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[92] Zuerst der Moorvogt.

Der Moorvogt ist der unumschränkte Herrscher der Kolonie, der zweitausend Lebensschicksale sorgsam und strenge an obrigkeitlicher Leine führt. Über ihm steht nur noch die Generalkommission; doch wer und was das eigentlich ist, ahnen nur wenige.

Drei Tage später gehen sie also zum Moorvogt.

Mit List und Gewalt haben sie sich beide aus ihren Dienststellungen freigemacht. Die Erdme hat sich von ihrer Herrin eine Scheuerbürste an den Kopf werfen lassen und hierauf mit einer Anzeige wegen Körperverletzung gedroht, so daß sie schließlich mit dem Zeugnis auch noch ein Schmerzensgeld bekommen hat, und der Jons, der weniger gerissen ist, hat seinem Brotherrn bloß einen etwaigen Totschlag in Aussicht gestellt, falls er ihn nicht auf der Stelle abziehen lasse. Manchmal hilft das, manchmal geht es auch schlimm aus. Aber diesmal hat es geholfen.

So wandern sie also wohlgemut auf der Rußner Chaussee zur Kolonie Bismarck hinaus, die bald hinter dem Szlaszner Kirchhof beginnt und sich so weit ins Moor hinausstreckt, daß man ihr Ende nirgends absehen kann.

Als sie an der langen Brücke sind, die über die Sumpfniederung führt, bleibt die Erdme an dem schwarz-weißen Geländer stehen und zeigt auf die Kuhblumen hinunter, die ihre buttergelben Köpfe aus dem Überschwemmungswasser stecken, und sie sagt: »Wie die Blumchen da vorwärts kommen, ohne zu ertrinken, so werden wir auch vorwärts kommen.«

Und der Jons meint dasselbe.

Als sie aber vor dem ehemaligen Chausseehause stehen, in dem jetzt der Moorvogt wohnt, da fällt ihnen doch das Herz in die Schuhe.

Der Moorvogt ist ein starker Mann gegen die Vierzig, mit ernsten Augen und einem Munde, der ungern zu lächeln scheint. Eigentlich hart sieht er nicht aus, aber[93] seine Rede ist scharf und gemessen. Angst muß man schon darum vor ihm haben, weil er so mächtig ist.

»Also anbauen wollt ihr euch?«

»Jawohl.«

»Seid ihr verheiratet?«

Das sind sie nun eigentlich nicht, aber das Aufgebot kann jeden Augenblick bestellt werden. Jetzt gleich, wenn er will.

»Sind die Papiere in Ordnung?«

Alles tragen sie bei sich, vom Taufschein an.

»Sind die nötigen Mittel da?«

Ob die da sind! Und mit zaghaftem Stolze ziehen sie ihre Beutelchen. Das Goldstück, das bei ihr oben auf liegt, scheint ihm einen großen Eindruck zu machen, denn zum ersten Male geht ein Lächeln über sein Gesicht.

Und er greift nach Mütze und Hakenstock und sagt: »Kommt mit.«

Dann geht er ihnen voran auf einer Straße aus Knüppeln und Lehm, die geradeswegs von der hohen Chaussee weg ins Moor hinunterführt. Das sieht nun freilich fürs erste nach allem aus, nur nicht nach einem Moor. Rechts und links nichts wie Kartoffeläcker und Siedlungen bis in den grauen Dunst hinein. Die Häuser haben etwas mehr als hundert Mark gekostet! Da reichen selbst tausend nicht! Und ringsum Ställe und Schuppen! Und Gärten sogar – die Zäune mit Ölfarbe gestrichen! Und jeder Zufahrtsweg hat seine kleine Allee, aus Quitschen und Birken – weiß wie Schnee und schnurgerade.

Das Herz wird ihnen immer schwerer, aber zu reden wagen sie nicht. Sonst wären sie vielleicht noch umgekehrt. Denn wie kann man je daran denken, solche Herrlichkeiten sein eigen zu nennen?

So gehen sie wohl eine halbe Stunde lang. Eine Wirtschaft folgt der anderen, ein Ackerfeld dem anderen. Nur hie und da auf höherem Boden, wie aus Versehen stehen geblieben, ein Gebüsch von krüppeligen Fichten, die kaum einmal die Kraft haben, Nadeln zu tragen.

Dann allmählich verändert sich das Bild. Die Wohnhäuser werden ärmlicher – demütiger, möchte man[94] sagen –, die Wirtschaftsgebäude hören auf, und statt der beackerten Felder breiten sich kahle Moorheiden aus bis ins Endlose hin, von viereckigen schwarzen Teichen unterbrochen, die vom Torfstechen übriggeblieben sind. Auf denen sprießt ein junges Sumpfgrün. Sonst ist alles braun vor ihnen her. Wie beschorft ist alles.

Der Moorvogt hat den ganzen Weg über kein Wort zu ihnen gesprochen. Jetzt wendet er sich um und sagt: »Hier könnt ihr euch nun eine Baustelle aussuchen.«

Und er geht ihnen voran, seitwärts auf den Moorboden hinaus, der unter ihren Füßen quatscht und einsinkt. Und wo der Moorvogt den Stock einstößt, bleibt ein wasserglänzendes Löchelchen übrig.

Da endlich macht der Jons seinem bedrückten Herzen Luft und fragt beinahe schreiend: »Kann man denn hier überhaupt bauen?«

Der Moorvogt weist mit seinem Stocke zurück und in die Runde: »Die haben alle einmal so gebaut,« sagt er. »Das Trockenmachen ist eure Sache.«

Jons und Erdme sehen sich an und denken: »Was die anderen gekonnt haben, müssen wir auch können.« Und so suchen sie sich aufs Geratewohl einen Platz für Haus und Ackerland und sind dabei immer dem Weinen nahe.

Der Moorvogt umgeht mit ausgreifenden Schritten die ungefähr in Betracht kommende Fläche. »Diese Parzelle«, sagt er dann stehen bleibend, »gibt euch der Staat zur Bewirtschaftung. Sie wird natürlich genau ausgemessen werden und ist dann einen Hektar groß. Geht es euch gut, so dürft ihr später noch drei weitere dazu pachten. Auf dem Rückwege kommt bei mir an und gebt eure Unterschrift. Bis dahin überlegt es euch. Braucht ihr einen Rat, so bin ich dazu da. Viel Glück und guten Morgen!«

Damit gibt er ihnen die Hand, und weg ist er.

Nun stehen sie da und sehen sich wieder an.

Ja oder nein?

Nein – dann müssen sie zurück in Dienst – in einen härteren vielleicht, vielleicht auch niedrigeren, obgleich[95] das kaum noch möglich ist, und die Hoffnung auf Haus und Herd versinkt für Jahre. Wozu sind sie jung und übervoll von unverbrauchten Kräften, die sich sonst für Fremde erschöpfen müssen? Also ja – dreimal und tausendmal ja.

»Was die anderen gekonnt haben, müssen wir auch können,« wiederholt der Jons noch einmal laut, und die Erdme wiederholt es auch. Und damit sind sie fertig.

Das Nötigste, woran sie denken müssen, ist, sich für die nächsten Monate ein Obdach zu besorgen.

Sie gehen also an die ersten zwei Leute heran, die sie auf dem Acker arbeiten sehen, und sagen: »Wir wollen uns in der Nähe anbauen. Könnt ihr uns wohl so lange eine Kammer vermieten?«

Der Mann, der sanftblickende Augen hat und dem um das magere, bartlose Gesicht langes, graues Haar bis auf die Schultern fällt, sieht sie lange an und fragt dann: »Seid ihr verheiratet?«

Erdme lügt rasch »ja«, denn sie überlegt sich, daß ihr wahrhafter Stand, mag er noch so kurze Zeit andauern, ihnen bei allen Gutgesinnten Hindernisse bereiten würde.

Und die Frau, die auch nicht mehr jung ist und die so aussieht, als muß sie immer Senf aufschmieren, hat aber keinen Senftopf, die sagt: »Wir sind nämlich Gebetsleute. Wer nicht nach den Geboten des Herrn lebt, den nehmen wir nicht auf.«

Erdme sagt: »Auch wir wollen uns den Erleuchteten zuwenden,« denn sie weiß sofort, daß sie beide durch dieses Bekenntnis Freiwohnen erlangen werden.

Betten wird sie mitbringen, und so ist für Unterschlupf gesorgt.

Dann kehren sie wieder beim Moorvogt an.

Er hat einen großen Bogen ausgefertigt, sieht noch einmal ihre Papiere durch, und dann gibt Jons die Unterschrift.

Der Moorvogt ist zugleich auch der Standesbeamte und trägt sie als Brautleute in die Register ein.[96]

Jons denkt an die Unwahrheit, die Erdme vorhin ausgesprochen hat, und fragt: »Die Zeit ist knapp. Werden wir als ledige Leute schon einziehen dürfen?«

Der Moorvogt lächelt, wie er damals getan hat, als er ihr Vermögen besah, und sagt: »Die Aushängebogen liest keiner.«

Damit sind sie entlassen.

Nun aber bleibt noch eins zu ordnen, das wichtigste von allem – außer dem Pfarrer natürlich, bei dem das Aufgebot bestellt werden muß. Das ist für Jons, sich eine regelrechte Arbeit zu beschaffen, damit durch den Tagelohn für den künftigen Unterhalt gesorgt wird und ab und zu noch ein paar Groschen in die Baukasse kommen.

Man hat die Wahl zwischen der Torfstreufabrik und der Sägemühle, die beide jetzt zum Frühling Leute brauchen. Jons wählt die Sägemühle, weil er hoffen kann, dort am ehesten Gelegenheit zu billigem oder – wenn das Glück es will – auch kostenlosem Holzerwerb zu finden.

Sie gehen also den langen Weg nach Heydekrug zurück, – und siehe da! kaum nachgefragt, da hat er auch schon die Zusage in der Tasche, daß er am nächsten Morgen antreten kann.

Zwei Mark pro Tag – so viel hat er in seinem ganzen Leben noch nicht verdient.

Als die Dunkelheit gekommen ist, überlegen sie sich, daß noch nie ein Tag da war, der sie ein so großes Stück im Leben weiterführte. Aber er hat sie auch sehr hungrig gemacht. Und da sie beileibe kein Geld ausgeben wollen und zum Betteln zu jung und zu anständig aussehen, so scharren sie sich auf dem Weg nach dem neuen Zuhause ein paar Saatkartoffeln aus einer Miete, was gewiß eine große Sünde ist, aber der Besitzer hat noch genug, und so geschieht niemandem ein Schaden.

Die Taschen voll kommen sie heim, und als sie beim Abkochen ein andächtiges Abendlied singen, schenkt ihnen der fromme Wirt sogar noch ein Stückchen Speck dazu.

Quelle:
Hermann Sudermann: Romane und Novellen. Band 6, Stuttgart und Berlin 1923, S. 92-97.
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