Zwölfte Szene

[102] Die Vorigen. Lenore. Dann Frau Mühlingk.


LENORE vorstürzend. Robert, haben Sie Erbarmen!


Robert läßt bei ihrem Anblick die Pistole fallen und taumelt, das Gesicht in den Händen, zurück. Curt sinkt, nach Luft ringend, auf das Sofa.
[102]

FRAU MÜHLINGK durch die Mitteltür. Was gibt es? Curt! Eilt zu ihm. Hülfe, Mörder, Mörder! – So klingle doch, Theodor!

MÜHLINGK. Stille, stille. Es ist keine Gefahr mehr. – Was wollen Sie noch! Gehn Sie!

ROBERT. Als Dieb, nicht wahr? Bewegung Lenorens. Ja, Lenore, damit Sie's wissen: Ersparnisse hab ich gemacht! Ein Dieb bin ich!

LENORE. Vater! Um Gotteswillen – was habt Ihr getan?

ROBERT. Gut. Dies ist der Tag der Abrechnung. Machen wir also das Konto klar ... Das Konto zwischen den Vorder- und den Hinterhäusern. Wir arbeiten für Euch ... wir geben unsern Schweiß und unser Herzblut für Euch hin ... Derweilen verführt Ihr unsere Schwestern und unsere Töchter und bezahlt uns ihre Schande mit dem Gelde, das wir Euch verdient haben ... Das nennt Ihr Wohltaten erweisen! – Ich habe mit Nägeln und Zähnen um Euern Gewinnst gerungen und nach keinem Lohne gefragt. – Ich habe zu Euch emporgeschaut, wie man zu Heiligen emporschaut ... Ihr wart mein Glaube und meine Religion ... Und was tatet Ihr? – Ihr stahlt mir die Ehre meines Hauses, denn ehrlich war es, wenn's auch Euer Hinterhaus war. – Ihr stahlt mir die Herzen der Meinigen, denn ob sie auch schmutzige Bettler sind, lieb hatt' ich sie doch – Ihr stahlt mir das Kissen, auf dem ich mein Haupt niederlegen wollte, um auszuruhn von der Arbeit für Euch – Ihr stahlt mir den Heimatsboden – Ihr stahlt mir die Liebe zu den Menschen und das Vertrauen zu Gott – Ihr stahlt mir Frieden, Schamgefühl und gutes Gewissen – die Sonne vom Himmel habt Ihr mir herabgestohlen – Ihr seid die Diebe – Ihr!

MÜHLINGK nach einem Schweigen. Soll ich Sie durch die Dienerschaft vor die Türe werfen lassen?

LENORE tritt dazwischen. Das wird nicht geschehen, Vater!

MÜHLINGK. Was? du?

LENORE. Er wird freiwillig und ungekränkt von dannen[103] gehn. Oder, Vater, du läßt mich auch vor die Türe werfen.

ROBERT. Lenore, was wollen Sie tun?

LENORE. Vater, hast du nicht ein Wort der Abbitte für ihn? Nicht ein einziges Wort?

MÜHLINGK. Du bist wahnsinnig!

ROBERT. Lassen Sie, Lenore! ... Ich werde mit – Dankbarkeit an Sie denken, solange ich lebe ... Ich laß in Ihnen das zurück, was man Heimat nennt ... Seien Sie gesegnet für alles ... Und nun leben Sie wohl! ...


Geht zur Tür.


LENORE mit leidenschaftlichem Aufschrei ihm nachstürzend und ihn umklammernd. Geh nicht! ... Geh nicht! ... Und wenn du gehst, so nimm mich mit!

ROBERT. Lenore!

MÜHLINGK. Was be –?

LENORE. Laß mich nicht allein! Mich friert zwischen diesen Wänden! ... Du bist meine Heimat auch! ... Du bist sie immer gewesen! ... Sieh, ich hab mich dir an den Hals geworfen! Du kannst mich nicht mehr von dir stoßen!

MÜHLINGK. Ach – was für ein Skandal!

LENORE. Lieber Vater, wir wollen nicht auf einander wüten. Ich liebe diesen Mann. Für das, was Ihr ihm nahmt, biet ich ihm zum Ersatz das an, was ich habe. Halb zu Robert. Ich habe zwar nichts mehr, als mich selbst. – Will er das – – –

ROBERT. Lenore!


Quelle:
Hermann Sudermann: Die Ehre, Stuttgart 1974, S. 102-104.
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