14. Prinz Wittgenstein

[115] Nun folgt noch eine Episode aus der Jugendzeit – wieder ein Verlobungsroman. Wenn ich sage »Jugendzeit«, so ist das relativ; denn der Roman spielte sich im Sommer 1872, also in meinem neunundzwanzigsten Lebensjahre ab, und dieses Alter heißt bei einem Mädchen nicht mehr »jung«.

Es war in Wiesbaden. Ein junger Mann – Adolf Prinz Sayn-Wittgenstein-Hohenstein war sein Name – ließ sich uns vorstellen. Es stellte sich heraus, daß er, mit einer phänomenalen Tenorstimme begabt, ein leidenschaftlicher Sänger war. Dies gab natürlich zwischen ihm und mir einen Anknüpfungs- und später einen Anziehungspunkt ab. Er hatte mich einmal gehört, als ich bei offenem Fenster sang, und das hatte ihn veranlaßt, sich zu nähern. Wir forderten ihn auf, uns zu besuchen und seine Noten mitzubringen. Diesem Wunsche willfahrte er gerne. Ich war erstaunt, daß die Stücke, die er mitbrachte, nicht nur Lieder, sondern meist Opernarien waren, und er staunte nicht minder, auch bei mir einen Vorrat von Partituren vorzufinden. Das erste, was er vorsang, war die Faustarie: »O dimora casta e pura.« Ich begleitete ihn am Klavier. Als er mit der Arie zu Ende war – er hatte wundervoll gesungen –, schlug ich meine Faustpartitur auf und begann den Sopranpart des Duetts zu singen – er fiel sogleich ein, und wie zwei regelrechte Opernkünstler führten wir den Zwiegesang zu Ende.[115]

»Haben Sie sich denn für die Bühne ausgebildet, Komtesse?« fragte er erstaunt.

»Dasselbe könnte ich Sie fragen, mein Prinz.«

Die Frage blieb aber dies erstemal unbeantwortet. Wir hatten gegenseitig solchen Gefallen an diesem sicheren Zusammensingen gefunden, daß wir verabredeten, fleißig miteinander zu musizieren. Er kam nun täglich zu uns, und dem Faustduett folgte das Duett aus »Romeo und Julie«, und darauf das Duett zwischen Raoul und Valentine. – Bald vertraute der junge Mann uns an, daß er in der Tat die Absicht habe, sich der Kunst zu widmen. Schon in einem Monat wollte er nach Amerika abreisen und dort unter angenommenem Namen in Konzerten oder auch im Theater auftreten. Es hatte ihn harte Mühe gekostet, seinen Eltern die Einwilligung dazu abzugewinnen, aber seine Leidenschaft für den Gesang war so groß, daß er bereit gewesen wäre, alles hintanzusetzen, um die geliebte Kunst berufsmäßig ausüben zu können. Er hoffte davon auch die Erwerbung pekuniärer Schätze. Als jüngerer Bruder des Majoratserben hatte er keine Anwartschaft auf Vermögen, und in Amerika flogen ja hervorragenden Tenören die Dollars in Fülle zu. Daraufhin erzählte auch ich, welche Pläne ich gehegt hatte, und daß diese nur an der unüberwindlichen Angst gescheitert waren, die mich jedesmal lähmte, wenn ich vor einem größeren Publikum oder zu entscheidender Probe singen sollte. Aehnliches hatte er auch empfunden, aber mit der Zeit überwunden.

Und so verstanden wir uns vortrefflich. Unsere Stimmen klangen herrlich zusammen, und das Ende war – errät nicht jeder, was das Ende war? Vierzehn Tage lang täglich zwei Stunden einander in Dur und Moll, in zärtlichen und feurigen Tönen zu beteuern: »Io t'amo«, »je t'adore« – »will sterben – gern ... für dich!«, das läßt sich nicht – wenn man sich sonst sympathisch ist – ungestraft tun. Und so geschah es, daß wir übereinkamen, unsere Lebensschicksale, die einander so ähnlich waren, zu verbinden.

Prinz Adolf Wittgenstein hielt um meine Hand an, und sein Antrag ward von meiner Mutter genehmigt. Meine Genehmigung hatte er schon in dem Kuß erhalten, mit welchem eines der in süßen Terzen ersterbenden Duette geendet hatte.

Unsere Pläne wurden so zurechtgelegt. Die Fahrt nach Amerika würde ausgeführt. Mehr als je war die Erwerbung eines Vermögens vonnöten. Seinen Eltern wolle er sogleich Mitteilung von der Verlobung machen; als seine deklarierte Braut sollte ich zurückbleiben; und wenn drüben seine Karriere gelang, so würde er zurückkommen,[116] um mich abzuholen. Von den Eltern kam bald ein zustimmender Brief, und so waren wir denn Bräutigam und Braut. In dieser Eigenschaft ward uns das Singen der Liebesduette noch einmal so wonnig. Freilich mischte sich diesem Glücke die Wehmut der so nahestehenden Trennung bei. Noch zwei Wochen und Adolf mußte nach Bremen, sein Platz auf dem Dampfer war schon genommen, und das Konzert, in dem das Debüt stattfinden sollte, war in Neuyork schon angesagt. Also tapfer: Ein paar Monate wären bald vergangen und im nächsten Frühjahr könnten wir den Liebesbund eingehen. Wir tauschten Ringe und Schwüre, und mein Verlobter reiste nach Bremen ab, um sich einzuschiffen, während wir nach Oesterreich heimkehrten. Wir begaben uns nach Graz, wo eine Schwester meiner Mutter mit ihren Kindern niedergelassen war. Dort wollten wir in stiller Zurückgezogenheit bis zur Rückkunft Adolfs leben. Unsere Badener Villa war verkauft – Gesang und die unfehlbare Erratungsgabe hatten nahezu alles verschlungen. Meiner Mutter blieb ihre unantastbare Witwenapanage, und mir blieb genug, um zu der bevorstehenden Vermählung ein standesgemäßes Trousseau anzuschaffen.

Der Zukunft sah ich nun – zwar nicht mit Ruhe – aber doch mit froher Erwartung entgegen. Nicht mit Ruhe; denn wie, wenn Adolf in seinen Plänen scheiterte, oder wie, wenn er drüben seinen Sinn änderte – solche Dinge kommen ja vor. Und mit froher Erwartung – denn es konnte ein interessantes, glückliches Leben werden an der Seite eines Kunstgenossen, der zugleich einen großen Namen trug und der ein lieber, poetischer, seelenguter Mensch war, und dem ich, wenn auch nicht leidenschaftlich, so doch herzlich zugetan war.

Von Bremen war mir ein liebevolles Abschiedstelegramm zugekommen – jetzt mußten aber mehrere Wochen vergehen, ehe ich einen Brief aus Neuyork erhalten konnte.

Doch früher, als ich erwartet, kam mir Nachricht zu – eine Schreckensnachricht. In der Zeitung fand ich eine wenige Zeilen umfassende Notiz mit der Ueberschrift: »Auf der Ueberfahrt gestorben. Wie eine an die Familie des Fürsten Wittgenstein auf Schloß Wittgenstein eingelangte Kabeldepesche meldet, ist der auf der Reise nach Amerika befindliche Prinz Adolf Wittgenstein plötzlich an Bord gestorben. Seine Leiche wurde ins Meer versenkt.«

Ich stieß einen Schrei aus und habe die ganze Nacht schluchzend an meinem Bett gekniet.

Am folgenden Morgen – in der letzten Hoffnung, daß die[117] Nachricht vielleicht eine falsche sei – schrieb ich an die Familie und erhielt von Adolfs Zwillingsbruder folgende Antwort:


Schloß Wittgenstein, 20. November 1872.


Liebe verehrte Gräfin Bertha!


Wie unendlich schwer wird es mir, Ihnen diese Zeilen zu senden, denn sie müssen Ihnen mitteilen, daß das Gerücht, von dem Sie in den Zeitungen gelesen, ein wahres ist!

Ach, Sie glauben nicht, liebe Gräfin, in welch' namenlose Trauer wir alle, besonders ich, versetzt sind durch die Nachricht von dem plötzlichen Tode unseres geliebten, guten, herzensguten Bruders. Sein Herz hat aufgehört zu schlagen! Der arme Adolf starb, wie uns durch das Reichskanzleramt mitgeteilt wurde, infolge eines Leibschadens (wahrscheinlich durch die fürchterliche Seekrankheit hervorgerufen) plötzlich am 30. Oktober; seine teure Leiche wurde ins Meer gebettet. So lautet das verhängnisvolle Telegramm, welches von Neuyork in Berlin am 6. November eintraf und das am 7. übersandt wurde. Erlassen Sie es mir, teuere Gräfin, Ihnen zu sagen, was wir bei dieser Nachricht empfanden und litten, und jetzt bin ich noch nicht imstande, das Furchtbare zu fassen und zu glauben. Ich weiß nicht, warum der allgütige Gott meinen innigstgeliebten Zwillingsbruder jetzt zu sich rief, in der vollen Blüte seiner Jahre, eben im Begriff, das ersehnte Ziel seiner Wünsche zu erreichen! O Gott, wie unendlich schmerzvoll für uns arme Zurückgebliebenen! Ich weiß, liebe Gräfin, welcher Schmerz Sie bei dieser Nachricht ergreifen wird. Sie hatten den guten Bruder auch so lieb. Ach, hätte er mir gefolgt, wäre er geblieben und nach Italien gegangen und später nach London. Halb und halb hatte ich es schon erreicht. Sie wissen vielleicht noch aus seinen Briefen, wie trostlos er darüber schrieb, man wolle nicht sein Glück! Wer keinen festen Glauben hat und sich nicht sagt, daß alles, was Gott tut, wohlgetan ist, müßte wahrlich bei diesem so überaus traurigen Fall verzweifeln. Könnten wir den geliebten Adolf doch wieder rufen, könnte er wieder bei uns sein! Von Southampton erhielt mein Vater das letzte Lebenszeichen von ihm. Am 23., glaube ich, ging das Schiff von dort weiter, am 28. traf es in Neuyork ein, aber ohne unseren geliebten Bruder – nicht einmal die teuere Leiche haben wir – dieser Gedanke, sie in der Meerestiefe zu wissen, ist schrecklich. Drei Tage vor der Ankunft des Schiffes verschied der geliebte Bruder. Heute kann ich nicht weiter schreiben, verzeihen Sie mir, verehrte Gräfin. Wir erwarten noch in dieser Woche detaillierte Berichte vom Kapitän und Arzt des Schiffes, vielleicht auch Abschiedsworte vom teueren, seelenguten Adolf. Meine Mutter empfing eben Ihren Brief, sie wird Ihnen gewiß schreiben. Auch ich hätte Ihnen gerne geschrieben, aber ich wußte nicht wohin.[118]

So leben Sie denn für heute wohl, fassen auch Sie sich in Demut, und möge Ihnen Gott, der alles vermag, der Wunden schlägt und heilt, Kraft geben, den Schmerz um den Verlorenen zu ertragen.

Ich küsse Ihnen die Hände, liebe verehrte Gräfin, und bleibe unter herzlichen Grüßen an Ihre Frau Mutter, in aufrichtiger, treuer Anhänglichkeit

Ihr trauernder Freund

Wilhelm Prinz Sayn-Wittgenstein.


Nachfolgend der angekündigte Brief der alten Fürstin:


Meine liebe Gräfin!


Ach, könnte ich sagen, daß die Sie erschütternde Nachricht, daß unser teuerer geliebter Adolf auf seiner Seereise verunglückte, eine unwahre wäre – nein, meine liebe Gräfin, Gott rief den teueren, geliebten, engelsguten Sohn zu sich! Warum mußte er uns verlassen? Das fragen wir uns immer wieder und können nur darauf antworten, daß es seit drei Jahren schon sein sehnlichster Wunsch war, sich der Kunst zu widmen, daß seine unzähligen Briefe immer wiederholten: »Wollt Ihr mich noch einmal, wie vor zehn Jahren, glücklich, zufrieden und gesund sehen, dann erfüllet meine Bitte, laßt mich nach Amerika gehen.« Nimmer konnte der Fürst sich entschließen, seinen Wunsch zu erfüllen; erst nachdem er sich überzeugt, daß er sich hier unglücklich fühlen würde, wollte man seinen Wünschen nicht länger entgegen sein und erteilte die Erlaubnis!

Daß Sie, meine liebe Gräfin, den teueren Sohn mit uns beweinen werden und ihm ein liebendes Andenken bewahren, das fühle ich, haben mir doch Ihre Briefe an den teueren Entschlafenen gesagt, daß Sie ihm von Herzen gut waren; mir wäre es ein großer Trost gewesen, hätte mein geliebter Adolf mit Ihnen die Reise in das ferne Land antreten können – doch wie schrecklich für Sie, wenn es so kam. Ach, ich danke Gott, der mein teueres Kind noch die letzten Wochen seines Lebens durch Ihre Freundschaft beglückte; er ging mit so frohen Lebenshoffnungen fort, glaubte seine Heimat und seine Familie wiederzusehen und auch Sie, teuere Gräfin, heimzuführen – ach, es sollte sich alles nicht erfüllen, wir mußten ihn verlieren für diese kurze Spanne Zeit, die uns Gott noch leben läßt – finden wir ihn doch wieder, da, wo kein Schmerz, keine Täuschungen, keine Trennung mehr ist!

Ich werde stets mit Interesse hören, daß Sie glücklich sind und versichere Sie meiner aufrichtigen Teilnahme als

Ihre ergebene

Amalie Fürstin Sayn-Wittgenstein.

Schloß Wittgenstein, den 22. November 1872.[119]


Einige Wochen später schrieb mir Prinz Wilhelm noch einmal:


Meine verehrteste Gräfin!


Endlich kann ich Ihnen, wie versprochen, die näheren Details über Adolfs letzte Lebenstage zusenden. Verzeihen Sie mir, wenn es sich etwas verzögert hat, ich habe an alle nicht anwesenden Geschwister die Abschriften machen müssen und überhaupt meinem Vater in letzter Zeit in manchen Geschäften beistehen müssen. Die Fürstin hat sich sehr gefreut über Ihren letzten teilnehmenden Brief, sie dankt herzlich dafür. – Des seligen Bruders Effekten sind noch nicht angekommen; es geht das so überaus langsam durch das K. Kanzleramt. Das Schiff »Rhein« war schon lange wieder von Neuyork zurück und hat am 14. d. Mts. wiederum die Reise nach dort angetreten.

Die aufrichtigste Teilnahme von nah und fern, von hoch und gering ist uns zuteil geworden und eine Stimme nur herrscht über den geliebten Bruder, er wurde von jedermann geliebt, geehrt und geachtet. Der gute Adolf war also im Schlafe hinübergegangen; er starb am 29. auf 30. Oktober, nachdem er tags zuvor noch vergnügt und Scherze machend auf Deck war. Er fühlte sich wohl sehr schwach die letzten Tage, hatte auch sehr leiden müssen durch die Seekrankheit; sie zeigte sich aber nicht wie bei anderen Menschen, er litt nur unendlich – und dadurch wurde sein plötzliches Ende herbeigeführt. Er hatte keine Ahnung davon; noch am Abend des 29. sprach er viel mit seinem Mitreisenden, Herrn de Neufville, und dem Kapitän in seiner Kajüte. Weder letzterer noch der aufwartende Steward, der die Nacht wachte, haben das Geringste vernommen; Herr de Neufville hielt ihn sogar am 30. morgens noch für schlafend und setzte sich an sein Bett, nicht ahnend, daß er neben der teueren Leiche saß. Lassen Sie mich abbrechen von diesem überaus traurigen Thema. Etwas beruhigt bin ich und gestärkt. Ich kann nicht Gott genug danken, daß er es so wohl mit dem geliebtesten Bruder gemacht hat. Ich hoffe auf ein seliges Wiedersehen. Ein reizendes Gedicht, den Manen Adolfs gewidmet, füge ich noch bei, von einem gewissen »Glücklich« aus Wiesbaden verfaßt – es wird Ihnen gewiß recht gefallen.

Wie geht es Ihnen, liebe Gräfin, und Ihrer Frau Mutter? Gedenken Sie den ganzen Winter in Graz zu bleiben? Ich werde vielleicht auf einige Wochen meinen jüngsten Bruder Herman in Berlin besuchen, oder, wenn es hier zu kalt werden sollte, nach Wiesbaden gehen, wo jetzt unser kronprinzliches Paar weilt. Sobald des seligen Bruders Effekten hier ankommen, werde ich Ihnen einige Liederbücher zur Erinnerung senden. Vielleicht können Sie mir dies oder jenes nennen, was Ihnen besonders lieb ist?

Wir verleben selbstverständlich sehr ruhig die bevorstehenden Festtage.[120]

Ich will nun schließen, damit der Brief heute noch fortkommt und Sie die langersehnten und gewissermaßen beruhigenden Nachrichten endlich erhalten.

Empfehlen Sie mich der Gräfin, Ihrer Mutter, freundlichst und bewahren Sie selbst mir Ihre Freundschaft.

Mit herzlichen Grüßen, liebe, verehrteste Komtesse,

Ihr Sie hochachtender, ergebener

Wilhelm Prinz Sayn-Wittgenstein.

Schloß Wittgenstein, den 19. Dezember 1872.


Von Adolfs Reisegefährten, dem in obigem Brief mehrerwähnten Herrn de Neufville, bekam ich ein ganzes Memorandum über die Meerfahrt und das traurige Ende; darauf schrieb ich ihm und erhielt folgende Antwort:


P. O. Box 2744.

Neuyork, den 12. März 1873.


Hochverehrte Gräfin!


Ihre freundlichen und so vertrauensvollen Zeilen vom 6. Februar sind mir vor wenigen Tagen zugekommen und hätte ich gerne schon früher meine Antwort an Sie gerichtet, wenn es mir die Zeit erlaubt hätte. Um so mehr dachte ich an Sie, sehr verehrte Gräfin, denn es wird mir so leicht, mich in Ihre Trauer zu versetzen, und gestatten Sie mir, neben meinem besten und innigsten Dank für Ihr Vertrauen, diesen Ausdruck: La douleur fait facilement fraternité.

Ist es mir doch auch nur zu sehr bekannt, was es ist, wenn man seine Lieben, welche man hienieden auf den Händen trug und von ihnen so viele reine Freuden erwartete, plötzlich dem Herrn wieder zurückgeben muß. Doch da ist es unendlich ermutigend, wenn wir wissen, daß sie uns ja nur aufgehoben sind und an einem Platze, wo keine Enttäuschungen und keine Trennungen stattfinden. Wie müssen wir dankbar sein, daß wir diese Versicherung in uns haben, in einer Zeit, in der der Unglaube in so erschreckender Weise überhandnimmt und eine wankelmütige Seele nach der anderen mit sich reißt.

Recht leid tut es mir, daß ich Ihnen auf Ihre diversen Fragen nur zum Teile antworten kann, indem mir wohl manches liebe und treue Wort des seligen Prinzen, was er auf Sie bezogen hat, in den bereits verflossenen viereinhalb Monaten aus dem Gedächtnis gekommen ist, freilich nicht ohne einen verehrenden Eindruck für Ihre Persönlichkeit für immer in meinem Innern zu hinterlassen. Von Ihrem musikalischen Talent und Ihrer großen Liebe zur Kunst hat er mir schon am ersten Samstagabend – wir waren kaum eine Stunde von Bremen fort – erzählt, und Sonntags darauf durften wir schon seine herrliche Tenorstimme bewundern; er sang den »Tannenwald« und ein Lied, dessen Titel mir unbekannt; ich[121] glaube den Anfang mit »j'aime toujours« gehört zu haben. Er sang dieses Lied mehrmals; die Abtschen Lieder ließ er sich von mir auf dem Cello vortragen und konnte dieselben nie genug hören; ebenso »So ihr mich vom ganzen Herzen suchet« von Mendelssohn sang er mit Piano- und Cellobegleitung. Am 29. Oktober sprachen wir um zwölf Uhr mittags zum letzten Male vertraulich zusammen. Er war zu Bette und ich saß neben ihm; da sprach er von Zusammenwohnen in Neuyork, von meiner Mitwirkung in seinen Konzerten und plötzlich lenkte er das Gespräch auf seine Braut. Ihr Bild hatte er schon in der Hand, als ich in seine Kajüte trat. Er erzählte mir dann von dem schönen Zusammensein in Wiesbaden und dann setzte er ängstlich hinzu: »Ich denke so manchesmal, wie wird es sein, wenn du zurückkommst – wird sie dich dann noch immer so lieben wie vor dem Abschied?« Zum Glück wußte ich unseren teueren, unvergeßlichen Prinzen auch über diese sorgenden Gedanken hinüberzubringen, indem ich ihm ein Gedicht zu lesen gab, das mir von lieber Hand nach Bremen nachgesandt worden; es ist dies von Spitta (?): »Was macht ihr, daß ihr weinet und brechet mir mein Herz?« Es wird so schön durchgeführt, wie wir alle doch vereinigt sind in der Liebe, die aus Gott entspringt. Wir sprachen dann noch über dieses Gedicht und dann hielt ich es für besser, den Prinzen ruhen zu lassen, und entfernte mich.

Leider war dies die letzte Stunde, wo wir allein vertrauensvoll miteinander reden konnten; ein treu Gedenken sei die Brücke, die diese Stunde mit dem frohen Wiedersehen verbindet.

Hoffentlich habe ich ein anderes Mal mehr Zeit, um Ihnen zu schreiben; ich mußte heute einige Augenblicke im Bureau dazu verwenden.

Indem ich Ihnen nochmals für Ihr Vertrauen von Herzen danke, verbleibe ich mit vollkommener Hochachtung und Verehrung

Ihr ganz ergebener

Ch. de Neufville.


Und das war das Ende einer schmerzlichen und doch schönen Episode meines Lebens – ein kurzer Roman von Sangeszauber und wehmütiger Entsagung: An Bord des »Rhein« ward eine Trauerflagge gehißt, ein Choral gesungen, das Schiff blieb stehen, und unter Salutschüssen wurde eine Leiche ins Meer versenkt. Der da in den Fluten verschwand – ein Künstler, ein Prinz, ein seelenguter Mensch – dem hatte man die Photographie der Braut ans stille Herz gelegt, und die Meereswellen rauschten dem Toten und meinem Bilde ein schluchzendes Hochzeitslied.[122]

Quelle:
Bertha von Suttner: Memoiren, Stuttgart und Leipzig 1909, S. 115-123.
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