15. Im Hause Suttner

[123] Sommer 1873. Der kurze Roman war nicht vergessen, aber verschmerzt. Die »auf Flügeln des Gesanges« angeschwebte Liebe war ja nicht allzu tief ins Herz gedrungen – das Ganze war vorbeigehuscht und dann entflattert wie ein Traum. Einige Wochen verbrachte ich in tiefer, aufrichtiger Trauer, dann aber versiegten allmählich die Tränen, und das Leben machte wieder seine Rechte geltend. Und das um so kräftiger, als ich ja vor die Notwendigkeit gestellt war, mir das Leben zu verdienen. Unser Vermögen war endgültig eingebüßt, ich mußte in die Welt hinaus. Meine Mutter konnte von ihrer Apanage leben, aber ich wollte ihr nicht zur Last fallen, obwohl sie mich beschwor, bei ihr zu bleiben und doch wieder zu versuchen, die Künstlerlaufbahn aufzunehmen. Davon wollte ich gar nichts mehr wissen. Dreißig Jahre: das ist kein Alter, eine Künstlerlaufbahn zu beginnen, und die Erinnerungen der durchgemachten Angstqualen, die verschiedenen Probefiaskos hatten mir den bloßen Gedanken an den »Singsang«, wie ich's nannte, verhaßt gemacht. Und untätig, in dürftigen Verhältnissen zu Hause bleiben und da versauern, das wollte ich auch nicht. Welt wollte ich noch sehen, Arbeit wollte ich leisten. Mit meiner vollkommenen Beherrschung des Französischen, Englischen und Italienischen, mit meiner für eine Nichtberufskünstlerin überragenden Musikkünstlerschaft, mit meinen sonstigen umfassenden Kenntnissen konnte ich draußen nutzen und glänzen. Also nahm ich eine Stellung an, die sich mir bot, als Erzieherin und Kameradin von vier erwachsenen Töchtern im freiherrlichen Hause Suttner. Hier erst sollte ich die Krone meines Lebens erringen. Gesegnet sei der Tag, der mich in dieses Haus geführt, er war die Knospe, aus der sich die Zentifolie meines Glückes entfaltet hat. Jener Tag auch öffnete die Pforte, durch die jene Bertha Suttner treten konnte, als die – mit ihren Erfahrungen reinsten Eheglückes und tiefsten Witwengrams, mit ihrem Teilnehmen an den bewegenden Fragen der Zeit – ich mich heute noch fühle, während jene Bertha[123] Kinsky, von der ich bisher erzählte, mir wie eine Bilderbuchgestalt vorschwebt, deren Erlebnisse – in vagen Umrissen – ich wohl kenne, mich aber nicht berühren.

Die Familie Suttner bewohnte ihr eigenes Palais in der Canovagasse in Wien. Die eine Front hatte die Aussicht auf die Karlskirche jenseits des Wienflusses, die andere auf das Musikvereinsgebäude. Den ersten Stock bewohnten wir, d.h. der Baron, die Baronin, die vier Töchter und ich; im Mezzanin wohnten der älteste Sohn Karl, seit einigen Monaten verheiratet mit einer wunderschönen Frau, geborenen Gräfin Firmian, und der dritte, jüngste Sohn, Artur Gundaccar. Der zweite Sohn, ebenfalls verheiratet, gewesener Rittmeister, der im Jahre 1866 in Böhmen mitgefochten, lebte auf der Herrschaft Stockern.

»Papa« Suttner, damals einundfünfzig Jahre alt, ein stattlicher Mann, österreichischer Kavalier von altem Schrot und Korn, konservativ, um nicht zu sagen reaktionär in seiner politischen Gesinnung, sehr gern gesehen bei Hofe. »Mama« ungefähr gleichaltrig, mit Spuren großer Schönheit, etwas steif und kalt in ihrem Gehaben. Die Töchter Lotti, Marianne, Luise und Mathilde, zwanzig, neunzehn, siebzehn und fünfzehn Jahre alt, eine hübscher als die andere. Besonders Mathilde, das Lieblingskind der Mutter, hatte mit ihrem gewellten Blondhaar, ihrem blendenden Teint und regelmäßigen Zügen ein wahrhaft engelhaftes Aussehen. Noch zwei Wesen gehörten zur Familie: Schnapsel, ein gelbhaariger Pintscher, steter Begleiter Papas und Mamas, und Amie, eine weiße kluge Pudelhündin mit lachender Physiognomie, die Vertraute der Mädchen.

Es war ein großer Haushalt; die Dienerschaft bestand aus Kammerdiener, Jäger, Bedienten, Kammerjungfer, Stubenmädchen, Koch, Küchenmädchen, Kutscher und Portier. Equipage und Opernloge. Die Wohnung – ich sehe sie noch vor mir: Vorsaal mit Gobelins an den Wänden, eine Flucht von drei Salons: ein grüner, ein gelber und ein blauer; das Schlafzimmer Mamas in Lila, das Schreibzimmer Papas, das auch als Rauchzimmer diente, mit Ledermöbel und Holzgetäfel an den Wänden. Dann noch zwei Zimmer für die Mädchen – Lotti und Marianne schliefen zusammen, ebenso Luise und Mathilde; daneben mein Zimmer.

Die Mädchen und ich waren bald die besten Freundinnen. Meine Erzieherrolle führte ich nicht gar zu streng aus; zwar gehörten einige Vormittagsstunden regelmäßig dem Sprachen- und Musikunterricht, im übrigen aber eitel Vergnügen, Scherz und Frohsinn. Die Würde meiner dreißig Jahre kehrte ich nicht heraus.[124] Ebensowenig die Autorität meiner Stellung. Gespielinnen waren wir fünf. Unsere Tageseinteilung war ziemlich regelmäßig. Morgens vor dem Frühstück Spaziergang in den nahen Stadtpark. Um neun Uhr in Papas Schreibzimmer gemeinsamer Kaffee. Dabei erkundigte sich Mama um den Fortgang der Studien und gab allerlei Verhaltungsmaßregeln und sonstige gute Lehren. Von zehn bis zwölf Unterricht. Zu Mittag gemeinsames Gabelfrühstück im Speisezimmer. Von ein Uhr an abwechselnd Musik, Lektionen u.s.w. bis zum Toilettemachen für das Diner, das um fünf stattfand. An diesem nahmen auch die Bewohner des Mezzanins, Karl samt Frau und Artur, teil. Dieser, damals dreiundzwanzigjährig, war der Liebling seiner Schwestern. Der Liebling aller übrigens. Ich habe keinen Menschen gekannt, keinen, der nicht von Artur Gundaccar von Suttner entzückt gewesen wäre. Selten wie weiße Raben sind solche Geschöpfe, die einen so unwiderstehlichen »Charme« ausströmen, daß dadurch alle, jung und alt, hoch und gering, gefangen werden; Artur Gundaccar war ein solcher. Ich übersetze das Wort »charme« absichtlich nicht mit Zauber, weil das französische Wort auch das abgeleitete »charmeur« anklingen läßt, ein Ausdruck, der mit Zaubrer sehr untreffend wiedergegeben wäre. Woraus solcher Charme besteht, läßt sich schwer beschreiben; es ist nicht so sehr ein Komplex von Eigenschaften, es ist eine Eigenschaft an sich. Es wirkt mit einer unerklärlichen und unwiderstehlichen, magnetischen und elektrischen Kraft. Man glaubt sich Rechenschaft geben zu müssen, warum gewisse Personen so anziehend und erfreuend wirken, soviel Vertrauen und Zuneigung einflößen, und schreibt dies ihrer Heiterkeit, ihrer Freundlichkeit, ihrer Schönheit, ihren Talenten zu, aber das ist alles nicht richtig; andere haben die gleichen Eigenschaften, vielleicht sogar viel größere, aber die gleiche Wirkung zeigt sich nicht, sie sind eben keine »charmeurs«. Sie sind keine Sonnenscheinmenschen. Artur Gundaccar war einer. Im Zimmer ward es gleich noch einmal so hell und so warm, wenn er eintrat. Das will nicht sagen, daß ich mich auf den ersten Blick in ihn verliebte, ich teilte nur die Freude, welche die vier Schwestern empfanden, wenn der Lieblingsbruder sich in ihre Scherze und Vergnügungen mengte, wenn er plaudernd in unserer Mitte saß, wenn er sich gelegentlich unseren Unterhaltungen und Ausflügen anschloß. Er konnte dies nicht allzuoft tun, denn er mußte eben an einer Staatsprüfung büffeln, was er freilich sowenig als möglich tat, denn er lernte zwar leicht, aber gar nicht gerne. Jusstudiumeifer gehörte nicht zu seinen Eigenschaften. »Ein fauler Strick,« so klagte sein ehemaliger Hofmeister, jetzt Korrepetitor;[125] »ein leichtsinniger Bengel,« so nannte ihn sein Vater – »es ist ein wahres Kreuz mit ihm,« seufzte die Mutter, und beteten ihn alle an dabei. Hübsch und elegant war er über alle Maßen. Fabelhafte musikalische Begabung besaß er; ohne gelernt zu haben, spielte er alles nach dem Gehör und komponierte entzückende Weisen. Und der Grundzug seines Charakters – ist das vielleicht das Geheimnis der Sonnenscheinwirkung? – der Grundzug war – Güte.

Ich bin von der Tageseinteilung abgekommen. Nach dem Speisen pflegte die Mama mit den einen oder den anderen Töchtern in den Prater zu fahren. Am liebsten meldete sich Mathilde, die jüngste, dazu, die anderen fanden kein Vergnügen an diesem im Schritt Aufundabfahren in der »Nobelallee«. Wir anderen fuhren indessen auch in den Prater hinab zur Ausstellung. Das Jahr 1873 war ja das Weltausstellungsjahr, zugleich aber auch das Jahr des »Krachs«. Bei diesem Krach hatte Baron Suttner senior einige empfindliche Verluste erlitten, doch seine Familie nichts davon merken lassen. Das hat man erst später erfahren.

Die Ausflüge und die Ausstellung waren sehr genußreich; an Sonntagen unternahmen wir sie an Vormittagen, und da schlossen sich uns Artur Gundaccar und einige seiner Freunde an. An den Abenden gingen wir zweimal wöchentlich abwechselnd in die Opernloge; zum Tee kamen fast täglich einige Besucher. Da wurde musiziert, gesellige Spiele gespielt und geplaudert bis elf Uhr. In diesem ersten Sommer, weil es der Ausstellungssommer war, blieb die Familie bis Mitte Juli in der Stadt. Erst dann wurde der Landaufenthalt, Schloß Harmannsdorf, bezogen. Für uns alle ein Fest, diese Uebersiedlung, denn die Mädchen waren zehntausendmal lieber draußen als in Wien, ebenso die Söhne. Es gibt nichts Köstlicheres, wenn man aus der heißen, staubigen Stadt kommt, als die Ankunft in einem schönen Schlosse, wo es in jedem Zimmer nach »frisch« duftet, wo man von Park und Wald umgeben ist, wo man einer langen Zeit des Naturgenusses und der Erholung entgegensieht.

Harmannsdorf besitzt ein schönes altes Schloß mit einem Mittelund zwei Ecktürmen; eine große Steinterrasse führt in den Park hinab, dessen vordere Partien in französischem Stil von Lejeune (dem Schöpfer Schönbrunns) angelegt, mit Vasen und Statuen reich geschmückt sind. Daran schließen sich Alleen mit vielhundertjährigen Fichten und englisch angelegte Partien, darunter eine ganz wilde, »das Wäldchen« genannt. Aber lieber noch als das Wäldchen war uns der wirkliche Wald. Da pflegten wir öfters an Nachmittagen hinzugehen; ein mit Eseln bespanntes und mit Eß- und Trinkvorräten beladenes[126] Wägelchen nebenher – es war, obgleich wir auf dem Lande waren, jedesmal ein Gefühl, als ginge es auf eine Landpartie. Und waren glücklich, glücklich. Artur Gundaccar war die Seele dieser Feste. Und mählich und selig war es über uns gekommen: wir hatten einander lieb. Die Schwestern gaben ihren lachenden Segen dazu. Die Eltern wußten nichts – von einer Heirat konnte ja nicht die Rede sein, sie hätten also der Sache nur schleunigst ein Ende gemacht. Warum das harmlose Glück stören, warum aus der »Sommernachtstraum« stimmung sich herausreißen? Und so hüteten wir unser Geheimnis, und die Schwestern hüteten es mit. Es war eine schöne Zeit. Nicht ohne Wehmut, weil wir eben wußten, daß eine Lebensverbindung unmöglich war; aber an die Trennung wollten wir vorläufig nicht denken, sondern uns an dem göttlichen Geschenk freuen, das uns durch das Zusammenschlagen, durch das Ineinanderlodern unserer Herzen beschieden war. Ohne Falsch, ohne Selbstsucht, in rückhaltlosem Zutrauen, in zärtlichster Innigkeit liebten wir uns.

Von Anfang an hatte ich erklärt, daß ich nach drei Jahren Europa verlassen würde und wir dann auseinander gehen müßten. Das war nämlich so. Mit meinen kaukasischen Freunden war ich in lebhaftem brieflichem Verkehr geblieben und hatte ihnen meine veränderten Lebensverhältnisse mitgeteilt. Die alte Fürstin von Mingrelien, die jetzt in ihre Heimat zurückgekehrt war, trug mir an, mich zu sich zu nehmen, aber erst bis sie mit dem Bau und der Einrichtung eines Schlosses fertig war, das sie in ihrer Residenz Zugdidi errichten ließ. Das alte Schloß, das der Fürst in europäischem Stil und mit großem Luxus eingerichtet hatte, war von den türkischen Banden, als die Dedopali flüchten mußte, vernichtet worden, und jetzt wollte sie sich ein neues, noch schöneres aufbauen. Ich hatte die Pläne gesehen und oft die Details der Ausschmückung zu hören bekommen. Da war ein Saal im persischen Stil, ein anderer im Stile Louis XIV; Möbel und Stoffe und Kunstwerke hatte die Fürstin während der Dauer ihres europäischen Aufenthaltes nach und nach angeschafft und nach Zugdidi expedieren lassen. Massenhafte Kisten waren dort schon aufgestapelt und harrten der Auspackung. Ich mußte ihr auch einmal etwas besorgen, nämlich einen großen Musikkasten (er durfte bis zu 15000 Franken kosten), welcher Orchesterstücke spielte. Ich erinnere mich, daß ich mich zu diesem Besorgungsgang von Artur begleiten ließ. Ein Musikwerk wurde aufgezogen und spielte zur Probe einen Walzer:

»Zu diesem Walzer werde ich vielleicht in Zugdidi tanzen,« sagte ich.[127]

»Als ob ich dich fortließe!«

»Es wird wohl sein müssen, ich bin entschlossen.«

»Reden wir nicht davon.«

Auch mit Salomé war ich in Briefwechsel. Sie wohnte in der Umgebung von Paris und hatte nun einem zweiten Söhnchen das Leben geschenkt. Die Kaiserin Eugenie war seine Patin, und es wurde Napoleon getauft. Nikolaus von Mingrelien war Adjutant des Kaisers von Rußland und lebte in Petersburg.

Hier ist ein Brief, den mir die Fürstin von einer Station ihrer Rückreise nach ihrem Heimatland schrieb:


Yalta, den 12. September 1873.


Meine liebe Contessina!


Nun sind es vierzehn Tage, daß ich hier angekommen bin. Ich bewohne eine reizende Villa, welche an dem Golfe liegt und von wo aus man den ganzen Ort sieht, sowie auf dem Berge mir gegenüber das Palais der Kaiserin, Livadia. Vorigen Sonntag nach der Messe war ich bei den Majestäten zum Frühstück geladen, wo ich mit dem Großfürsten und der Großfürstin Michael (Statthalter von Kaukasien), mit der Königin von Griechenland und anderen zusammentraf. Ich habe gefunden, daß die Großfürstin Maria Alexandrowna, die einzige Tochter des Kaisers, sehr viel gewachsen und schöner geworden ist, seit ich sie zuletzt gesehen. Ihr Bräutigam, der Prinz Alfred, wird nächste Woche hier erwartet. Niko und André sind in Mingrelien, wo sie meiner mit Ungeduld harren. Salomé soll am 24. ds. in Yalta ankommen, sie wird einige Zeit bei der Fürstin Orbeliani,1 der Witwe meines Vetters, bleiben, welche in der Nähe eine kleine Besitzung hat, und sich dann uns in Mingrelien anschließen. Ich verlasse Yalta am 3. Oktober und komme in Poti erst vier Tage später an. Adieu, liebste Contessina, ich wünsche Ihnen so viel Glück und Wohlergehen, als Sie verdienen.

Ihre Ihnen sehr zugetane

Ekaterina.


Im Frühjahre 1874 teilte mir die Fürstin hocherfreut mit, daß ihr Sohn sich mit der Tochter des Grafen Adlerberg, einem Jugendfreund des Zaren, verlobt habe.

Ein nächster Brief brachte die Beschreibung der Hochzeit, und in einem späteren wurde die Ankunft des jungen Paares in Gordi, der mingrelischen Sommerresidenz, geschildert. Ich setze diese Schilderung[128] hierher, denn sie gibt ein anschauliches Bild von dem Lande, in dem ich später mit meinem Gatten so lange Jahre verleben sollte:


Die Reise der Neuvermählten ist in vortrefflicher Weise vor sich gegangen. Sie hatten ein eigens für sie bestimmtes Schiff zur direkten Ueberfahrt von Odessa nach Poti und von dort einen Separatzug bis nach Kutais. Auf der ganzen Strecke gab es eine einzige endlose Ovation: die Bewohnerschaft hatte sich längs des Weges aufgestellt, und in allen Stationen empfingen sie die Fürsten, Edelleute und Einwohner der Bezirke mit Gesang, Freudenrufen und Gewehrsalven; sie mußten notgezwungen haltmachen, um sich unter die Blumentempel zu begeben, wo die Erfrischungen bereitstanden, und hierauf begann von neuem Gesang, Tanz und andere Belustigungen.

In Kutais blieben die Reisenden zwei Tage, wo die Festmahle, Bälle und Empfangsabende kein Ende zu nehmen drohten, so daß das Paar sich in aller Stille davonmachte, um endlich in Gordi anzukommen.

Am Eingang des Bergpasses befindet sich eine Brücke, die über einen reißenden Strom führt. Dort verläßt man die Wagen, da man nur zu Pferde oder im Palankin auf die Höhe gelangen kann.

Nachdem somit alles den Equipagen entstiegen war, überschritt man die teppichbelegte Brücke, die prächtig mit Blumen überwölbt und mit einem Triumphbogen geschmückt war, welcher die Grenze Mingreliens bezeichnete.2 Hierauf begab man sich unter einen geschmackvoll dekorierten Pavillon, wo das Paar von einer Abteilung Beamten und Diener meines Sohnes sowie von allen Fürsten und Edelleuten der Umgebung empfangen wurde. Nachdem die Gesundheit der Neuvermählten ausgebracht worden, stiegen alle, die beritten waren, zu Pferde, um den Palankin Marys zu umgeben, und der imposante Zug setzte sich in Bewegung, die Straße entlang, die sich sieben Kilometer hindurch fortwährend bergauf zieht.

Beim ersten Kanonenschuß, der ihre Ankunft verkündigte, begab ich mich mit meinem Gefolge auf den Balkon ihres Wohnhauses, wo ich zuerst den Reitertrupp des Fürsten aus dem Letschgum empfing, die den Ankömmlingen unter Führung des Fürsten Gregor, Nikos Oheim, voranritten; dann erblickte ich das junge Paar, das unter dem Geläute sämtlicher Glocken, den Marschklängen des Militärorchesters und dem Getöse der von den Bergen widerhallenden Kanonenschüsse näherkam und nach der Landessitte vom Intendanten an der Spitze seiner Leute das Brot und Salz entgegennahm. Hierauf eilten sie auf mich zu, knieten vor mir nieder, um meinen Segen mit[129] dem Heiligenbilde auf der Schwelle ihrer neuen Behausung zu empfangen. Dieser Moment war so ergreifend und so feierlich, daß der Lärm der wogenden Menge plötzlich in die tiefste Stille überging; allen standen die Tränen in den Augen; besonders gerührt zeigte sich Mary, so daß ich sie ins Innere des Hauses führen mußte, um ihr Zeit zur Erholung zu geben.

Endlich begaben wir uns von hier in die Kirche, wo das Tedeum gefeiert wurde, und der Archimandrit sowie mein Almosenier ihre auf den Gegenstand bezughabenden Ansprachen hielten. Nach beendigter Kirchenfeierlichkeit führte ich meine Schwiegertochter in den großen Saal, um ihr dort mein Geschenk, einen Diamantschmuck, zu überreichen. Was das Wohnhaus betrifft, das ich ihnen eingerichtet habe, so möchte ich es ein wahres Schmuckkästchen nennen.

Wir ruhten uns kurze Zeit aus, dann nahmen die Festlichkeiten ihren Anfang, die sich bis spät in die Nacht ausdehnten; Orchestervorträge, Nationalgesänge und -tänze, Freudenschüsse, Spiele, Ringkämpfe wechselten miteinander ab. Die Zahl der Gäste betrug dreihundert, von denen ein Teil unter den großen Bäumen im Park speiste. Am nächsten Tag ging es von neuem an, denn wir feierten Marys Geburtstag, und zu dieser Gelegenheit hatte ich für den Abend eine Ueberraschung vorbereitet, nämlich ein Feuerwerk und bengalische Beleuchtung der Berge, was einen zauberhaften Anblick gewährte.


So oft ich einen solchen Brief erhielt, las ich ihn der Familie Suttner vor, und es galt als eine abgemachte Sache, daß, sobald jenes Schloß fertig war, ich nach dem Kaukasus gehen würde. Dieser Bau schob sich endlos hinaus, aber wir waren es zufrieden. Das Leben, abwechselnd in Harmannsdorf und in Wien, war ja so glücklich. Besonders in Harmannsdorf bot es eine Kette von Freuden. Zur Jagdzeit kamen zahlreiche Gäste, und es wurde getanzt und Theater gespielt. Im Park war ein großer Theatersaal mit Bühne und Garderoben. Da führten wir verschiedene Schau- und Lustspiele auf, nicht nur für das Publikum der Harmannsdorfer und der Nachbarschlösser, sondern es kamen aus den umgebenden Dörfern die Bauern herbeigeströmt und füllten den Zuschauerraum. Dann die Ernte- und die Weinlesefeste, die Ausflüge nach dem benachbarten Stockern, wo auch eine fröhliche Jugend hauste, vor allem die beliebten Eselwagenpartien und die gestohlenen Stündchen trauter Tete-a-tetes. Die einzigen Mißklänge, die im Hause aufkamen, hatten ihre Ursache in mißlichen Geschäftsgängen. Auf der Herrschaft Zogelsdorf, die zu Harmannsdorf gehörte, gab es nämlich Steinbrüche, die in sehr lebhaftem, aber nicht rentabeln Betrieb standen. Zwar wurden aus den Zogelsdorfer Steinen die Wiener neuen Museen gebaut und die[130] Herkulesstatuen gemeißelt, die das Burgtor schmücken; aber ein unehrlicher Direktor verschuldete, daß der Betrieb statt Gewinne bedeutende Verluste brachte. Doch diese Sorge lastete mehr auf den Eltern; den Kindern kam davon wenig zu Ohren, und sie führten sich's nicht zu Gemüt. Es wurde ja der Glanz der äußeren Lebensführung nicht eingeschränkt, und das vergnügte, fröhliche Treiben nahm seinen Fortgang. Traurige Stunden zwischen mir und Artur Gundaccar gab es nur dann, wenn es uns nicht gelang, den Gedanken an ein bevorstehendes Auseinandergehen zu bannen ... »Ach, lassen wir das,« rief dann nach solchem Schmerzensausbruch eines von uns beiden, »nichts währt ewig, danken wir dem Schicksal, daß es uns dieses Stückchen Himmel beschert hat ...« Und das dauerte so nahezu drei Jahre. Meiner Mutter, die in Graz bei ihrer Schwester zurückgeblieben, vertraute ich den Herzensroman an. Sie redete natürlich zu, ich sollte entweder auf Heirat dringen oder das Haus verlassen, doch ich beschwichtigte sie. Schließlich bemerkte aber auch seine Mutter etwas. Mit eisiger Kälte, aber mit aller Zartheit gab sie es mir zu verstehen. Daß auf eine Heiratseinwilligung von dieser Seite nicht zu hoffen war, hatte ich ja immer gewußt. Ich hatte auch selber nicht daran gedacht. Die Unvernunft einer solchen Partie sah ich ein. Ganz vermögenslos, sieben Jahre älter ... und er: noch immer ohne Anstellung, auch ohne Vermögen, aber berechtigt und geeignet, eine glänzende Heirat zu machen – alle Mädchen schwärmten für ihn –, sollte ich eine solche Schicksalsverderberin werden? Das war nie mein Plan gewesen – einmal mußte geschieden sein, und jetzt, da das Geheimnis halb verraten war, war der Augenblick gekommen, mich loszureißen. Der Entschluß tat furchtbar weh, aber ich faßte ihn. Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und sagte der Baronin:

»Ich werde das Haus verlassen. Nach Mingrelien kann ich noch nicht, das Schloß wird erst in einem Jahre fertig. Könnten Sie mir nicht eine Empfehlung nach London geben, ich möchte indessen dort eine Stelle finden – weit von Wien.«

»Recht so, liebes Kind,« sagte sie warm, »ich verstehe Sie ... Sehen Sie, da habe ich in der heutigen Zeitung eine Annonce gefunden, das würde Ihnen vielleicht passen, wollen Sie hinschreiben?«

Die Annonce lautete: »Ein sehr reicher, hochgebildeter, älterer Herr, der in Paris lebt, sucht eine sprachenkundige Dame, gleichfalls gesetzten Alters, als Sekretärin und zur Oberaufsicht des Haushalts.«

So schrieb ich denn hin und erhielt eine Antwort, gezeichnet mit dem mir damals unbekannten Namen Alfred Nobel.[131]

Ich zeigte den Brief der Baronin; diese stellte Erkundigungen an und erfuhr, daß der Genannte der allgemein geachtete und berühmte Erfinder des Dynamits war. Herr Nobel und ich tauschten mehrere Briefe. Er schrieb geistvoll und witzig, doch in einem schwermütigen Ton. Der Mann schien sich unglücklich zu fühlen, ein Menschenverächter zu sein, und von umfassendster Bildung, von tief philosophischem Weltblick. Er, der Schwede, dessen zweite Muttersprache Russisch war, schrieb mit gleicher Korrektheit und Eleganz Deutsch, Französisch und Englisch. Meine Briefe schienen ihn jedenfalls auch sehr anzuregen. Nach kurzer Zeit war die Vereinbarung getroffen: ich sollte die Stelle antreten. Der Termin meiner Abreise nach Paris ward festgesetzt. Nun hieß es Abschied nehmen, sich trennen vom Liebsten, was man hat ... »Scheiden tut weh,« die Wahrheit dieses volkstümlichen Sprüchleins habe ich erfahren.

Ich kann mir jene Abschiedsstunden noch zurückrufen. Es war am Vorabend meiner Abreise. Ich war seit einigen Tagen in Wien bei einer Bekannten, um meine Vorbereitungen zu treffen. Den letzten Tag war auch Artur von Harmannsdorf hereingefahren, um ein letztes Mal mit mir zusammen zu sein. Meine Gastgeberin ließ uns allein – sie wußte, daß wir uns noch viel zu sagen hatten. Aber das Sprechen ward uns schwer. Wir hielten uns umschlungen und weinten. »Auseinander gehen!« Ist es möglich? Haben wir die Kraft dazu? Es muß sein – was beginnen, wenn ich bliebe? Ach, es wäre zu schön gewesen ... es hat nicht können sein ... Und wieder ein paar stumme, salzigschmeckende Küsse, wieder ein Aufschluchzen und neue Klagen, neue schmerzdurchzitterte Koseworte. Ehe er ging, kniete er vor mir nieder und küßte demütig den Saum meines Kleides:

»Einzige, königlich Großmütige, ich danke dir, danke dir vom Grunde meiner Seele. Durch deine Liebe hast du mich ein Glück kennen lassen, das meinem ganzen Leben eine Weihe geben wird. Leb wohl!«

1

Später, und infolge dieses Besuches, mit dem Prinzen Louis Murat, Prinz Achilles' jüngstem Bruder, vermählt.

2

Obenerwähnter Fluß, der Tzchenitz-Atzchali (der Hippus der Klassiker), bildet die Grenzscheide Mingreliens und Imerethiens.

Quelle:
Bertha von Suttner: Memoiren, Stuttgart und Leipzig 1909, S. 123-132.
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