61. Nach der Haager Konferenz

[490] Sobald wir nach Harmannsdorf zurückgekehrt waren, machte ich mich daran, mein Tagebuch, aus dem ich die meisten auf die Konferenz bezüglichen Stellen in diesen Lebenserinnerungen wiedergegeben habe, auszuarbeiten und meinem Verleger zu schicken. Es erschien im Jahre 1900; ich kann aber nicht sagen, daß es viel Interesse erweckte. Die Mitwelt verhält sich der Haager Konferenz gegenüber gleichgültig oder ablehnend.

Wir blieben nur kurze Zeit zu Hause. Schon nach drei Wochen machten wir uns wieder auf den Weg – nach Norwegen. Von dem Präsidium der dort vom 1. bis 6. August tagenden Interparlamentarischen Konferenz waren Einladungen an uns und an Herrn von Bloch ergangen, den Verhandlungen und Veranstaltungen als Ehrengäste beizuwohnen. Das ließen wir uns nicht zweimal sagen – eine Nordlandreise, welches Fest!

Wieder ein ganz neues Stück Welt, das sich uns da auftat. Wir langten am 30. Juli abends in Christiania an. Am 31. sollte das Schiff ankommen, das den Interparlamentariern zur Verfügung gestellt worden. Diesem Schiffe fuhr ein anderes entgegen, auf dem sich das Präsidium der Konferenz befand sowie auch diejenigen Abgeordneten, die es vorgezogen hatten, per Eisenbahn zu kommen. John Lund forderte uns auf, die Fahrt mitzumachen. Außer uns[490] waren noch zahlreiche andere Gäste an Bord. Viele alte Bekannte und Freunde trafen wir da: Ullman, den Präsidenten des Storthings; von Bar von der Universität in Göttingen; Marcuarto; Baron Pirquet u.a. Es war zwei Uhr nachmittags, der Himmel wolkenlos blau, im hellsten Sonnenglanze lag der Fjord, und eine kühle Brise bewegte die Luft. Ein Militärorchester war an Bord, und beim Klang der norwegischen Hymne setzte sich unser Dampfer in Bewegung. Von den Masten flatterten Wimpel in den verschiedenen Farben der auf der Konferenz vertretenen vierzehn Länder.

Wir machten viele neue Bekanntschaften. Die Frau des nachmaligen Ministers Blehr – damals war er Gesandter in Stockholm – erzählte mir von der in Norwegen schon vorgeschrittenen Frauenbewegung; von der Erlangung des Stimmrechts seien sie nicht mehr weit. Von den Frauen der Staatsmänner bis zu den Bäuerinnen herab nehmen alle regen Anteil an dem politischen Leben. Ich fragte, ob es denn wahr sei, daß Schweden und Norwegen wie die feindlichen Brüder leben. »Nein,« antwortet Frau Blehr, »das Verhältnis stellt eine Ehe vor, in der der Mann alles, die Frau nichts zu sagen hat, und das gibt nach modernen Begriffen keine glückliche Ehe. Norwegen spielt in der Union die Rolle dieser autoritätslosen Frau, und was es verlangt, ist – was heute die gleichberechtigte Gattin in der Ehe fordert: Das Recht der Persönlichkeit.«

Wir fuhren an einer kleinen Kriegsflottille vorbei, welche bereitstand, das Schiff der Parlamentarier einzuholen und ihm das Geleite zu geben. Eine Kriegs flottille zur Einholung des Friedensschiffes. Diese neue Gattung von Ehrung überraschte mich. Lund erzählte, daß es dem Komitee einige Schwierigkeiten gemacht, den Widerstand der Konservativen zu überwinden, die es nicht recht einsehen wollten, daß den Bekämpfern des Militarismus militärische Ehren erwiesen werden. Solche Parteien pflegen sich dem Begriff der gewaltlosen Verschmelzung der Gegensätze zu verschließen. Soldaten und Pazifisten brauchen sich nicht feind zu sein, nicht einander auszurotten suchen, sondern zu einer höheren Einheit sich verbinden: zur Heeresmacht des gesicherten Rechtsschutzes.

Grüße und Rufe wurden auch zwischen unserem Schiffe und der Flottille getauscht, obwohl dies gegen die Verabredung war: Auf der Hinfahrt sollte man keine Notiz voneinander nehmen. Gegen fünf Uhr begegneten sich die Schiffe. John Lund und andere Storthingmitglieder ließen sich zum Parlamentsdampfer rudern und stiegen zur Begrüßung an Bord. Die Festung Oskarburg feuert[491] Salut. Unterhalb der Festung sind Truppen aufgestellt, und ein in drei regelmäßigen Absätzen neunmal wiederholtes Hurra (das ist der nordische Hurrarufbrauch) tönt laut und deutlich herüber, und die Flaggen senken sich grüßend. Oberhalb Oskarburgs, da die beiden Parlamentarierschiffe ankamen, setzten sich die Kriegsschiffe an die Spitze, um den anderen das Geleite in die Kongreßstadt zu geben.

Um neun Uhr abends – aber bei hellem Tageslicht – fahren wir in Christiania ein. Der Damm war seiner ganzen Länge nach mit jubelnden Volksmassen gefüllt; aus allen Seitengassen strömten Menschen herbei.

Am 1. August abends allgemeine Zusammenkunft mit Konzert im Hans-Haugen, einem auf einer Anhöhe gelegenen öffentlichen Garten. Treffen alte Bekannte: Dr. Barth aus Berlin; Dr. Harmening aus Jena; Pierantoni aus Rom; Senator Labiche aus Paris; Graf Albert Apponyi aus Budapest; Gniewocz und Dr. Millanich aus Wien. Auch viele neue Delegierte, die zum erstenmal eine interparlamentarische Konferenz besuchen, werden mir vorgestellt. Darunter einige Mitglieder des Zentrums im deutschen Reichstage; Dr. Herold und ein paar Jungtschechen aus dem österreichischen Parlament.

Eine hünenhafte Gestalt kommt auf mich zu. Den charakteristischen Kopf mit der weißen Löwenmähne erkenne ich sofort: O Freude – es ist – Björnstjerne Björnson. Er küßt mir die Hand, und wir sprechen eine kurze Weile; aber schon eilt ein zartes Frauchen im weißen Kleide daher. »Man sucht dich, Vater ...« Björnson stellt mir seine Tochter vor: Frau Ibsen.

In einem großen Saale war für sämtliche Gäste ein Büfett aufgestellt. Während des Festes kamen die Zeitungen mit Berichten über den Konferenzschluß im Haag. Am lebhaftesten wurde eine Stelle aus Beauforts Rede kommentiert. Für den Stillstand der Rüstungen habe man technischer Schwierigkeiten wegen nur die Formel nicht gefunden, die sich gleichzeitig den neuen Verhältnissen aller Länder anpassen ließe, aber im Prinzip sei man einig, daß diese Formel gesucht und gefunden werden müsse. Da war nun eine Aufgabe für die Interparlamentarische Union vorgezeichnet: weiter ausbauen, was im Haag begonnen worden.

Heute – 1908 – ist aber jene Formel noch nicht gefunden. Die Parlamentarier (mit wenigen Ausnahmen), wenn sie nicht bei der Konferenz, sondern in den Parlamenten sind, tun nichts als bewilligen, bewilligen. Das Studium der Frage wurde von der ersten zur zweiten und von der zweiten zur dritten Haager Konferenz geschoben,[492] und sie ist noch immer unstudiert. Wo es keinen Willen gibt, gibt es keinen Weg.

Am folgenden Tage, ich kehre zu 1899 zurück, feierliche Eröffnung im Storthing. Bei den früheren Konferenzen waren kaum mehr als 60 bis 80 Parlamentarier anwesend; diesmal mehr als 300. Deutschland, das sonst durch 2 oder 3 Abgeordnete vertreten war, hatte nach Christiania 40 gesendet; Frankreich 26, Oesterreich 14. Wenn das so fortgeht, wird man eigene Hallen bauen müssen für das – Interparlament.

Aus der Eröffnungsrede des Staatsministers Steen habe ich mir den Schlußsatz notiert:

»Und so werden wir denn siegen – den Besiegten zum Segen!« Damit ist das Kriterium dessen ausgedrückt, was alle edeln Kämpfer der Zukunft erreichen sollen.

Präsident Ullman erstattete Bericht über die Nobelstiftung: Die erste Verteilung findet am 10. Dezember 1901 statt. Die bis dahin laufenden Zinsen werden als Grundkapital angewendet zur Schaffung eines Instituts Nobel in Christiania, d.h. eine Zentralanstalt für Studium und Entwicklung des Völkerrechts. Von den jährlichen Zinsen des Legats (200000 schwedische Kronen) werden zum Unterhalt des Instituts 50000 Kronen zurückbehalten.

Zum erstenmal waren diesmal auf der Interparlamentarischen Konferenz die Vereinigten Staaten von Nordamerika vertreten. Mr. Barrows erzählt, daß es in seinem Lande viele Leute gibt, die niemals einen Offizier erblickten, und manche Offiziere, die niemals ihr ganzes Regiment gesehen. Daß der Jingogeist, der durch den letzten Krieg mit Spanien erwacht ist und der so sehr mit den Grundprinzipien des Sternenbannerlandes in Widerspruch steht, nicht die Oberhand gewinnen werde, das glaubt Mr. Barrows – namentlich im Hinblick auf die den Delegierten zur Haager Konferenz mitgegebenen Instruktionen und Vorschlägen – verbürgen zu können.

Damals also war der erste amerikanische Vertreter auf dem Plane der Interparlamentarischen Union erschienen; seit letzter Zeit aber nimmt die Neue Welt den ersten Platz in der allgemeinen Friedensbewegung ein. Von dort wird dem alten Weltteil der Impuls, das Beispiel – vielleicht die Notwendigkeit kommen, das Vereinigte Europa zu schaffen.

Nach Mr. Barrows sprach Graf Albert Apponyi. Er teilte mit, daß Koloman von Szell, der gewesene Obmann der ungarischen Interparlamentarischen Gruppe, gegenwärtig Ministerpräsident geworden. Feurig, beredsam wie immer floß Apponyis Rede, und[493] als er geendet, ging Björnson auf ihn zu und drückte ihm die Hand.

Abends Garden-party bei Staatsminister Steen. Hier traf ich mit Ibsen zusammen. Vor langer Zeit hatte ich an ihn geschrieben, um seine Ansicht über die Friedenssache einzuholen; er antwortete damals, daß er ganz der dramatischen Kunst lebe und über die beregte Frage gar keine Ansicht habe. Ich wollte ihn nun fragen, ob seine Anwesenheit ein Zeichen eines solchen erwachten Interesses für die Bewegung sei, es trat aber jemand dazwischen, und ich kam nicht mehr dazu, das unterbrochene Gespräch wieder aufzunehmen.

Am nächsten Nachmittag lernten wir sämtliche anwesende Mitglieder der französischen Gruppe kennen. M. Catusse, der neuakkreditierte Gesandte Frankreichs in Stockholm, den wir schon von Nizza und Haag her kannten, hatte alle seine französischen Kollegen zu sich zum Tee eingeladen und mich und meinen Mann auch dazu aufgefordert. Wir fanden mehr als ein Dutzend Mitglieder der Kammer und des Senats, darunter den gewesenen Ministerpräsidenten Cochery.

Man sprach von Léon Bourgeois. Anläßlich der letzten Kabinettskrise war er vom Haag nach Paris gekommen, und dort habe er mehreren der Herren gesagt, daß er sich weigern würde, die Bildung eines neuen Kabinetts zu übernehmen, weil er das Werk, das er im Haag zu vollenden habe, für wichtiger halte.

Senator Labiche erzählte, daß gestern, als er Björnson vorgestellt wurde, dieser ihn mit der Frage ansprach: »Etes-vous Dreyfusard?« Denn Björnson ist selber ein solcher.

Der Tag und Abend schloß mit einem von der Stadt gebotenen Feste. Hundertfünfzig Equipagen waren bereitgestellt und führten die Gäste nach dem Ausflugsort Frognersättern, zu welchem der zwei Stunden lange Weg unausgesetzt bergan durch dichte Hochwaldungen führt, an all den roten Bauernhäuschen vorbei, die dem »Land der tausend Heimstätten« – wie der Dichter der Nationalhymne (Björnson) sein Vaterland nennt – die eigentümliche Physiognomie verleihen. Mitten im Walde, auf den Höhen kommt man an silberblinkenden Seen vorbei, und wo sich ein Ausblick bietet, zeigen sich in immer wechselnder Schöne Fjord und Stadt.

Am zweiten und letzten Verhandlungstag dauert die Sitzung von neun bis fünf Uhr. Hauptpunkt der Tagesordnung: Die Haager Konferenz. Stanhope verliest eine Botschaft, die W. T. Stead aus dem Haag mitgebracht hat, unterzeichnet von Beernaert, Rahusen, d'Estournelles, Descamps u.a. In dieser Botschaft wird den in[494] Christiania versammelten Kollegen der Erfolg der Schiedsgerichtsfrage mitgeteilt – ein Erfolg, der, wenn man ihn einstens erfassen wird, als die Krönung des neunzehnten Jahrhunderts erkannt werden wird. Zum Schlusse der Botschaft hieß es: »Dies ist also die Maschine, welche die Haager Konferenz geschaffen hat, und an Ihnen, Vertreter des Volkes, und an den Völkern liegt es, den Dampf dazu zu liefern.«

Einer Aufgabe, der – ich wiederhole es mit Bedauern – weder die Völker noch ihre Vertreter bis heute gerecht geworden sind.

Als Ort und Datum für die nächste Konferenz wurde Paris, 1900, bestimmt.

Der letzte Abend brachte das vom Storthing gebotene Schlußbankett. Als erster Redner erhob sich Björnson. Er sprach Französisch. Der etwas singende Ton paßt zwar nicht zum französischen Akzent, aber der Schwung und die Begeisterung des Vortrags halfen darüber hinweg. Sein Thema war: »Die Wahrheit«. In der Politik will Björnson die Wahrheit eingeführt sehen – die Politik soll ethisch werden. Dazu muß natürlich jeder »Realpolitiker«, der sich respektiert, mitleidig lächeln. Nach Aufhebung der Tafel zerstreuten sich die Gäste – 400 an der Zahl – in die vielen Nebenräume. Hier erschien ein Trupp junger Leute in netten schwarzen Anzügen und weißen Mützen (ich hielt sie für Studenten, es waren aber Handwerker) und sangen norwegische und deutsche Chöre. Björnson hielt eine Ansprache an sie, und sie selber richteten an alle anwesenden Männer und Frauen, die für den Frieden, dieses für die arbeitenden Menschen wichtigste Gut, arbeiten, Worte des Dankes.

Beim schwarzen Kaffee hatte ich endlich eine lange Unterhaltung mit Björnson. Ich möge ihm verzeihen, daß er mir keinen Besuch gemacht, aber er habe keinen Moment der Ruhe. Man betrachte ihn als Allerweltsratgeber. Junge Dichter bringen ihm Manuskripte, junge Theateraspirantinnen spielen ihm Heroinenrollen vor, und er vermag niemand abzuweisen. Von den Arbeitern, die eben gesungen, erzählte er, daß in seinem Lande diese Klasse mehr Anteil an geistigen Dingen nehme als die höheren Schichten. »Viel früher ward ich von diesen gekannt als von der sogenannten Intelligenz.«

»Und nicht wahr,« fragte ich, »die Bauern sind auch hierzulande sehr vorgeschritten – es soll keine Analphabeten unter ihnen geben.«

»O, die Bauern,« rief Björnson, »die sind unseres Reiches Stütze, sind dessen Säulen.«[495]

Die Rückreise von Norwegen machten wir in Gesellschaft Blochs, jedoch nur bis Berlin. Dort trennten sich unsere Wege; Bloch fuhr nach Warschau und wir nach Wien und Harmannsdorf.

Hier erwartete uns Trauriges und Fröhliches.

Meine Tante Büschel, die ich jede Woche in dem benachbarten Eggenburg zu besuchen pflegte, um von alten Zeiten, von Elvira, von meiner Mutter mit ihr zu reden, meine Tante war während unserer Abwesenheit nach kurzer Krankheit, von meinen Verwandten betreut, sanft verschieden, neunundsiebzig Jahre alt. Das letzte Stück lebendiger Jugenderinnerung war mit ihr ins Grab gesunken.

Das Fröhliche war eine Verlobung. Die ganze Familie aus dem benachbarten Stockern kam am Tage nach unserer Rückkehr in Harmannsdorf angefahren, begleitet von einem jungen Vetter, Baron Johann Baptist Moser. Alle sahen so sonderbar aus, flüsterten untereinander, machten geheimnisvolle Gesichter. Als wir um den Gabelfrühstückstisch versammelt und beim Dessert angelangt waren, erhob sich plötzlich mein Schwager Richard, räusperte sich feierlich und sprach:

»Meine Lieben – hierdurch teile ich mit, daß gestern abend meine liebe Tochter Margarete und mein lieber Neffe Moser sich miteinander verlobt haben.«

Allgemeiner Jubel, und mir speziell traten Freudentränen in die Augen. Ich hatte mir schon lange gewünscht, daß diese beiden allerliebsten, so gut zueinander passenden Leutchen ein Paar würden, und darum war mir die Nachricht so freudig.

An Arbeit fehlte es mir nicht. Das unterbrochene Haager Tagebuch mußte fertiggemacht werden; ebenso die Berichte für die Monatsschrift. Uebrigens sollte diese mit Jahresschluß zu erscheinen aufhören und in die von A. H. Fried herausgegebene »Friedenswarte« übergehen, deren regelmäßige Mitarbeiterin ich heute noch bin.

Eines Tages erhielt ich mehrere Exemplare des »Budapester Tagblatt«, einen vortrefflichen Artikel des Grafen Albert Apponyi enthaltend, worin er Günstiges über die Haager Konferenz berichtet und die Anregung zu einer mit der Interparlamentarischen Union verbundenen Presseliga gibt. Ich dankte dem Grafen für die Zusendung und lobte den Inhalt. Darauf erhielt ich folgenden Brief:


Eberhard, 28. August 1899.


Sehr verehrte Frau Baronin!


Für Ihre freundlichen Zeilen dankend, muß ich bemerken, daß ich allerdings Wert darauf lege, meine Erörterungen Ihrem[496] sehr kompetenten Urteil zu unterbreiten, daß aber der Gedanke, Sie mit mehreren Exemplaren des »Budapester Tagblatt« zu belästigen, ausschließlich der Redaktion dieses Blattes zur Last fällt. Meinerseits wäre dies unverantwortlich anspruchsvoll gewesen.

Es freut mich, daß die Gedanken, die ich niederschrieb, Ihre Billigung finden. Der Optimismus, den ich zur Schau trage, ist aber mehr ein taktisches Manöver als wirkliche Ueberzeugung. Die Großmächte waren im Haag mehr als flau, und ich bin nicht ganz sicher, daß ihr Beitritt zu den Haager Vereinbarungen – insbesondere von Deutschland und Oesterreich-Ungarn – erfolgen wird. Die Herrscher wollen die Sache nicht; sie wollen den Krieg auch nicht, aber jede Institution, in der sie eine Einschränkung ihrer Machtvollkommenheit (Gutes oder Böses zu tun) erblicken, ist ihnen instinktiv zuwider.

Inzwischen werden wir in Ungarn – wo wir vielleicht nach der wohltätigen parlamentarischen Revolution dieses Winters auf dem Wege der Gesundung sind (aber ich wiederhole: vielleicht) – das möglichste tun, um durch konstitutionelle Pressionsmittel unsere Monarchie in das richtige Fahrwasser zu bringen. Meine Position ist für diesen Zweck eine bessere geworden und ich will sie gewiß ausnützen. Ich werde auch trachten, die Liga der Presse zustande zu bringen, auf die ich in meinem Artikel anspiele, welche die Verbindung zwischen der Interparlamentarischen Union und der Bevölkerung zu bilden berufen ist. Im übrigen kann nur die gütige Vorsehung aus so schlechtem Material etwas Gutes schaffen.

In aufrichtiger Verehrung Ihr ganz ergebener

Albert Apponyi.


Wenn ich in meinem Tagebuch aus jener Zeit blättere, finde ich, daß drei verschiedene Gegenstände mir die Seele mit je verschiedenen Stimmungen füllten. Da war mein großes Lebensinteresse, mein »Wichtiges«, das jetzt gerade durch die Haager Konferenz auf eine so gewaltige Entwicklungsstufe gekommen war. Es war fast, als ob das vor wenigen Jahren noch so entfernte Ziel in sichtbare Nähe gerückt sei, so sichtbar und so nahe, daß es bald alle gewahren und daher darauf zuschreiten müßten. Was mir zu leisten oblag, sah ich klar vor mir: Die Ergebnisse der Konferenz meinen Landsleuten soviel als möglich bekanntzumachen, und dieser Aufgabe widmete ich mich eifrig, indem ich zahlreiche Zeitungsartikel und mein Haager Konferenzbuch schrieb. Freilich, nicht ungeteilte Freude beseelte mich dabei, denn ich war ja im Haag selber Zeugin von dem Widerstand, dem offenen und versteckten, gewesen, der sich der Verwirklichung der »krieglosen Zeit« entgegenstemmte; desto dringender[497] war die Pflicht, im Dienste der Sache all die neuen Tatsachen und Handhaben zu benützen, die der gegenwärtige Stand der Bewegung ihren Verteidigern bot. Noch etwas stand gar drohend am Horizont: Die Kriegspartei in England schien die Oberhand zu gewinnen, der Uitlanderstreit in Transvaal spitzte sich immer mehr zu – wie, wenn es da zum Kriege käme? Das würde das begonnene Friedenswerk diskreditieren und auch tatsächlich zurückschleudern. Gibt es zwischen den zwei Mächten »Gewalt und Recht« wieder einen Siegestag für die Gewalt?

Ein anderer Gegenstand meines Sorgens und Denkens waren unsere häuslichen Verhältnisse. Die Verluste in den Steinbrüchen, Mißernten und falsche Spekulationen hatten sich so stark gemehrt, daß es kaum mehr möglich war, noch viel länger das geliebte Harmannsdorf über Wasser zu halten. Und was dann? Welcher Schmerz für die alte Mutter, für die Schwestern und auch für den Meinen, wenn das Heimatsnest verloren wäre!

Das dritte Stimmungsgebiet, das lag innerhalb unseres Eheglücks. Hier stand mein eigentliches, unverlierbares Heim, meine Zuflucht für alle denkbaren Lebenslagen – ein Ding jenseits von Harmannsdorf und Transvaal, jenseits von allem übrigen, komme was da wolle ... und so füllten sich die Blätter meines Tagebuches neben allen politischen und hauswirtschaftlichen Eintragungen mit den Rekords unserer frohen, kleinen Späße, unserer traulichen, genußreichen Spaziergänge, unserer erhebenden Lektüre, unseres gemeinsamen Musizierens und unserer allabendlichen Schachpartien. Es konnte uns eigentlich nichts geschehen. Wir hatten einander – das war alles.

Daß wir auch auseinander gerissen werden konnten durch den Allvernichter Tod – daran verscheuchten wir jeden Gedanken. Ich war zwar damals nicht sehr gesund und ich glaube, der Meine machte sich darüber auch einige Sorge. Ich war plötzlich so matt geworden; das Gehen fiel mir schwer, nach wenigen Schritten war es mir oft zum Hinsinken schwindlig im Kopfe. Der Meine schleppte mich zu einem Arzte. Ich sage »schleppte«, weil ich mich mein Leben lang gegen ärztliche Behandlung gesträubt habe. Dieser Arzt untersuchte mich und fragte mich aus und verordnete – – ich gebe es zu erraten und schreibe dies hier nieder, weil es doch ein interessanter Fall ist. Ich habe nämlich die Verordnung befolgt (was auch gegen meine Gewohnheit verstieß; bis jetzt hatte ich Medizinen nur dazu benützt, sie zum Fenster hinauszuwerfen), und zweitens weil sie mir geholfen hat. Bin darauf in kurzer Zeit gesund geworden wie ein[498] Fisch im Wasser. Also der Doktor verordnete – Radfahren. Ich – eine schwergewichtige Frau von sechsundfünfzig Jahren, die nie auf einem Rade gesessen, sollte nun diesen Backfischsport treiben! Es war komisch, aber ich tat's. Die Verordnung lächelte mir gewaltig zu. Es war immer mein Neid gewesen, dieses Dahinfliegen auf den dünnbeinigen, stählernen Rößlein, und ich bedauerte, daß ich zu bald geboren war, um diese Wonne noch kennen zu lernen. Jetzt wurde es mir als Gesundheitspflicht auferlegt. Alsogleich ging's ans Radkaufen, und einer der Diener des Schlosses wurde zu meinem Lehrer befördert. Er half mir auf das Ding hinauf und ich fiel herunter. Wieder hinauf, wieder hinab, so etwa zwanzigmal hintereinander. Das war die erste Lektion.

»Wär's nicht besser, es mit einem Dreirad zu versuchen?« frug der Meine ängstlich, dem dieses Debut kein Vertrauen einflößte. Davon wollte ich nichts wissen: »Radeln hat der Doktor befohlen – und geradelt wird.« Mit einer Ausdauer, die ich selber an mir bewundern mußte, habe ich den Unterricht fortgesetzt; immer seltener fiel das Rad um, immer seltener wurden die Bäume, gegen die ich direkt anstieß, und nach langer Lehrzeit – ich will gar nicht sagen wie lange – radelte ich fesch in den Alleen des Parkes herum und brachte es sogar zu elegant ausgeführten Achtern. Dabei wurde mir so wohl, das Blut zirkulierte in erfrischter Kraft, das Dahinsausen empfand ich als wirkliche Wonne, mit den Mattigkeitsanfällen war's aus, ich wurde schlanker und hatte mitunter ein Gefühl, als ob mir Jugend, Jugend durch die Adern strömte.

Die Dinge in Transvaal wurden immer schlimmer. Das aufgehetzte Volk in England verlangte den Krieg. Die Londoner Pazifisten machten die äußersten Anstrengungen, um das Unglück abzuwehren; sie veranstalteten Meetings, sie schrieben in den Blättern, W. T. Stead gründete ein neues Wochenblatt »War against war« – alles umsonst. Wer für Frieden plädiert, wird verpönt, fällt als »Little-Englander«, wenn nicht gar als Landesverräter der Verachtung und Schmähung anheim. Die Saalinhaber geben ihre Säle nicht mehr zu Friedensmeetings her, und wo solche doch stattfinden, werden sie vom anstürmenden Mob gesprengt. Sogar zu Tätlichkeiten kommt es. Bei einer öffentlichen Versammlung, welche die Peace-Association auf Trafalgar-Square abhält, wurden auf die Redner nicht nur Injurien, sondern auch Projektile geschleudert; an dem Kopf von Felix Moscheles flog knapp ein offenes Federmesser vorbei.[499]

Unterdessen wird in Rennes der zweite Prozeß Dreyfus zu Ende geführt, und zwar mit derselben militärfanatischen Parteilichkeit wie in den Tagen, da Esterhazy gefeiert und Zola mit den Rufen »A l'eau, à l'eau!« verfolgt ward. Jetzt versucht ein wütender Anti-Dreyfusard sogar einen Mordanschlag auf den Verteidiger Labori. Das Militärgericht beantragt die Todesstrafe für Dreyfus – aber er wird »begnadigt«! –

In Wien findet eine Versammlung statt, in welcher Dr. Lueger erklärt: »Dreyfus gehört auf die Teufelsinsel und alle Juden dazu.« Dies veranlaßte den Meinen zur Einberufung einer Gegenversammlung seines Vereins. Das Ankämpfen gegen Volkswut und gegen Gehässigkeit ist ein schweres – scheinbar ganz erfolgloses Beginnen. Schmerz und Empörung und bitteres Ohnmachtsgefühl erfaßt den Kämpfer, aber dennoch – er kann nicht anders – er muß. Und da nichts, nichts auf der Welt verloren geht, wirken solche Proteste, wenn sie auch momentan verhallen, sicherlich auf ihre Weise nach.

Im Deutschen Reiche wurde ein großartiger Flottenplan entworfen. »Unsere Zukunft liegt auf dem Wasser« – daher gewaltige Rüstungsvermehrung zur See. Genau das Gegenteil von dem, was der Haager Konferenz zugrunde lag. Bloch schreibt mir, Kaiser Wilhelm solle dem Zaren die Friedenssache (nämlich in der Form von Schiedsgericht und Rüstungseinschränkung; für Erhaltung des Friedens im Schutze der Bajonette sei ja der deutsche Kaiser auch) ausgeredet haben, als gegen die dynastischen Interessen verstoßend.

Der Südafrikanische Krieg bricht aus. Unsere Gegner höhnen: »Also das ist die Folge der Haager Konferenz?«

Ich hatte gewünscht, von dem so angesehenen englischen Friedenskämpfer Philipp Stanhope eine Meinungsäußerung über das eingetroffene Unglück, von dem ich wußte, wie sehr es auch ihn betrüben mußte, in meiner Monatsschrift zu veröffentlichen. Er antwortete, daß es unziemlich wäre, während sein Land in Krieg verwickelt sei, seine Ansichten in ausländischen Blättern kundzutun. Jetzt, da der Krieg längst vorüber, liegt in der Wiedergabe seines Schreibens keine Indiskretion mehr:


Padworth House Reading, November 19th 1899.


Dear Baroness von Suttner,


I have to thank you most sincerely for your letter. In times like these, when one finds oneself in a small minority, the encouragement of friends is of great service and no one is more authorized than yourself to speak upon such an issue, having for many years given your life to the service of the cause of peace.[500]

Just now it is impossible to write anything for publication in a foreign journal.

While we are in the throes of a great war it would be unseemly to do so, and I will therefore ask you to kindly excuse me in this regard for the present. I may, however, say to yourself as a friend what I could not publicly say about the situation.

I think the Jingo feeling is subsiding in England. Now that the people are at last realizing what war means, there is less shouting and enthusiasm. I am told that even in the Music Halls this tendency is very marked. Of course patriotic songs will always command a large audience and excite natural patriotic emotions, but people are beginning to think and to ask themselves what the war is about, and whether warfare is the best way of really pacifying South Africa. I have great confidence in the ultimate good sense of my countrymen when the fever has passed away.

All the same, the path of idealists like ourselves is not made more easy by what has happened.

I hope Baron von Suttner is well. Kindly remember me to him and allow me to subscribe myself as very sincerely yours.

Philip Stanhope.


Zur Jahresversammlung meines Vereins erbat ich mir die Meinungsäußerung des Grafen Nigra. Der Botschafter antwortete mit folgendem Brief:


Rome, Grand Hôtel, le 29 novembre 1899.


Madame la Baronne,


Vous avez bien raison de saisir l'occasion de réunion de l'Assemblée de la société autrichienne de la Paix pour demander un mot d'approbation et d'encouragement à ceux qui ont travaillé pour la paix dans la Conférence de la Haye. Cette conférence a eu à subir deux contretemps; l'affaire Dreyfus et le conflit du Transvaal. Le premier a distrait de notre œuvre l'opinion publique du monde; l'autre a semblé la contredire. La coïncidence a été assurément fort regrettable. Mais ce ne sont là que des incidents passagers; tandis que notre œuvre est destinée à durer dans le cours des temps. On accuse la conférence de n'avoir pas produit des résultats immédiats. A vrai dire, nous ne nous faisions aucune illusion à ce sujet. Nous savions bien que nous n'aurions pas travaillé pour assurer la paix du monde du jour au lendemain. Par contre, nous avions la conscience de travailler pour l'avenir de l'humanité. Au surplus, est-il bien vrai que la conférence n'a eu aucun effet immédiat? Je pense que le seul fait qu'une telle conférence a été convoquée par un puissant monarque, comme l'empereur de Russie, qu'elle a été acceptée par toutes[501] les puissances, et qu'elle a pu se réunir et travailler pendant des mois dans le but de rendre les guerres moins fréquentes et moins douloureuses pour les populations, ce seul fait est déjà un grand résultat. Il prouve tout au moins que les idées de paix et d'arbitrage sont entrées dans la conscience des gouvernements et des peuples.

D'ailleurs, comme je viens de le dire, nous avions en vue, non pas le moment fugitif, mais l'histoire future du monde. L'arbre dont nous avons planté le germe, comme tout ce qui est déstiné à grandir et à jeter des racines profondes, ne doit croître que lentement. Nous ne pourrons pas nous reposer à l'ombre de ses branches, mais ceux qui viendront après nous en recueilleront les fruits. J'ai foi dans notre œuvre pour l'avenir. Les idées que nous avons soulevées dans l'esprit des gouvernements et des peuples ne peuvent pas s'évanouir comme des mirages trompeurs. Elles ont leurs raisons d'être dans la conscience universelle. Elles peuvent subir, dans leur application, comme toute conception humaine, des temps d'arrêt, et même, si on peut s'exprimer ainsi, des éclipses passagères. Mais rien n'empêchera leur cours. Le but que nous nous sommes proposé est celui d'une marche en avant dans le progrès. C'est la loi de l'histoire. Aveugle qui ne le voit pas!

Ainsi donc: sursum corda, et souvenons-nous que le Christ a blâmé les hommes de peu de foi. Vous pouvez le rappeler à votre assemblée afin qu'on le comprenne ailleurs.

Veuillez croire, Madame la Baronne, à mes sentiments bien respectueux.

Nigra.

Quelle:
Bertha von Suttner: Memoiren, Stuttgart und Leipzig 1909, S. 490-502.
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