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[126] Der Winter kommt wie alles Schlimme früher, als man sich's denkt.

Eines Morgens zu Anfang November ist das Moor gefroren wie ein Brett. Bis dahin hat man im Kalten gelebt, aber nun geht es nicht mehr.

Der Handwagen des frommen Taruttis, der so viel Unfrommes mit angesehen hat, ist ihm zurückgegeben. Statt dessen dient nun die Karre, die Jons vom Markte gebracht hat.

Das Torfloch trägt eine Eisdecke. Die wiegt sich und klingt, wenn man auf dem Moore daherkommt. Die Torfziegel, die Erdme alle selber gestochen hat, stehen in viereckigen Haufen geschichtet. Obwohl sie sie mit Rohr bedeckt hat gegen den Herbstregen, trocken sind sie noch immer nicht. Aber wenn man ihnen gut zuredet, brennen werden sie doch, und der Qualm geht zum Schornstein hinaus.

Ja, Kuchen! Wie der Jons des Abends nach Haus kommt, findet er die Stube so voller Rauch, daß von der Lampe gar nichts zu sehen ist. Und auf dem Bett liegt die Erdme kraftlos und hustet.

Aber die kleine Ulele, die jetzt immer dabei ist, lacht und sagt: »An den Rauch gewöhnt man sich wie ans Grundwasser. Oben ersticken wir, unten versinken wir und sind ganz lustig dabei.«

Und sie hat Recht gehabt. Bald weiß man kaum mehr, ob es raucht oder nicht, wenn man's nur warm hat. Und das ist die Hauptsache.[126]

Denn Tage brechen herein, so naß und so kalt, daß einem das Herz im Leibe erklammt, wenn man die Nase ins Freie steckt. Was schlimmer ist, der suppende Nebel oder der rotklare Frost, die fegenden Schneestürme oder der windstille Rauhreif, – man weiß es wahrhaftig kaum; nirgends friert man so wie hier auf dem Moor. Die Kälte auf der Spitze des Monte Rosa muß dagegen ein Kinderspiel sein.

Ein Glück ist, daß, noch ehe der erste Schnee kam, der Zufahrtssteg angelegt und mit kleinen Birken und Quitschen bepflanzt ist, sonst würde der Jons, wenn er in der Finsternis heimkehrt, nicht wissen, wo er abbiegen muß, so verstiemt ist alles in Weite und Breite. – Selbst das Fensterchen steckt manchmal tief unterm Schnee und muß am Morgen ausgeschaufelt werden, damit man weiß, daß es Tag ist.

Die Erdme geht nicht viel mehr ins Freie. Nur das Ferkelchen muß sie versehen, das prächtig gedeiht. Wenn man das schlachten dürfte, könnte man pökeln für Jahre. Aber so üppig leben wir nicht. Wir sind froh, wenn wir ab und zu einen Hering haben. Das Schwein wird, wenn es fett ist, an den Schlachter verkauft, und was dafür einkommt, bildet das Grundkapital für die künftige Kuh. Aber das sind noch Zukunftsträume. Fürs erste wollen wir mit der Ziege zufrieden sein.

Im Januar rückt sie an. Sie heißt Gertrud, frißt mit aus dem Schweinetrog und stößt, wenn man sie melken will.

Aber schließlich gewöhnt sie sich und gibt ihre Milch so großmütig her, wie nur eine kann, deren Haltung nichts kostet. –

Am schlimmsten in dieser schlimmen Zeit ist das Gefangensein. Man kuckt nach rechts – man kuckt nach links – alles ist weiß, alles ist weit, und nicht ein Fuhrwerk fährt auf dem Wege, um zu zeigen, daß es noch Dinge gibt auf der Welt, die anders aussehen als weiß. Die Häuser der Nachbarn stehen ja da, aber sie sind fast ganz in Schneefluchten versunken, und nur wo der Rauch[127] sich niederschlägt, gibt's auf dem Dach einen graulichen Flecken.

Man kann sich kaum vorstellen, daß dort überall Menschen wohnen, denn niemals sieht man einen, und man geht auch nicht gerne hinüber.

Wäre die kleine Ulele nicht, man wüßte tagsüber kaum mehr, wie eine fremde Menschenstimme sich anhört.

Aber die kleine Ulele hat viel zu tun. Sie geht auf Freiersfüßen. Wenn sie zum Frühling eingesegnet wird, muß der Vater schon seine Frau haben. Denn dann will sie in die große Welt, ihr Glück machen. Sie weiß eine, die hat dreihundert Taler, und eine andere, hie hat noch mehr. Aber an der hängen zwei Kinder, deren Vater sie manchmal besucht. Und die Ulele meint mit Recht, das werde Streitigkeiten geben, wenn sie selbst als Vermittlerin nicht mehr im Lande ist. Sie wird also wohl die erste wählen, aber der muß noch viel zugeredet werden, denn sie fürchtet, der Weg der Vorgängerinnen werde alsbald auch der ihrige sein.

So hat man seine Sorgen, auch wenn man noch Kind ist.

Von dem Nachbar Witkuhn hat Erdme seit Monaten nichts mehr gesehen, und die Hilfeleistung bei seiner Frau muß die kleine Ulele für sie mit übernehmen.

Es bleibt also nur der fromme Taruttis, an den man sich halten kann. An jedem Sonntagabend gibt's eine Versammlung bei ihm. Zu der kommen die Gebetsleute weit und breit, und manchmal sind Stube und Vorflur so voll, daß die Haustür offen stehen muß, und dann zieht der eisige Wind wie mit Peitschenhieben über die Köpfe.

Aber schön ist es trotzdem. Andächtige Lieder werden gesungen, Sündenbekenntnisse abgegeben, und meistens kriegt der heilige Geist einen oder den anderen zu packen, so daß er aufsteht und mit Zungen redet, während die anderen horchen und weinen. Das ist dann ein rechtes Sonntagsvergnügen.

Zu der Gemeinde gehören Jons und Erdme noch nicht, denn das Abtun des Irdischen ist wenig nach ihrem[128] Geschmack. Aber sie werden als Gäste geduldet, zumal der Tag der Erleuchtung auch ihnen nicht ausbleiben kann.

Zweimal hat es Tauzeit gegeben und Regen und Weststurm. Dann hat der Schnee sich gelöst, und die Welt ist zu Torfschmutz geworden. Dann riecht es nach Rauch und nach Pferdeurin, und doch sind gar wenige Pferde ringsum. Nur der Wohlhabende kann sich eins halten.

Aber Jons und Erdme wissen, daß, wenn die Zeit erfüllt ist, ihnen ihr Pferdchen nicht fehlen wird. Jahre und Jahre kann es dauern, aber kommen wird es gewiß, genau wie das Fettschwein gekommen ist, um das der Schlachter schon lange herumstreicht.

Aber vorerst wird was anderes kommen – etwas, das einst in Samt und Seide gehen wird und wofür der Sohn eines Gendarmen schon längst nicht mehr gut genug ist. Ein großer Besitzer muß es sein, wie die reichen Herren der Niederung, die hundert Kühe halten und deren Käsereien mit Dampf betrieben werden. Billiger macht die Erdme es nicht, wenn selbst der Jons mit sich handeln läßt.

Um Mitte März kann das Kleine schon da sein. Und der März steht vor der Tür. Die Sonne bohrt Pockennarben tief in den Schnee, und wenn mittags die Eiszapfen tropfen, klingt es wie Frühlingsmusik.

Eines Tages kommt die Frau des Witkuhn. Mühselig schleppt sie sich ins Haus. Die Erdme ist noch ein Wiesel dagegen.

»Nachbarin,« sagt sie. »Ich weiß, deine Stunde wird bald kommen. Ich hab' eine Bitte an dich.«

»Was für eine Bitte?« fragt die Erdme.

»Sieh mich an,« sagt sie darauf. »So quiem' ich nun schon an die zehn Jahr. Und die Wirtschaft kann nicht gedeihen. Hätte der liebe Gott ein Einsehen, so würd' er mich zu sich nehmen, damit der Witkuhn sich nach etwas Besserem umsehen kann. Aber so werd' ich ihm zur Last liegen, wer weiß wie lange.«[129]

Sie weint, und die Erdme sagt zu ihr, was man so sagen kann.

»Darum sollst du mir das Versprechen geben,« fährt sie fort, »daß du es bei der Hebamme nicht bewenden läßt, sondern dir auch den Doktor bestellst aus Heydekrug oder aus Ruß.«

»Um Gotteswillen!« schreit die Erdme ganz erschrocken. »Das kostet zehn Mark!«

»Das haben wir auch schon überlegt,« meint die Nachbarin, »und der Witkuhn hat gesagt, wenn ihr es noch knapp habt, die zehn Mark gibt er mit Freuden.«

Die Erdme wird heißrot, denn sie denkt an das, was im Frühherbst passiert ist. Und sie sagt: »Dank deinem Mann, Nachbarin, aber soviel haben wir selber. Nur sollt' es für die Kuh gespart bleiben.«

»Die Kuh kann krepieren,« sagt die Witkuhn, »und dann spart man sich eine neue. Aber wenn man selbst zuschanden ist, dann spart man sich keine mehr.«

Die Wahrheit leuchtet der Erdme ein, und sie gibt das Versprechen. Sie kann es ruhig tun, auch für den Jons. Nur wie es mit dem Fuhrwerk werden wird, weiß sie noch nicht. Denn wenn der Doktor sich selbst eins bestellt, so kostet es weitere zehn Mark. Aber Witkuhn hat auch dafür schon Rat geschafft. Er hat mit einem der besseren Besitzer gesprochen, und der wird sein Pferdchen gerne hergeben, wenn es erst so weit ist.

Und jetzt ist es so weit. Die Erdme liegt und schreit wie ein Tier. Seit Stunden folgt eine Wehenwelle der anderen und will ihr das Gedärm aus dem Leibe reißen.

Da tritt ein deutscher Mann an ihr Bett, anzusehen wie ein rotbärtiger Riese – Perkuhn, der Donnergott, muß so ausgesehen haben –, und blickt aus großen, rollenden Gottesaugen auf sie herab und sagt mit einer Stimme, bullrig und gut wie abziehendes Ungewitter: »Na–a? Kommt es denn immer noch nicht?«

Nein, es kommt immer noch nicht. Und kommt auch die ganze Nacht hindurch nicht. Wenn eine Wehe heranjagt,[130] dann kriegt sie seine Knie zu fassen und kneift sich darin fest, daß er lachend schreit: »Wirst du wohl loslassen!« Aber sie kneift nur noch fester.

Zuerst, wie er gestanden hat, ist er weit höher gewesen als die Decke des Zimmers; nur ganz gebückt hat sein Kopf darunter Platz gehabt, und auch jetzt, wie er neben dem Bett auf der Hocke sitzt, erscheint er noch immer so groß wie etwa ein Pferd. Aber dann ist es ihr, als wird er langsam kleiner und kleiner. Mit jeder Nachtstunde wird er kleiner. –

Wie es gegen den Morgen geht, denkt sie mit einmal: »Für zehn Mark wird er das gar nicht machen.« Und sie fängt vor Angst und Ungeduld zu weinen an, weil es so teuer wird.

Er wiederum denkt, daß es die ausgestandenen Schmerzen sind, die ihr die Tränen zum Fließen bringen. Und wie er ihr tröstend die Hand beklopft, da ist er schon ganz klein.

Und mit einem Male kriegt er das Übergewicht und kippt mit seinem mächtigen Schmerbauch nach hinten zurück, so daß die Beine hoch in der Luft herumrudern.

Da weiß sie, was es ist. Die Lehmschicht und der Moorboden haben dem mächtigen Körper nicht standhalten können, und die vier Beine der Hocke sind unter ihm in die Tiefe gesunken.

Und da befällt sie ein Lachen. Sie lacht und lacht, und aus dem Lachen heraus kreischt sie hell auf, denn ihr Leib wird plötzlich in Stücke geschnitten, und – wupp! – ist die Katrike da!

Nachher, wie er gehen will, dreht der Jons demütig die Mütze in der Hand und fragt ihn, was es wohl kostet.

Da sieht er sich in der Stube um, besieht den grünbunten Schrank und den goldrahmigen Spiegel und sagt: »Nun, nun, ihr scheint ja ganz wohlhabende Leute zu sein. Gebt mir also« – der Erdme steht das Herz still vor Angst – »gebt mir also – drei Mark.«

Und die Erdme denkt jubelnd: »Wenn das so billig ist, krieg' ich nächsten Frühling ein zweites.«

Quelle:
Hermann Sudermann: Romane und Novellen. Band 6, Stuttgart und Berlin 1923, S. 126-131.
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