidern hielt bis an den Morgen. Und dazu gesellte sich der Lebensdrang, der so lange mühsam unterdrückte, der, alle Regeln des Vernünftigen sprengend, den ordnungsmäßigen Bettschlaf zum überflüssigen Ballast warf.

Zwischen zwei und drei Uhr morgens gab es für die Fleißigen eine Extrabelohnung, um derentwillen allein das Aufbleiben sich lohnte. Dann, wenn vom Bäcker die Butterwecken glühheiß aus dem Ofen geschoben wurden, fanden wir uns zu fünfen oder sechsen – nicht selten bei zwanzig Grad Kälte – vor dem geschlossenen Bäckerladen ein und polterten so lange, bis ein verschlafener Lehrjunge uns das noch kaum anzufassende[133] Gebäck zum Guckfenster hinausschob. Und so verschlangen wir es, ohne daß der Magen sich wehrte. Zum Nachspülen daheim noch ein Wasserglas mit eben aufgebrühtem Kaffee, und dann sollte es weitergehen.

Aber der Kopf wollte nicht mehr. Zwischen Wand und Ofen gab es eine immer heiß bleibende Stelle – dieselbe Stelle, von der in anderen Fällen die Dackel ohne ausgiebige Haue nicht zu vertreiben sind –, da wurde er hineingesteckt und durfte Ausruh halten, zuerst bis um halb fünf die Dragoner ihren Weckruf in die Finsternis hinaustrompeteten – und dann immer so weiter, bis in der Winterdämmerung das Frühstück plötzlich auf dem Tische stand.

Das nannte sich dann: Die Nacht durchgearbeitet haben.

Aber so reckenfrisch war der jugendliche Körper, so sprungfedergleich der unverbrauchte Geist, daß selbst dieser Unfug keine schädigenden Folgen hatte. Und die Schulstunden verrannen in flotter Regsamkeit, als hätte ich die Nacht über geruhsam in den Federn gelegen.

Meine Mitschüler hatten im allgemeinen nichts gegen mich einzuwenden. Ich war kein Augendiener und kein Spielverderber und half und ließ mir helfen, wie das Gesetz der Gegenseitigkeit es mit sich brachte.

Nur zweie gab es, die mich von der Stunde meines Eintritts an mit scheelen Augen betrachtet hatten und kein Mittel unversucht ließen, die Klasse gegen mich aufzuputschen. Das waren die, die mir aus alten Zeiten nahestanden, meine Heimatsgenossen, die Gespielen meiner Kindheit, mit denen ich so nach Jahren wieder zusammentraf: Louis Damerau und Albin Dobinsky.

Offenbar hatten sie erwartet, daß von neuem eine trübe Flut des Hänselns und Verhöhnens über mich ausgegossen werden könnte, und waren tief enttäuscht, als niemand sich willens zeigte, mit ihnen gemeinsam gegen mich loszugehen.

Und dann versuchten sie es auf eigene Faust. Als es mir eines[134] Nachmittags geglückt war, mich bei irgendeiner Versteinerungsfrage in der Vorgeschichte der Bärlappgewächse bewandert zu zeigen – ich glaube, der »Kosmos« trug wie an vielem, auch hieran die Schuld –, da erklärte Dobinsky, das gehe nicht mehr so weiter, ich müsse geduckt werden, und wenn niemand sonst Spaß daran habe, dann werde er selber sich der Mühe unterziehen.

Nach Schluß des Unterrichts ließ er mich auffordern, noch ein weniges dazubleiben.

Ich wußte, was das bedeutete, und daß es nun aufs Ganze ging. Wenn ich auch kein Knirps mehr war, wie einst auf der Tertia, als ich jede Keile hilflos in Empfang nehmen mußte, sondern ein geschmeidiger und langgestreckter Bursch, der sich im Notfall wohl zu wehren vermochte, so war doch nicht daran zu denken, daß ich einem baumlangen Muskelmenschen, wie jener es war, würde standhalten können.

Die Klasse leerte sich; nur wenige, die auf das Schauspiel neugierig waren, blieben zurück.

Dobinsky trat mir entgegen und strich sich die Ärmel hoch wie ein Fleischer.

»Was willst du eigentlich von mir?« fragte ich.

»Das wirst du gleich sehen«, sagte er, kriegte mich an der Brust zu packen und warf mich der Länge nach über den nächststehenden Schultisch.

Ich zappelte, und er versuchte, mich mit den Knien niederzudrücken. Da fuhr ihm von unten her meine Faust ins Gesicht und wieder und immer wieder. – Warmes Blut rann mir über die Augen – ob es meines war oder seines, das wußte ich nicht – ich stieß nur blindlings drauflos, als gälte es alle die Missetaten zu rächen, die ich seit undenklichen Zeiten von ihm erlitten hatte.

Und siehe, der eiserne Schraubstock seiner Fäuste lockerte sich, die Last seines Körpers hob sich von mir, und als ich die Augen wischend mich aufrichtete, sah ich ihn gegen das Fensterbrett[135] gelehnt, wie er blasend und prustend und von den anderen betreut, das blutüberströmte Gesicht zu reinigen versuchte.

Von diesem Tage an hatte ich Ruhe. Auch Louis Damerau wurde betulich, und wenige Monate später verschwanden sie beide aus meinem Gesichtskreis. Der eine wurde Kaufmann und soll in Moskau gestorben sein, von dem anderen, der die sogenannte »mittlere« Gerichtskarriere einschlug, habe ich nichts mehr gehört.

Der dritte im Bunde – ich habe ihn Hallgarten genannt – war, als ich Ostern zur Prima kam, auf dem Gymnasium gerade mit dem Abitur fertig geworden. Als ich ihn bei der Heimfahrt auf dem Memeldampfer traf, trug er die rote Mulusmütze, stand also himmelhoch über mir.

Aber auch ich hatte mein kleines Examen nicht ruhmlos bestanden. Eine Begebenheit daraus gab mir Grund zu berechtigtem Stolze.

Wenn ich auch das meiste leidlich nachgearbeitet hatte – selbst die böse Trigonometrie barg keine Geheimnisse mehr –, so war ich doch zufällig in Geographie »Renonce« geblieben. So sagten wir, um der schrankenlosen, durch keinen Anflug von Wissen getrübten Ignoranz vollklingenden Ausdruck zu geben.

Eines Tages in der Geschichtsstunde sagte der Lehrer, der wie üblich beide Fächer zugleich versah, ganz unverhofft: »Ich werde heute die Geographieprüfung abhalten.«

Der Schreck fuhr mir heiß durch die Glieder, denn ich hatte gehofft, in den vierzehn Tagen, die bis zu dem voraussichtlichen Zeitpunkt noch fehlten, auch diese Lücke ausfüllen zu können. Je näher die Fragemarter mir auf den Leib rückte, desto stärker fühlte ich mich von Angstfieber geschüttelt, und als ich ihr wirklich standhalten mußte, da saß ich stocksteif und stierte mit verschwommenen Blicken schweigend ins Leere.[136]

»Da Sie sonst ein ordentlicher Schüler sind«, sagte der Prüfende, »so will ich annehmen, daß eine augenblickliche Verwirrung schuld ist, und werde Sie morgen mittag in meiner Wohnung erwarten, um Sie noch einmal abzufragen.«

In mir jubelte es. Von vier Uhr nachmittags bis acht Uhr früh – sechzehn geschlagene Stunden – da mußte sich so ein lumpiges Nebenfach doch erledigen lassen.

Also los! Mit Südamerika begann ich, denn in den Anden war ich einmal mit meinem Freunde Alexander von Humboldt sehr zu Hause gewesen. Um sieben ging ich zu den Vereinigten Staaten über, um zehn war Afrika abgetan, um eins fuhr ich in Turkestan und in Tibet spazieren, als hätte Sven Hedin, den es damals noch gar nicht gab, mich mit auf Reisen genommen. Die heißen Semmeln schenkte ich mir, und in das Ofenloch kroch ich noch weniger. Aber als die Dragoner Reveille bliesen, da gab es in den Ländern unserer heutigen und künftigen Feinde keinen Fluß und keine Stadt, die ich nicht herzählen konnte.

»So«, sagte ich um sieben und klappte den Atlas zu, »wenn nicht zufällig auch die Geographie des Mars von mir verlangt werden sollte, dann wird die Chose schon gehen.«

Und sie ging.

»Merkwürdig«, sagte der Oberlehrer nach halbstündiger Prüfung, »ich hätte es nicht für möglich gehalten, daß solche Zerstreutheiten wie Ihre gestrige vorkommen könnten.« –

Diese Geschichte erzählte ich – vielleicht noch etwas ruhmrediger als hier – auf dem Dampfboot meinem Freunde Hallgarten.

»Ich wette, du bist ein elender Schwindler, Sudermann«, sagte er, »und wenn du es nicht bist, dann laß dir von mir drei Fragen vorlegen.«

»Bitte schön«, sagte ich gelassen.

Da wurde er stutzig und sann nach, um sie recht schwierig auszugestalten.[137]

Die erste lautete: »Wie heißt der Hafen von Mekka?«

»Dschedda«, sagte ich.

Die zweite lautete: »Welches ist die Südspitze des Plateaus von Dekhan?«

»Das Alidschiri- und das Neladschirigebirge«, sagte ich.

Da verzichtete er auf die dritte, und als ich vorschlug, daß er sich nun seinerseits von mir drei Fragen vorlegen lassen solle, fand er, auf dem Verdeck sei es im April noch recht kühl, und er wolle einmal in die Kajüte gehen, sich die Füße zu wärmen.

Daß ich dieses dumme Frage- und Antwortspiel durch fast fünfzig Jahre in der Erinnerung behalten habe, beweist, wie wund mein Selbstgefühl und wie groß mein Triumph diesem Menschen gegenüber war, der mir noch manches Mal in hämischer Herablassung gegenübergestanden hat, bis er es vorzog, mir unverhüllte Feindschaft zu zeigen.


Nun folgten zwei glückliche Jahre, und das Herz wird mir weit, wenn ich ihrer gedenke. Jahre, nicht des Leichtsinns – dazu drang allzuviel des Großen, Neuen, Erlebenswerten auf mich ein – aber Jahre sich streckender Kraft und frohbewußten Gedeihens, mit Lernen nur so weit ausgefüllt, daß die Seligkeit des täglichen Flanierens und des nächtlichen Bummelns dadurch nicht beeinflußt wurde.

Wie eine Wiese im Juni, auf der die Glücksblumen so hoch stehen, daß man nicht nötig hat, sich nach ihnen zu bücken, so breitete die Jugend sich vor mir aus ... Wohlwollen, Kameradschaft, Freundschaft und nicht zum mindesten verheißende Liebe, wohin das Auge sich wandte ... Eine beträchtliche Dosis von bösem Gewissen war auch dabei, aber das galt nur als Würze, um dem Leben den geheimnisvollen Geschmack des Regellosen zu verleihen.

Die Pension der neuentdeckten Verwandten hatte ich verlassen, weil deren zarte Gesundheit mit der Sorge um hoch aufschießende[138] Unbändigkeit sich nicht vertrug. Aber ich blieb in Verkehr mit ihnen und fand in ihrem Hause stets eine vertraute Zuflucht.

Das Heim, in das ich übersiedelte, war das Pensionat, das die Witwe des früheren Realschuldirektors Tagmann für Schüler und Schülerinnen der höheren Lehranstalten unterhielt. Hier hausten Männlein und Weiblein in Frieden und Freude dicht beisammen. Hier war das biblische Segenswort »Kindlein, liebet euch untereinander« ununterbrochen in Geltung. Wie Jungens und Backfische eben einander lieben können. In Scheu, in Unschuld, in Angst, sich zu verraten, von holden Anzeichen, denen niemals Gewißheit folgte, umgeben wie von rosenfarbenen Schleiern, untertauchend in ein Meer der Träume und der Hoffnungen, die in ein Nichts zerflossen, wenn man ihnen Resultate zu geben versuchte.

Zwei Zimmer waren den Jungen vorbehalten. In dem ersten – kleineren – wohnte ich mit meinem Stubenknochen, einem älteren Primaner des Gymnasiums, das größere war gefüllt mit einem Gekribbel von Kleinzeug, für das in der Stunde des Schlafengehens allerhand Bankenbetten aufgeschlagen wurden.

Dahinter begann das Reich der Mädchen, durch eine nie verschlossene Tür von uns getrennt.

Die Mahlzeiten nahmen wir gemeinsam an dem großen Familientische. Er war nicht immer reich besetzt – im Gegenteil! Aber wer hätte so viel hungrige Mäuler satt machen können? Zudem halfen die Freßkober, die in ununterbrochener Folge – heut für den, morgen für jenen – vom Postboten abgegeben wurden, erfolgreich mit, das andere Bibelwort: »Was ist das unter so viele?«, ebenso ad absurdum zu führen, wie das christliche Wunder es tat.

Weniger als sie waren die Tischgespräche dazu angetan, die Mängel des Menüs vergessen zu machen. Sie bestanden im großen ganzen aus einem nicht immer sehr dringenden »Bitte,[139] greifen Sie doch zu«, von seiten unserer Pensionsmutter und einem bescheiden ablehnenden »Oh, ich danke«, wenn unser Appetit sich gerade zu Höchstleistungen bereit fühlte.

Und doch hoben uns die Mahlzeiten zum Gipfel unseres Glückes, denn bei ihnen saßen wir unseren Flammen in vertrauter Nähe gegenüber und durften uns satt sehen an den heißgeliebten Zügen, die uns im Traum der Nächte umgaukelten.

Ich sage hier immer wieder »wir« und »uns«; doch eigentlich darf ich nur von mir selber sprechen, denn die Insassen der großen Stube waren noch viel zu grün, um für das Ewigweibliche Verständnis zu haben. Mein Stubenknochen aber liebte mehr das Reelle. Das Reelle, das mit der Kellnerin beginnt und mit dem Hang fürs Küchenpersonal noch lange nicht endet.

Er hatte auf diesem Gebiet schon erkleckliche Er folge zu verzeichnen, und das kleine Haus mit den grünumrahmten Blinkfenstern, an denen wir mit scheuem Seitenblick vorübergingen, während sich hinter den glattgespannten Erbstüllgardinen morgens, mittags und abends die gleichen verheißungsvollen Pudermäntel zeigten, hatte für ihn keine Geheimnisse mehr.

Und manchmal umstand ihn auch das Gekribbel des Nebenzimmers ehrfurchtsvoll lauschend, wenn er seine Erfahrungen im Liebesleben – wie er es verstand – mit der Würde unangefochtener Autorität belehrend zum besten gab.

Ich selber fühlte bei seinen Erzählungen stets einen kleinen Herzstich, denn mein nur theoretisches Wissen von diesen Dingen wäre auch dann beschämend gewesen, wenn er nicht oft mit einem halb höhnischen und halb ermunternden Seitenhieb auf meine jugendliche Ahnungslosigkeit geschlossen hätte.

Oh, meine Lieben, dies sind keine zweideutigen Scherze, und[140] mancher junge Bursch, der sich jahrelang als ein Verworfener fühlt, weil Mannheit in ihm die Flügel regt, rast glatt in sein Verderben, wenn ihm nicht zu richtiger Zeit ein Kumpan begegnet, der beispielgebend seinen eigenen Instinkten derb und gesund die Zügel schießen läßt.

Aber meine Stunde hatte noch nicht geschlagen, und was auch fleischlich in mir vorgehen mochte, ich sublimierte es zu Empfindungen, die meine Seele segneten, während sie für mein Nervenleben eine Überempfindlichkeit schufen, die alle Wonnen und alle Qualen, alle Angst und alle Tollheit dieser Jahre in mir verdreifachten.

Tollheit vor allem. Denn nun war ich nicht mehr der zaghaft mitzottelnde Jämmerling, als der ich früher an den Abenteuern meiner Genossen teilgenommen hatte. Jetzt wurde ich selbst eine Art Rädelsführer bei allen Gefahren, in die unser Lebensdurst uns hineintrieb.

Daß Kneipen mit Relegation bedroht war, das wußten wir alle. Es genügte, in der offenen Haustür eines Gasthauses gesehen worden zu sein, um in eine hochnotpeinliche Untersuchung verwickelt zu werden.

Aber das hinderte uns nicht, uns ein paarmal wöchentlich, am Sonnabend ganz sicher, in irgendeinem verborgenen Winkel zu jauchzendem Gelage zusammenzufinden.

Studentische Manieren nachzuäffen, wie es sonst üblich ist, vermieden wir. Und so war es uns vergönnt, ohne den öden Schematismus stumpfsinniger Trinksitten, der aus freien, frohen Jungen freche Sklaven und plumpe Despotenmacht – ich werde noch später davon zu reden haben –, uns unseres aufblühenden Daseins zu freuen.

Hatten wir etwa um Mitternacht uns das nötige Quantum zu Gemüte geführt, um uns als Halbgötter zu fühlen, dann begann erst das eigentliche Fest, die Bierreise.

Rudelweise zogen wir von Wirtshaus zu Wirtshaus, von Spelunke zu Spelunke, taten schön mit den Kellnerinnen und[141] prügelten uns mit den Gästen. Waren wir Sieger geblieben, so schloß sich daran oft ein großes Versöhnungsfest, bei dem wir uns mit Heringsbändigern und Barbiergesellen in den Armen lagen.

Da ich mich damals schon manchmal rasieren ließ, so konnte es sich ereignen, daß mich eines Tages der bedienende Bartkratzer mit einem traulichen »Du« anredete und mir den Vorschlag machte, mich bei seinem nächsten Ausgang auf meiner Bude zu besuchen.

Ich war so benommen durch das Glück der neuen Freundschaft, daß ich nicht den Mut fand, ihn mit einer Grobheit abzutun; und da er zum Überfluß auch meine Adresse erfahren hatte, trat er richtig kurze Zeit darauf mit silbernem Tändelstöckchen und frischgeschmalzten Locken bei mir an. Aber glücklicherweise hatte ich meinem Stubenknochen das neue Leid geklagt, und dank seiner Dazwischenkunft befand sich mein Gast bald wieder im Vollgenuß der frischen Luft.

Doch nicht immer liefen unsere Begegnungen in jähe Freundschaft aus. Waren wir rabiat gesonnen, dann galt auch für uns die alte Revolutionsparole: »Blut muß fließen knüppel-, knüppeldick.«

Und dann geschah es wohl, daß der Wirt nach der Polizei schrie.

Zwar der alte Wachtmeister Ploksties kannte uns schon, und wenn wir ihm eine Seidel und eine Zigarre spendierten, so kam es ihm auf einen kleinen Landfriedensbruch nicht an. Aber einmal geriet ein Neuer unversehens in so ein Blutbad hinein und erklärte uns sämtlich für arretiert.

Da war der Scherz am Ende, und die trotzigen Raufbolde verwandelten sich blitzschnell in winselnde Jammerlappen. So kamen wir noch mit dem blauen Auge davon, das wir dem Gegner geschlagen hatten, aber die Lust an solchen Rempeleien war uns für lange versalzen.

Zudem begannen zartere, wenn auch nicht minder verbotene[142] Freuden, die herrlichen Offenbarungen der Bestialität alsbald sieghaft zu verdrängen.


Der Winter kam heran, und Herr Dubois machte den hohen Besuchern der höheren Schulen, wie auch einer verehrlichen jungen Kaufmannschaft die ergebene Anzeige, daß seine rühmlichst bekannten Tanzzirkel demnächst von neuem eröffnet werden würden.

Um Tanzstunden zu nehmen, bedurfte es der direktorialen Erlaubnis, und diese wurde in Anbetracht der verlorenen Lernzeit nur ungern und selten erteilt, auch später durch verdoppelte Strenge leicht wieder verleidet.

Da ich ohnehin im Taumel des Verbotenen dahinlebte, fiel es mir nicht schwer, auch das Tanzenlernen als Geheimbetrieb in Angriff zu nehmen – freilich auf die Gefahr hin, »geschaßt« zu werden, falls das Verbrechen ans Tageslicht kam.

Ihr Tangobeflissenen und Jimmykünstler werdet euch kaum vorstellen können, mit welch inbrünstiger Hingabe wir uns im Polkaschritt und im Rheinländer die Meisterschaft erkämpften. Die für Ballettleistungen ganz besonders Begabten wagten sich sogar an den »Galopp mit Touren«, und ich muß sehr bitten, nicht zu lächeln, wenn ich verrate, daß das Chassieren in der Diagonale quer durch den großen Kasinosaal eine Sache war, um die ich von den Mitstrebenden heiß beneidet wurde. Im übrigen war ja auch immer schon die alte holde Walzerwiege da, die, geschaukelt von den Sehnsüchten der Seele und des Fleisches, uns verzückten Lehrlingen der Liebe den ersten Traum seligen Nahseins gab.

Die Sitte wollte es, daß die mit Vornehmheit und Glücksgütern Gesegneten unter den Eltern unserer Tanzschwestern je einen Hausball veranstalteten, mit dem die ersten gesellschaftlichen Erfolge der in die Welt hinaustretenden jungen Tochter gleichsam ihre Weihe erhielten.

Zu solchen Bällen wurden die besseren Herren aus der Reihe[143] der Tanzschüler, also vor allem die Primaner, regelmäßig hinzugezogen, und so fand ich alsbald meinen Arbeitstisch nicht weniger mit gedruckten Einladungskarten bedeckt als etwa ein Gesellschaftslöwe des Berliner Westens während der Hochsaison. Und es konnte vorkommen, daß ich an den sechs Morgen, die eine Arbeitswoche leider nur hat, aus dem Frack in die Alltagsjacke schlüpfte, ohne mein gutes Bett auch nur mit einem Blicke gestreift zu haben.

Das menschliche Gedächtnis ist undankbar, und die meisten jener Feste sind mir daraus entschwunden; aber das eine wird als Inbegriff aller irdischen Herrlichkeiten darin wohnen bleiben bis an mein Ende.

Also, Kinder, also, Kinder, habt ihr eine Ahnung, was die Konditorei von Decomin war? Nein, könnt ihr nicht. Ihr wißt ja überhaupt nicht mehr, wie es in einer richtigen Konditorei bis Anno 14 aussah. Nun denkt euch aber, alles, was ihr bei Schilling, bei Kranzler, bei Rumpelmeier – und wie die über Deutschland verstreuten Paradiese sonst noch heißen mögen – je geschaut, begehrt und geschleckt habt, ins Ungemessene, nicht zu Begreifende gesteigert. Lest meine schon zitierte »Reise nach Tilsit«. Da habe ich sie zu schildern versucht. Ach, leider! Sie läßt sich nicht schildern.

Und die Tochter dieses Zauberreiches war meine Lieblingstänzerin, und eines Tages war ich darin zu Gast geladen.

Ich besinne mich auf einen Turm aus Makronenmasse mit einer nicht näher zu definierenden Sahnenfüllung, ganz und gar von Zuckerschleiern umsponnen. Ich besinne mich auf gewisse Törtchen, mit einer Creme von Süßmandelbutter überwölbt, wie ich sie später in Paris gegessen und für eine liebe Freundin über die Grenze geschmuggelt habe. Ich besinne mich dunkel noch auf tausend andere süße Dinge, für die in unserem Magen immer noch Platz war, ob wir uns gleich an den in ihrem Gefieder servierten Fasanen, an den Puten und Rehrücken und dem rosigen Yorkschinken, zu[144] dem eine geheimnisvolle Purpursoße gehörte, längst schon satt gegessen haben mußten.

Und zu dem allen denkt euch liebe, liebe Jungmädelchen, bei denen man Hahn im Korbe war, mit denen man ulkte und koste – das vielverbergende Wort »Flirten« gab es noch nicht – bis an den mahnenden Morgen, und sagt, daß ich dazumal nicht im Schlaraffenlande gewesen bin! –

Daß unter diesen Umständen die pflichtgemäßen Schularbeiten Schund- und Schluderware werden mußten, liegt auf der Hand. In der Klasse benutzte ich die weniger belangreichen Stunden, um mich hinter der gedankenvoll zur Stirn geführten Hand nach Kräften auszuschlafen. Und wenn mich auch angesichts der Gewaltigen – selbst in kritischen Momenten – oft ein seliges Dröseln überfiel, in dem Walzerklänge mit Macaulay oder der Henriade um die Vorherrschaft stritten, schließlich schlüpfte ich immer noch durch. Aber die Präparationen waren jämmerlich und mußten durch kecke Stegreifleistungen notdürftig ersetzt werden.

In den lebenden Sprachen ging das ganz gut. Latein aber war meine Schwäche geblieben, und eine Seite Sallust hätte, wenn man von den Lettern absah, ebensogut Arabisch sein können.

Unser alter Lateinlehrer machte uns Gott sei Dank die Arbeit bequem. In jeder Stunde kamen regelmäßig drei Mann an die Reihe, und da er der Platzordnung folgte, so ließ sich der Tag, ja, die Minute genau berechnen, in der ein jeder zum Vortrag aufgerufen wurde.

Ich war entschlossen, wenn meine Stunde geschlagen hatte, vor Mit- und Nachwelt zu glänzen. Aber in den Sternen stand es anders geschrieben.

Um sieben Uhr früh war ich nach Hause gekommen, und als ich um acht in der Klasse saß, hatte ich noch nicht einen einzigen Blick in die »Pliete« getan.

Die erste Stunde aber war Latein. Eine noch nie erlebte Katastrophe[145] stand mir bevor. Was in jener Geographieprüfung geschehen war, konnte sich schwerlich wiederholen, denn in einer Nacht läßt Latein sich nicht lernen.

Als einzige Rettung winkten mir noch die Minuten des Morgengebetes; halfen sie mir nicht, dann mußte das Unheil seinen Weg gehen. Hinter dem Rücken eines stämmigen Vordermannes versteckt, versuchte ich rasch des mir zufallenden Pensums Meister zu werden. Aber die hirnverwirrende, gedankenlähmende Hitze, die mich zeit meines Lebens in den entscheidenden Augenblicken bedroht hat, warf mir rote Schleier vor die Augen und verwandelte die Buchstaben in tanzende Fratzen.

Der Gesang war vorüber, doch von dem Gebet hatte ich noch kein »Amen« gehört, da plötzlich schallte durch den weiten Saal – mein Name.

Mit einem kleinen Aufschrei fuhr ich hoch. Buch und Pliete entfielen meinen Händen.

Mein erster Gedanke war: »Jetzt blüht dir deiner Sünden Lohn, jetzt sollst du vor der ganzen Schule zur Rechenschaft gezogen werden.«

»Vortreten«, hörte ich vom Podium der Lehrer her etliche Stimmen.

Eine Gasse bildete sich, und taumelnd, halb bewußtlos, halb blind vor Entsetzen, schritt ich der Länge nach durch den Saal, bis ich vor dem Katheder stand, auf dem der Direktor meiner harrte.

Das Strafgericht konnte sich vollziehen.

Und es vollzog sich ungefähr mit folgenden Worten:

»Von den Werken unseres größten Dichters, die die Schillerstiftung alljährlich den höheren Lehranstalten für ihre besten Schüler zur Verfügung stellt, ist in diesem Jahre ein Exemplar auf die Realschule zu Tilsit gefallen. Das Lehrerkollegium hat beschlossen, Ihnen, mein Lieber, dieses Exemplar mit Inschrift als Belohnung für Ihren treuen Fleiß und Ihre durch[146] keinerlei Leichtsinn geschmälerten Leistungen zu überreichen. Fahren Sie so fort, damit Sie der Anstalt auch weiterhin zur Freude gereichen.«

Vier der bekannten goldgeschmückten Kalikobände senkten sich zu mir herab, dann noch ein Händedruck, und ich durfte zurücktreten.

Eine Viertelstunde später sagte der Oberlehrer: »Wir werden nun also von Ihnen erfahren, mein lieber Sudermann, wie sich nach den Worten unseres Sallust der glatte Catilina in einer so verzwickten Situation weiter verhielt.«

»O mein Gott«, dachte ich, »welch ein Wunder rettet mich vor dieser doppelten Schande?«

Aber das Wunder war schon da, und es war gar kein Wunder, sondern einfache Folge des eben Geschehenen.

»Nun, nun, ich sehe schon«, fuhr er fort, »wir wer den heute nichts aus ihm herauskriegen! Lassen wir ihn in der Betäubung seines Glückes. Der Folgende!«

Und so war ich auch diesmal gerettet. –

Aber bald darauf ereilte das Schicksal mich doch.

Unser Direktor hatte mehrere hübsche Töchter, darunter eine mit Namen Elise, der ich auf einer Anzahl von Tanzgesellschaften begegnet war und eine heiße Verehrung entgegentrug.

Ein Gedicht von ihrer Hand, das ich auf verschwiegenen Wegen von ihr eingefordert hatte, liegt neben mir in dem »Poesiealbum«, das mich mit all den Erinnerungszeichen an jene goldene Zeit treu durch das Leben geleitet hat, und malt mir ein weiches, unregelmäßiges Gesichtchen mit üppigem Munde und leidenschaftlichen Augen.

Diese meine geheime Flamme muß ihrem Vater wohl von unserem gelegentlichen Zusammensein erzählt haben, denn als ich eines Tages in der Literaturstunde über den großen Epiker Ernst Schulze und seine »Bezauberte Rose« unerwartete Auskunft gegeben hatte – oh, meine deutschen Dichter kannte[147] ich! – da nickte er nicht in beifälliger Genugtuung, wie es sonst wohl der Fall war, sondern sagte mit jäh aufblitzender Strenge: »Sudermann, stehen Sie auf!«

Da wußte ich alles. Denn Aufstehen gab es auf der Prima nur, wenn ein Gewitter sich austoben wollte.

»Haben Sie etwa Tanzstunden genommen?«

»Ja, Herr Direktor.«

»Wissern Sie nicht, daß dazu nach den Schulgesetzen meine Erlaubnis erforderlich ist?«

»Ja, Herr Direktor.«

»Warum haben Sie sie also nicht eingeholt?«

»Weil ich mir denken konnte, daß ich sie nicht erhalten würde.«

Es war mein Glück, das mir diese dumm-dreiste Antwort eingab.

Über sein Gesicht huschte für einen Augenblick das Schmunzeln gütigen Verstehens, das uns allen der Himmel war. Wie rasch es auch wieder von Strenge verschlungen wurde, ich hatte es wohl bemerkt, und der Alp hob sich von meiner Brust. Ich würde nicht mehr »geschaßt« werden, das wußte ich nun.

»Ich will in diesem Falle von einer exemplarischen Bestrafung absehen«, sagte er, »denn Ihr freimütiges Geständnis entwaffnet mich; aber ich erwarte von Ihnen, daß Sie diese Verfehlung durch doppelten Eifer wiedergutmachen werden.«

»Jawohl, Herr Direktor.«

Gesegnet sei er im Grabe für seine Großmut. Hätte er Ernst gemacht, meine Zukunft wäre doch noch in die Brüche gegangen.


Es kommt die Zeit im Jugendleben, da Unschuld ein Verschulden wird.

Schon lange konnte ich meinen glücklich erworbenen schlechten Ruf nur mit Mühe aufrechterhalten. Im Notfalle[148] spielte ich den blasierten jungen Lebemann, dem nichts gut genug ist. Aber diese Rolle drohte an der hie und da aufsteigenden Skepsis meiner Gefährten zu scheitern, besonders, da ich mir bei argwöhnischer Prüfung das Stottern und Rotwerden noch nicht ganz abgewöhnt hatte.

Am meisten schämte ich mich vor meinem Stubenknochen, der behauptete, ich finge mittlerweile an, alte Jungfer zu werden. Um diesen Charakter zu betonen, hatte er mir zu Weihnachten ein Schoßhündchen aus Papiermaché geschenkt, und wenn einer aus dem Gekribbel zur Vesper das »Storchnest« benannte Schmalzgebäck heimbrachte, verlangte er, daß es sorgfältig vor mir versteckt werden müsse, da alles, was mit dem Storch zusammenhinge, mein jungfräuliches Schamgefühl gröblich zu verletzen geeignet sei.

Diesem bedrückenden Zustande mußte ein Ende gemacht werden. Und eines Sonnabendnachmittags trat ich bei helllichtem Tage, begleitet von seinen Segenswünschen und denen der zwei größten des Gekribbels – die anderen waren nicht ins Geheimnis gezogen worden –, den schweren Weg nach dem kleinen Hause mit dem Spionspiegel und den grünen Fensterrahmen an, dessen Bild in den Geheimschränken meiner Seele schon längst herumrumorte.

Das Herz klopfte mir sehr, und beinah wäre ich im letzten Augenblick noch vorübergegangen; aber als ich mich vorsichtig umdrehte, gewahrte ich, daß ich aus dem Fenster meines Zimmers heraus mit Sorgfalt beobachtet wurde. Da gab es kein Zaudern mehr.

Mit Todesverachtung klopfte ich an.

In dem Spion erschienen zwei fressende Augen, und dann wurde mir aufgetan.

»Immer 'rein, junger Herr«, sagte im Dunkel des Hausflurs die Wartefrau, die in der Nacht »Pscht, pscht« zu machen pflegte, wenn ein Männerschritt in der hallenden Straße sich hören ließ.[149]

Und sie fuhr fort: »Die Irma und die Gertrude sind mit Madamchen in Jakobsruh zum Kaffeekonzert, aber die Elvira ist da.«

Damit stieß sie die Tür auf, die nach der rechten Seite führte.

Am Fenster saß in weißer, halboffener Nachtjacke eine Frauengestalt, die mir beim ersten Anblick recht mütterlich vorkam. Aus einem blassen, hübschen, etwas verquollenen Gesicht lächelten zwei wasserblaue Augen mir ein gleichmütiges Willkommen. Und dann gab es einen kleinen Schrei, über das runde Blondinengesicht mit der behaglichen Stupsnase breitete sich Flammenröte – und dann war sie draußen.

Ich hatte ein widriges Gefühl, als würde ich nun hinausgewiesen werden. Vielleicht, weil ich noch auf der Schule saß. Oder aus einem anderen Grunde. Wer konnte wissen?

Auf der Spiegelkommode stand ein porzellanener Mops mit weitgeöffnetem Rachen. Später einmal erfuhr ich, daß hier das »Handgeld« des Tages hineingeworfen wurde, das als glückbringend von allen gemeinsam verjubelt zu werden pflegte. Die Bilder des alten Kaisers und der Kaiserin hingen über dem Sofa und darunter ein gerahmter Spruch, der von irgendwelchen Zierden des deutschen Weibes handelte.

Mir wurde von Minute zu Minute bänglicher zu Sinn, und schon erwog ich den Gedanken, mich geräuschlos zurückzuziehen, da öffnete sich die Tür, und herein rauschte in schmelzübersätem Ballkleide die mütterliche Dame, auf die ich gewartet hatte.

»Ich habe mir bloß ein bißchen anziehen wollen, mein Härr«, sagte sie mit distanzschaffender Würde, »denn wänn man so sältenen Besuch hat, muß man ihn doch ein bißchen Ehre erweisen.«

Ich wußte nichts zu erwidern, und die Kehle wurde mir eng.

Ich, der ich mit einem halben Dutzend Kellnerinnen auf Du[150] und Du stand, der ich noch unlängst mit der blonden Ida im »Reichsadler« einen kolossalen Fez aufgeführt hatte, ich benahm mich wie ein schüchterner Schulknabe. Wie der kleine Hans Gehrt benahm ich mich, wenn die Frau Direktor ihn anredete. Vor keiner Fürstin hätte ich lächerlicher dastehen können als vor dieser Hetäre, die nicht einmal ein richtiges Deutsch sprach.

»Wollen wir uns nich ein bißchen bequem machen?« fuhr sie fort und ließ sich auf dem Sofa nieder, indem sie die Fülle des Schmelzkleides fächerförmig um sich her ausbreitete.

Ich setzte mich auf den Stuhl ihr gegenüber und legte die Mütze auf den Tisch.

Ihre Augen wurden schwärmerisch. »Achott«, sagte sie, »daß ich Ihnen mal kännenlärnen wirde, das hab ich mir char nich jedacht.«

»Warum gerade mich?« fragte ich erschrocken. Sollte mein Ruf als Bummler schon bis hierher gedrungen sein?

»Na, Sie jehn doch alle Tage morjens, mittags und abends bei uns voriber ... Härrchott, Härrchott, wo jehen Sie bloß immer mit die vielen Bicher hin? Sie jehn wohl aufs Biro?«

Sie wußte natürlich, daß ich ein Schüler war, aber sie wußte auch, daß wir bei Besuch ihres Hauses mit Relegation bedroht wurden, und darum hielt sie es für richtiger, sich dumm zu stellen.

»Und dann jehn Sie auch immer mit so nätten Meedchen auf die Eisbahn! Achott! Was sind das bloß fir nätte Meedchen!«

Und wieder wurden ihre Augen schwärmerisch.

»Auch im Theater hab' ich Ihnen schon jesehen ... Sie jehn wohl sehr järne ins Theater?«

Ich bejahte, diesmal streng nach der Wahrheit.

»Ich jeh' auch järn ins Theater ... Don Karlos und so ... Achott, was is die Prinzessin Eboli fir ein nättes Meedchen! ... Is nich wahr?«[151]

»O gewiß.«

»Ich les auch järn in de Bicher ... Ja, die ›Reiber‹, die hab ich auch jesehn ... Aber das von die ›Kabale und die Liebe‹, das hab ich bloß jelesen ... Achott, die arme Luise is so ein nättes Meedchen! ... Ich kann auch Limonade machen. Ich bin ieberhaupt fir die sießen Sachen.«

In diesem Stil sprachen wir weiter über die deutsche Literatur. Noch manche Frauengestalt, die mir teuer war, behauptete vor ihrem Urteil den Rang als »nättes Meedchen«, und jedesmal erhielten ihre großen, blaßblauen Augen denselben feuchtschwärmerischen Glanz.

Und dann erst, als wir auch Irmas und Gertrudens als »nätter Meedchen« teilnehmend gedacht hatten – »achott, was werden die bloß neidisch sein!« – wandten wir uns tapfer dem eigentlichen Zwecke meines Kommens zu. –

Ich habe im Verlauf des Winters auch Irma kennengelernt, selbst Gertrudens Vorzüge blieben mir nicht verschlossen; das Wesen des Weibes aber, und was es an Glück und Not, an Verwirrung und Gefahr einem Werdenden zu geben hat, wurde mir erst später von meinem Schicksal kundgetan.


In dem Gärtchen meines Elternhauses, in dem von Fliederbüschen und Kirschbäumen halb beschattet buntgesprenkelte Blumenrabatten unter der Pflege meiner Mutter dankbar gediehen, stand nicht fern der Straße, dem Zaun des Nachbargrundstücks angelehnt, eine weiße Bank.

Hier hatte ich mit Hilfe einer Getreideplane und eines Küchentisches mein Hauptquartier aufgeschlagen.

Und mit so viel Wissensgier und Arbeitsdrang war ich geladen, daß die langen Junitage nicht ausreichten, um ihrer Herr zu werden. Des Morgens saß ich schon um sechs in meinem Winkel, und wenn des Abends gegen zehn die Buchstaben zu verschwimmen begannen, dann zog ich noch auf den Kirchhof, um in der Spätdämmerung, ausgestreckt auf irgendeiner[152] fremden Bank – denn eine eigene Grabstätte hatten wir damals noch nicht – zu phantasieren und zu philosophieren und nebenher das Fürchten zu lernen – oder vielmehr das Nichtfürchten – denn um Mitternacht zwischen Gräbern zu liegen, war immerhin eine Kraftprobe.

Zu jener Zeit schrieb ich auch eine Novelle – oder »Arabeske«, denn dies galt mir als eine vornehmere Kunstgattung ...

»Was der Wind rauscht« hieß das Ding, und wenn ich es heute lese, bin ich mehr als über die Unbehilflichkeit meiner Äußerungsart erstaunt über den Gefühlsüberschwang, der – nach meiner Erinnerung – aus jedem noch so belanglosen Bildchen damals emporspritzte.

Mein ganzes Dasein war ein großer Hymnensang, ein Taumeln von Ekstase zu Ekstase, zugleich aber auch ein höchst praktisches Vorwärtswollen, und was ich an Büchern verschlang, wurde restlos dem Assoziationsstrom zugeführt.

Fürs Abitur zu büffeln, schien nicht mehr nötig. Und so glaubte ich, mich ohne böses Gewissen an Literatur und Philosophie und Religionswissenschaft – Strauß und Renan waren modern – schadlos halten zu dürfen.

In diese glückliche Reifezeit fiel das Erlebnis, das mich bis in die Grundfesten meines Wesens erschütterte.

Ein Freund unseres Hauses – ich will ihn unbenannt lassen – hatte ein Gut zu kaufen. Für sich oder einen anderen, das weiß ich nicht mehr genau.

Und weil ich zu jener Zeit in meinem Heimatsorte wohl gelitten war, so wunderte ich mich nicht, daß er eines Morgens vor unserer Türe hielt und mich aufforderte, ihn auf der Besichtigungsfahrt zu begleiten. Einen warmen Mantel müsse ich mitnehmen, denn wir würden wahrscheinlich den größten Teil der Nacht unterwegs sein.

Und so fuhren wir los.

Zwei, drei, vier Meilen, fünf Meilen – durch Gegenden, die[153] ich gerade vom Hörensagen kannte und die mir so fremd erschienen, als lägen sie auf dem Monde.

Endlich, um die Vesperzeit, landeten wir auf einem Gutshof, stattlich, von tiefroten Scheunen und Stallungen umstanden, mit einem Herrenhause, dessen einstöckige Front in schneeweißer Gastlichkeit aus Weinspalieren hervorsah.

Der Besitzer, ein älterer, breitbärtiger Recke, stand mit seinen Hunden zum Willkomm vor der Tür.

Und als die Männer sich die Hände geschüttelt hatten und mein Gönner einen abschätzenden Blick in die Runde schickte, der sein Wohlgefallen allzu lebendig verriet, da sagte der Hausherr mit spottendem Auflachen: »Sie denken wohl, daß das hier zum Verkaufe steht? Nee, mein Lieber, so 'n Schmuckkästchen kriegen Sie nicht in die Pfoten, aber hübsch ist das andere auch, nur brauchen wir noch eine Stunde, um hinzukommen.«

»Wenn man seit neun Uhr früh auf dem Wagen hockt«, sagte mein Gönner, »ist das nicht sehr verlockend – für mich nicht und für den jungen Mann auch nicht.«

Doch darin irrte er sich. Ich würde bis ans Ende der Welt gefahren sein, so gierig war ich nach neuem Erleben.

»Der Jüngling kann ja hier bleiben«, sagte der Hausherr, mir die Hand reichend, »aber Sie müssen mit. Kommen Sie 'rein. Unterdessen kann angespannt werden.«

Damit schob er mich in einen halbdunkeln Flur, in dem eine buntmiedrige junge Magd sich meines Mantels und meines Hutes bemächtigte. Er sagte ihr ein paar litauische Worte, worauf sie knicksend mich bat, ihr zu folgen.

Zuerst ging es eine Holztreppe hoch auf einen winkligen Bodenraum, in dem es nach Rauch und nach Mäusen roch, und dann in ein schmales, weißschimmerndes Zimmer, vor dessen Fenster das grüne Gold sonnengetränkten Lindenlaubes sich ausspannte. Die junge Magd, deren rot- und blaudurchflochtene Zöpfe sich wie eine Krone über der Stirn aufbauten,[154] hängte Hut und Mantel an die Tür und lächelte mich an.

»Was soll ich nun?« fragte ich.

»Zum Kaffee kommen«, erwiderte sie, und da sie bei meinem Nähertreten ruhevoll stehen blieb, nahm ich sie rasch in den Arm und küßte sie ab, wie sich's als Wegzoll gehört.

Unten tat ein lichtdurchfluteter Raum saalartig sich vor mir auf. Der Samowar schickte wirbelndes Gewölk in das Bereich der Sonnenbänder empor, und eine Frauenhand streckte sich mir entgegen.

Die, zu der sie gehörte, stand dunkel und lichtumsponnen zwischen der Sonne und mir. Drum sah ich fürs erste nichts von ihr. Erst als sie sich den beiden Herren zuwandte, erkannte ich ein noch ganz junges, längliches Gesichtchen, das ein Rahmen von bräunlichen Schmachtlocken, wie aus lauter glitzernden Schlangen geflochten, bis zum Halse hinunter zierlich umgab. Und dann sah ich in ein Paar schmale, dunkle Schleieraugen, deren Schatten sich bis gegen die Schläfe hinzogen und in denen beim Anblick meiner junggrünen Hilflosigkeit ein Willkommen leutselig erblühte.

Es gab frische Waffeln, die sie uns mit einer Silberschippe selber auf die Teller legte, und hinterher einen Kümmel aus Mitau, dessen Flaschenhals von dicken Zuckerkristallen blinkte.

Und dann wurde der Wagen gemeldet.

»Na – will der Jüngling nu mitfahren oder nicht?« fragte der Hausherr.

»O Gott«, dachte ich, »wer hilft mir, daß ich hier bleiben kann?«

Aber es war keine Hilfe mehr nötig. Mein bloßes Zögern hatte genügt, um die Entscheidung zu bringen.

»Na, schön«, sagte er, »dann leisten Sie meiner Frau so lange Gesellschaft. Es wird sowieso ermüdend werden – das Kacheln über die Felder.«

Und so fuhren sie von dannen.[155]

»Wir wollen ein bißchen in den Garten gehen«, sagte die Hausfrau, das Taschentuch einsteckend, mit dem sie dem Wagen nachgewinkt hatte.

Und das taten wir auch.

»Nun mußt du eine Unterhaltung beginnen«, ermahnte ich mich. Im Unterhaltungmachen war ich Meister – das wußte ich nicht bloß von den Tanzstunden her – aber heute fiel mir nicht das mindeste ein.

Ein Glück war es, daß hinter dem Gutshause mitten in einem Grasrondell eine Banane stand, die ihre zerrissenen Blattwedel in die Lüfte streckte. Ich hatte gar nicht gewußt, daß eine so herrliche Tropenpflanze in unserem kalten Nordosten ihr Fortkommen findet, und das sagte ich ihr.

»Wir schneiden sie im Herbste ab«, erwiderte sie, »und legen den Wurzelstock in den Keller. Im Frühling lebt sie dann wieder auf, genau so wie die Menschen.«

Ich sagte, daß ich gerade im Winter ein doppeltes Leben führe.

»Ja, Sie vielleicht«, seufzte sie, »aber hier ist es sehr einsam.«

Und dann erzählte sie, daß sie auch einmal in Tilsit zur Schule gegangen sei und später sogar ein Jahr in Lausanne gelebt habe – wegen des höheren Schliffes.

»Aber jetzt brauche ich ihn nicht mehr«, fügte sie mit einem Achelzucken hinzu, »denn hier verbauert man doch.«

Nun hätte ich sie eigentlich trösten müssen, aber ich wagte es nicht. Je offener sie sich gab, desto beklommener wurde mir zumute. Es war, als ob ihr Zutrauen mir Klammern um die Seele legte und mir mit ängstlichen Mahnungen den Mund verschloß.

Darum geriet das Gespräch auch allmählich wieder ins Stocken. Ich würgte und räusperte mich, aber, wie sehr ich auch suchte, nirgends fand sich ein Thema, es in Fluß zu bringen.

Ihre Schritte beschleunigten sich. Ich zottelte hinter ihr her[156] wie ein Hündchen, und der Herzschlag saß mir im Halse; denn ich dachte, da ich doch nichts zu sagen wisse, lohne es ihr nicht mehr, höflich neben mir herzugehen.

Vor einem moorigen Wasserloch, um das herum Reste einer steinernen Einfassung verstreut lagen, machte sie Halt.

»Hier hat sich einmal ein junges Dienstmädchen hineingestürzt«, sagte sie. »Finden Sie nicht auch, daß sie ganz klug getan hat?«

»Es kommt darauf an«, erwiderte ich. Gescheiteres fiel mir nicht ein. Und ich lachte blöde dazu.

Auch sie lachte. Lachte so hell, als ob ich einen sehr guten Witz gemacht hätte. Und dann ging sie weiter.

Vor uns lagen nun im Rotfeuer des beginnenden Abends die weithin sich erstreckenden Koppeln, auf denen Remonten und Jungvieh in bunten Rudeln sich jagten.

»Ach, wie ist das schön!« rief ich, um doch etwas zu sagen.

»Es kommt darauf an«, erwiderte sie – gerade so wie ich vorhin –, und ich dachte: »Jetzt verhöhnt sie dich schon.«

Dann machten wir kehrt und schritten dem Hause zu.

»Wäre diese Quälerei doch schon zu Ende!« dachte ich, während die Pausen des Gespräches sich dauernd verlängerten. Am liebsten wäre ich ihr davongelaufen, aber das ging wohl nicht an, und so trottete ich dümmlich neben ihr her und sah den Steinchen zu, die aus dem lockeren Kies vor mir hersprangen.

Es schien, als hätte sie meine Gefühle erraten, denn vor den Stufen der Gartenterrasse reichte sie mir abschiednehmend die Hand und sagte: »Ich muß Sie nun allein lassen, denn ich habe für den Abendbrottisch zu sorgen, und inzwischen werden ja wohl auch die Herren da sein.«

Damit war ich abgedankt für immer, denn wenn erst die beiden Herren wieder auf dem Plane waren, sank ich von selber ins Nichts zurück.

So sehr ärgerte ich mich ob meines Stumpfsinns, daß ich am[157] liebsten geweint und getobt hätte. Ich wanderte unablässig vom Garten zum Hofraum und vom Hofraum zum Garten zurück, wohl volle zwei Stunden lang, und rief von Zeit zu Zeit vor mich hin: »Ach, ist das schön, ist das schön!« Wenn mich aber einer gefragt hätte, was mir eigentlich so schön erschiene, so hätte ich es nicht zu sagen gewußt.

Ein paar Hunde hatten sich angefunden und zogen treulich hinter mir her. Da ich ihre Namen nicht wußte, so gab ich ihnen irgendwelche, die mir gerade einfielen, und sie hörten auch auf diese.

Und plötzlich – es war schon fast dunkel geworden – da tobten sie von mir fort und durch das Gartentor einem Reiter entgegen, der im Galopp auf den Hof gesprengt kam. Ein halbwüchsiger Junge, der sich Sporen an die nackten Füße geschnallt hatte. Er wolle die gnädige Frau sprechen, sagte er einem der Hofleute, und als sie, von diesem gerufen, auf der Anfahrt erschien, berichtete er ihr, der Herr ließe sagen, man würde mit der Besichtigung heute nicht mehr fertig werden, und sie möchte Bettbezüge schicken und eine Flasche Rum zum Abendgrog.

Ein heißer Schreck durchrieselte mich. Wenn ich zum Abendessen mit ihr allein blieb, dann mußte die Qual des Nichtredenkönnens aufs neue zermalmend über mich herfallen. Ich umklammerte die Staketen des Gartenzauns, zwischen die ich meine Nase hindurchgequetscht hatte, um dem Schauplatz näher zu sein, und überlegte, ob ich sie nicht um ein Pferd bitten solle, damit ich, von dem Jungen geführt, den Herren nachreiten könne.

Aber da war sie auch schon fort – fort, ohne sich auch nur nach mir umgeschaut zu haben.

Und eine Weile später kam die Dienstmagd – dieselbe, die ich eben abgeküßt hatte – reichte dem Jungen einen Packen aufs Pferd, und während er eilends davonritt, wandte sie sich dem Garten und der Stelle zu, wo ich hinter dem Zaune lauerte.[158]

»Die jnedje Frau läßt zum Ambrot bitten«, flüsterte sie, die Augen nicht aufhebend, und ich schämte mich vor ihr, wie sie sich vor mir.

Als ich klopfenden Herzens das Gartenzimmer betrat, war es schon so dämmerig geworden, daß ich die Gestalt der Herrin gerade noch erkennen konnte.

Sie streckte mir die Hand entgegen und sagte, auf die Hängelampe weisend: »Ich fürchte, in dem Behälter wird kein Petroleum sein, denn wir essen im Sommer immer bei Tageslicht. Wollen wir uns Lichter holen lassen oder im Dunkeln essen?«

»Im Dunkeln essen!« stieß ich hervor, denn so hoffte ich meiner Befangenheit am ehesten Herr werden zu können.

»Na, gut«, sagte sie, »und wenn Sie den Mund nicht mehr finden können, dann melden Sie's nur, und dann werd' ich Sie füttern.«

In mir jubelte es hell auf, denn wenn sie so zutraulich mit mir scherzte, dann konnte sie mich unmöglich verachten. Aber zu reden wußte ich darum immer noch nichts.

Und dann merkte ich, daß ich vor Hunger zitterte und mir der Magen wehtat, denn ich hatte den ganzen Tag über noch nichts Rechtes gegessen.

Sie legte mir die Hälften der jungen Hühnchen auf den Teller und einen Berg Salat dazu, den dicke Sahne fest zusammenhielt. Auch Rotwein schenkte sie mir ein, von dem ich schon beim ersten Schluck einen heißen Kopf bekam.

Und plötzlich war die Lähmung fort. Lachend fragte ich sie, ob sie es mit einem so dummen Jungen noch länger aushalten wolle, und was sie sich wohl gedacht habe, als ich heute nachmittag so blöde gewesen war.

»Das will ich Ihnen sagen«, erwiderte sie ganz ernst, »ich dachte, ich langweile Sie.«

»Sie – mich?« Ich schrie es beinahe. »Wie kamen Sie bloß auf eine solche Idee?«[159]

»Die liegt doch sehr nahe«, erwiderte sie, »da ich ja nur eine Landpomeranze bin.«

»Sie sind die – Sie sind – Sie sind – – –«

Weiter kam ich nicht.

»Nicht doch«, unterbrach sie mein Stammeln und legte ihre Hand abwehrend auf die meine. »Lassen Sie nur die Schmeicheleien, ich glaube ja doch nicht daran.«

Das gab mir noch mehr Mut.

Noch nie im Leben sei mir eine Frau so gütig entgegengekommen, so sagte ich, und noch nie im Leben hätte ich zu jemandem so viel Vertrauen in mir gefühlt. Ich hätte mir bisher nur nicht erlaubt, ihm Worte zu leihen. Und wenn sie es sich gefallen lassen wolle, so möchte ich ihr am liebsten mein ganzes Herz ausschütten.

»Tun Sie das nur«, sagte sie, sich in ihrem Stuhle zurücklehnend, »ich höre Ihnen gern zu.«

Da zerbrachen in mir die letzten Dämme. Was ich noch nie einem Menschen zu bekennen gewagt hatte, selbst meiner Mutter nicht, das mußte ich bedingungslos vor dieser Fremden ausschütten, von der ich kaum mehr als einen Schatten sah.

Ein Dichter wollte ich werden, ein Dichter wie Goethe und Schiller. Aber da sich das nicht lernen lasse, so müsse ich irgendein gleichgültiges Brotstudium wählen. Und auch das sei so einfach nicht, denn Geld hätte ich nicht und würde es auch niemals bekommen. Wohl wolle ich mit Freuden hungern, aber um schließlich Lehrer zu werden, wovor ich ein Grauen hätte, lohne sich das ganze menschliche Leben nicht. Als Realschüler stünden mir auch nur die Naturwissenschaften und die neueren Sprachen offen. Zu Naturwissenschaften hätte ich wohl eine unbändige Lust, aber sie würden mich am Ende von meinem Dichterberufe so weit entfernen, daß ich den Rückweg nicht mehr fände. Und was die neueren Sprachen beträfe, so könnten sie mir gestohlen bleiben, aber sie gäben[160] mir immerhin die Möglichkeit, mich mit den verschiedenen Literaturen zu beschäftigen, was mich der Dichterei wieder etwas näher brächte. Und darauf allein käme es an.

Das alles berichtete ich ihr und trank den schweren Rotwein dazu in langen Zügen. So voll von seliger Dankbarkeit war ich, weil ich mich aussprechen durfte, daß ich am liebsten vor ihr in den Staub gesunken wäre, um ihr die Füße zu küssen.

Ein Schweigen entstand. Mein Atem ging schwer und stoßweise durch das Dunkel, und wenn ich ihn anhielt, dann konnte ich auch ihr Atmen hören.

»Also so werden Sie Dichter«, sagte sie dann und stand auf.

»Wer sagt Ihnen«, rief ich, »daß ich je einer sein werde? Ein Wahnsinn ist es und nicht mehr. Nur ein einziger Trost bleibt mir, daß mir im Leben schon mancher Wahnsinn gelungen ist. Vielleicht wird es auch dieser einmal.«

»So hat jeder sein Wünschen«, sagte sie. »Sie möchten Dichter werden, und ich möchte ein Kindchen haben.«

»Bloß Ihr Wunsch ist nicht so vermessen«, erwiderte ich.

»Vielleicht doch«, seufzte sie und wandte sich der offenen Gartentür zu.

Nun sah ich im Dämmer der Sommernacht endlich wieder ihr Gesicht. Die feinen Nasenflügel bebten, und die weit gewordenen Schleieraugen starrten zu den Sternen empor. Dann kehrte sie sie lächelnd wieder der Erde zu.

»Ich werde die Erdbeeren an mich nehmen«, sagte sie, »und Sie nehmen den Wein; so können wir dann noch auf der Terrasse sitzen.«

Und das taten wir auch. Wir aßen die Erdbeeren, die gleichfalls in dicker Sahne steckten, und tranken den Wein dazu, der mir mit jedem Schlucke einen neuen Blutstrom durch die Adern goß. Meine Backen brannten, und durch den ganzen Körper hüpfte das Blut.

»Schwer wird Ihnen das Leben ja werden«, hörte ich meine neue Freundin sagen, »und am schwersten wohl durch Sie[161] selber; aber das schadet nichts, denn die Frauen werden Sie gerne haben.«

Ich erschrak. Wann hätte je eine Frau mich gerne gehabt? Wann hätte ich je daran gedacht, daß eine Frau mich gern haben könnte?

Und das sagte ich ihr.

»Oder vorläufig die Mädchen«, gab sie lächelnd zur Antwort, »und davon haben Sie ja auch wohl schon die Beweise.«

Ich dachte an Klara Hornig, an Hedwig Tagmann, an Magda Tagmann, an Elise Koch und alle die anderen, die ich der Reihe nach durchgeliebt hatte; aber ob ich je auf Gegenliebe gestoßen war – eine wirkliche und reelle Gegenliebe – wer konnte das wissen?

Und das sagte ich ihr auch.

Ein Schimmer von Rührung, den ich mehr fühlte, als ich ihn sah, hatte sich in ihren Zügen verfangen, während sie mich mit den wieder schmalen Schleieraugen von unten herauf gleichsam prüfend betrachtete.

Und dann plötzlich schoß sie hoch.

»Ich habe Kopfweh«, sagte sie, »und muß mich zurückziehen.

Ich werde dem Mädchen klingeln, daß sie Sie auf Ihr Zimmer führt. Gute Nacht.«

Ich saß da, als hätte ich einen Axthieb erhalten. Kaum, daß ich die dargebotene Hand ergriff, die sich nach zuckendem Drucke rasch wieder zurückzog.

Und dann war sie verschwunden.

Die blondgekrönte junge Magd kam mit einer Kerze in der Hand und stellte sich wartend in der offenen Glastür auf. Am liebsten wäre ich in den finsteren Garten hinuntergestürmt, um den heißen Überschwang meiner Seele dort zu kühlen, aber ich fand nicht den Mut dazu und folgte ihr gehorsam – die knarrende Holztreppe hoch – über den Estrich des Bodenraumes – in das Mansardenzimmer hinein, in dem eine[162] verfangene Fledermaus, hier und da anstoßend, die lockere Tapete entlangglitt.

Die Magd stellte die Kerze auf den Tisch, und ohne mich eines Blickes zu würdigen, machte sie sich daran, das geängstigte Tier zu verscheuchen.

Aber das Zimmer war zu schmal, als daß sie an mir vorbeigekonnt hätte, ohne mich leise zu streifen. Und als ich den lieben, vogelnestigen Duft, den diese Naturkinder an sich tragen, über mich herströmen fühlte, überfiel mich eine Art von Raserei. Halb besinnungslos riß ich sie an mich und bedeckte Wangen und Hals mit meinen Küssen. Sie wehrte sich verzweifelt, aber das tun sie ja immer, auch wenn sie im Innersten willig sind. Und schließlich lag sie in Ermattung über meine Knie gestreckt, aber sie gab sich noch nicht gefangen.

»Ich muß ja 'runter«, flüsterte sie bittend.

»Dann komm noch einmal«, bat nun auch ich.

Sie sagte nicht Ja, sie sagte nicht Nein, sie lachte nur hell auf und glitt dann zur Türe hinaus.

Kaum war sie fort, da packte mich die Reue.

Unwürdiger, der ich war! Nicht allein, daß ich das Gastrecht des fremden Hauses schmählich verletzte, auch an seiner Herrin, der Edlen, der Hohen, der Großmütigen, die mir ihr Vertrauen gegönnt und das meine gnädig empfangen hatte, war ich zum Frevler geworden.

Ich rannte umher wie ein Verrückter. Wenn die blonde Magd nun wirklich kam – würde ich die Kraft haben, sie ihrer Wege gehen zu heißen? Sicherlich nicht, denn jede Fiber in mir schrie nach ihr, schrie nach dem Erlöstsein, das sie dann brachte.

Bisweilen hielt ich an und lauschte. Nichts rührte sich mehr. Auch die letzten Lichter des Hauses schienen erloschen. Die Gartenseite wenigstens lag in Dunkel vergraben. – So auch der Wirtschaftsflügel, der sich dran schloß.[163]

Und dann wanderte ich von neuem. Die Fledermaus und ich – wir durchmaßen den Raum um die Wette – hin und her – hin und her – ich weiß nicht, wie lange – stundenlang – Ewigkeiten lang.

»Nun kann sie nicht mehr kommen«, rief eine Stimme in mir voll schmerzenden Verzichts. Und eine andere rief dagegen: »Gott sei Dank, daß sie nun nicht mehr kommen kann.«

Aber trotzdem lauschte ich immer von neuem. Und immer von neuem rannte ich stampfend umher.

Die Fledermaus ruhte bisweilen, ich ruhte nie.

Und plötzlich – es mag gegen zwei Uhr gewesen sein – da war es mir, als hörte ich tief unten ein leises Knarren der Treppe, das sich verstärkte und wieder einschlief.

Ich lauschte, aber nichts ließ sich hören, bis nach einer Weile, als ich schon längst wieder wanderte, das Knarren von neuem begann. Aber diesmal dauerte es länger und hörte erst auf, als es am oberen Treppenrande angelangt war.

Sie kam. Sie kam also doch noch!

»Verschließe die Tür«, rief es in mir, »damit der Tag nicht entweiht werde, der dir das Frauenideal geschenkt hat, das dich fortan durchs Leben geleiten soll!«

Aber die Hand, die den Riegel vorschieben sollte, fand nicht die Kraft dazu.

Und dann war auch nichts mehr zu hören. Wie ertrunken in Nacht und Schweigen schien alles, was an Liebe und Sünde und Abenteuer gemahnte.

Eine Weile lauschte ich noch, das Ohr ans Schlüsselloch gedrückt, dann begann ich die Wanderung von neuem. Und die Fledermaus glitt immer an Wänden und Decke entlang.

Da, wie ich in der Gegend der Tür für einen Augenblick anhielt, war es mir, als hörte ich ein Rascheln draußen auf dem Estrich. Nicht lauter, als Mäuse rascheln, aber deutlich genug, um mich wissen zu lassen, daß ich hier oben nicht mehr allein war.[164]

Ich riß die Türe auf. Da stand, keine fünf Schritte vor mir, eine Kerze in der Hand, mit finsteren Augen mich anstarrend – die Herrin des Hauses.

Mit einem Aufschrei fuhr ich zurück. Wie aus weiter Ferne hörte ich ihre Stimme hart und strafend, als sie sagte: »Wenn Sie die Nacht über Spazierengehen wollen, warum ziehen Sie dann nicht wenigstens die Stiefel aus? ... Ich hätte schon längst ein Mädchen zu Ihnen heraufgeschickt, aber die schlafen alle im Wirtschaftshaus, darum bin ich schließlich selber gekommen.«

»Verzeihung«, stammelte ich, »das habe ich nicht bedacht.« Und dabei muß ich wohl eine sehr klägliche Armesündermiene gemacht haben, denn während der Schimmer eines begütigenden Lächelns über ihr Gesicht hinglitt, fuhr sie in weicherem Tone fort: »Nun, nun, es ist ja noch nicht Morgen. Und ausschlafen können wir immer noch. Aber nun gehen Sie auch wirklich zur Ruhe, lieber Junge.«

Wie ich sie die Worte »lieber Junge« sagen hörte, da löste sich plötzlich die Spannung, die süß und quälerisch, abirrend und ahnungsvoll, seit vielen Stunden mein Wesen beherrscht hatte. Ich warf mich auf einen der beiden Stühle, die vor dem Tische standen, barg den Kopf in den verschränkten Armen und weinte bitterlich.

Hinter mir hörte ich etwas wie das Schließen der Tür und hörte langsam sich nähernde Schritte. Dann fühlte ich eine Hand schwerlastend in meinem Haar und fühlte, wie heiße Tropfen auf meinen Nacken niedersanken.

O mein Gott! auch sie weinte! Weinte um mich!

Und dann setzte sie sich neben mich auf den zweiten Stuhl, lehnte ihren Kopf an meinen Kopf, und über meine rechte Backe legte sich das duftige Buschwerk der gelösten Locken.

»Geben Sie acht«, sagte ich, immer noch schluchzend, »es ist eine Fledermaus im Zimmer.«[165]

»Sie ist schon draußen«, gab sie schluchzend zurück.

Und wie ich nun den Arm um ihren Nacken legte, da war es um uns geschehen.

Als ich am späten Morgen aus seliger Betäubung erwachte, sah ich die junge Magd mit verschämtem Lächeln in der offenen Türe stehen.

Da erst fiel mir ein, daß sie vielleicht immer noch hätte kommen können, und ein posthumer Schreck rieselte mir durchs Gebein.

»Die Herren sind wieder da«, hörte ich sie sagen, »und Sie möchten sich rasch anziehen. Es soll gleich gefahren werden.«

Ich kam herunter, von den beiden lachend begrüßt.

Aber die Hausfrau ließ sich entschuldigen. Sie habe schreckliches Kopfweh.


Lange und schwer habe ich an diesem Erlebnis getragen.

Daß man die Ehe bricht, das wußte ich von meinen Romanen her, aber dann später, wenn die Scheidung vollzogen ist, heiratet man sich, oder man flieht schon vorher gemeinsam in die weite Welt.

Ich aber war noch nicht siebzehn, und was ich besaß, reichte als Reisegeld gerade bis Tilsit.

Ich selber durfte ihr natürlich nicht schreiben – die gebotene Danksagung ausgenommen – aber mit jeder Post erwartete ich einen Brief, in dem sie Verantwortung von mir verlangte und ihr Schicksal in meine Hände gab.

Doch dieser Brief ist nie gekommen.

Und dann begann ich, die Frauen um mich her mit anderen – frecheren – Augen anzusehen.

Die verschlossenen Heiligtümer, an deren Schwelle man sonst wunschlos vorübergeht, hatten lockende Pforten aufgetan. Hinter ihnen stand kein verhülltes Isisbild mehr, von dem den Schleier heben den Tod bedeutete, sondern ein Weib[166] von Fleisch und Blut, das Begehren atmete, wie man es selber begehrte.

Eines neuen – noch schwerer wiegenden – Erlebnisses bedurfte es, um mich die Ehrfurcht vor dem Weibtum und seiner irdischen Sendung wieder zu lehren.

Doch bis dahin vergingen – ich glaube – sechs Jahre.

Quelle:
Sudermann, Hermann: Das Bilderbuch meiner Jugend. München, Wien 1981, S. 131-167.
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