5. Eintritt in die Welt

[62] Und nun sollte ich »in die Welt« geführt werden. Unser Name hätte uns wohl berechtigt, in der höchsten Aristokratie zu verkehren, denn es gibt wohl keine Familie des österreichischen Hochadels, mit der wir nicht verwandt oder verschwägert gewesen wären. Aber man kennt diesen Hochadel schlecht, wenn man glaubt, daß Name und Verwandtschaft genügen, um aufgenommen zu werden. Dazu gehört – namentlich war es so in meiner Jugendzeit, jetzt ist man schon etwas weniger exklusiv – vor allem der Besitz von sechzehn Ahnen, d.h. die Hoffähigkeit. Diese besaßen wir nicht – meine Mutter war keine »Geborene«; zudem waren auch unsere Mittel sehr bescheiden, also war es uns nicht möglich, in die erste Gesellschaft – sie selber nannte sich die »Société« – von Wien zu gelangen. Das kränkte mich – ach, was war ich doch für ein oberflächliches, eitles Ding! Zu glauben, es gehöre zum Lebensglück, in der »Crême« zu verkehren, und zu glauben, daß mir durch die Vorenthaltung dieses Glückes ein unverdientes Unrecht widerfahre!

Nun geschah es, daß sich durch Vermittlung des Schriftstellers Joseph von Weilen, der bei uns verkehrte, einer der reichsten Männer Wiens um meine Hand bewerben ließ. Mutter und Vormund erklärten sich einverstanden. Der Bewerber war zwar nicht Aristokrat und schon zweiundfünfzig Jahre alt. Aber mit dem höchsten Glanz wollte er meine und meiner Mutter Existenz umgeben – Villen, Schlösser, Palais ... ich war geblendet und sagte »ja«. Ich versuche nicht, diese Tatsache zu beschönigen. Es ist eine häßliche Tatsache, wenn ein achtzehnjähriges Mädchen einem ungeliebten, so viel älteren Mann die Hand reichen will, nur weil er Millionär ist! es heißt – um es bei seinem wahren Namen zu nennen – sich verkaufen. Schriebe ich einen Roman, so würde ich von dessen Heldin, wenn sie sympathisch sein sollte, eine solche Episode gewiß nicht erzählen; aber was ich hier niederschreibe, sind die Erlebnisse einer wirklichen Person,[62] für deren Handlungen ich lange nicht so verantwortlich bin, als ich es für die Handlungen einer Phantasiegestalt wäre, denn diese wäre nach meinen eigenen, gegenwärtigen Ansichten und Gefühlen geformt, während diese achtzehnjährige Bertha Kinsky – obgleich ich's selber bin – weiter nichts ist als ein vages Erinnerungsbild. Was das Original des Bildes erlebt hat, das ist in bloßen Umrissen in meinem Gedächtnis enthalten, das hat auch zur Gestaltung meines gegenwärtigen Charakters beigetragen; aber was jenes Original damals selber für einen Charakter hatte, das erscheint mir als etwas, an dem ich ebenso unbeteiligt bin, wie an den Launen der Kleopatra oder der Semiramis.

Ein paar Bilder aus dieser Verlobungsepisode:

Die Vorstellung: Herr von Weilen bringt den Bewerber zu einem Vormittagsbesuch. Steife Konversation im Salon. Man beobachtet sich gegenseitig. Gefallen? Nein, der ältliche Herr gefällt mir kaum – mißfällt mir aber nicht. Einladung zum Diner den nächsten Tag; Fürstenberg auch dabei. Noch immer steif. Am vierten oder fünften Tag briefliches Anhalten bei meiner Mutter. Ich schwanke. Am selben Abend sollten wir auf einen Ball gehen – mein Debut. Ein adeliges Picknick. Auf diesem Ball pflegte die »Crême« zu erscheinen, aber nicht ausschließlich; es sind da auch mindere Elemente anwesend. Ich sehe noch meine Toilette: ein weißes Kleid ganz mit kleinen Rosenknospen besät. Voll freudiger Erwartung betrat ich den Saal. Voll gekränkter Enttäuschung habe ich ihn verlassen. Nur wenige Tänzer hatte ich gefunden. Beim Kotillon wäre ich bald sitzen geblieben, hätte sich nicht schließlich ein häßlicher Infanterieoffizier, der sich zahlreiche Körbe geholt hatte, meiner erbarmt. Die hochadeligen Mütter saßen beisammen, meine Mutter saß einsam; die Komtessen standen in Rudeln und schnatterten miteinander – ich kannte keine; beim Souper bildeten sich lustige kleine Gesellschaften, ich war verlassen. Auf der Nachhausefahrt sagte ich zu meiner Mutter:

»Mama, jetzt bin ich entschlossen, ich nehme den Antrag an.«

Das nächste Bild: Der beglückte Freier, im Besitze meines Jawortes, bringt mir eine ganze Ladung Brautgeschenke: ein Schmuck von Saphiren und ein Perlenkollier. Auch seine bald sechzehnjährige Tochter stellt er mir vor – er war nämlich Witwer –, und diese nannte mich ihre schöne, liebe Mama, was mir ungeheuren Spaß machte.

Nächstes Bild: Ein glänzender Ball in der Haute Finance, an dem wir als Verlobte teilnahmen. Jetzt bin ich umringt und[63] die glänzendsten jungen Kavallerieoffiziere machen mir den Hof – einer besonders bittet um die Erlaubnis, mein Haus besuchen zu dürfen, wenn ich verheiratet sein werde. Offenbar denkt er: die junge Frau eines alten Mannes, das kann interessant werden. Der Bräutigam aber ist wütend und macht mir eine Szene, weil ich am Arm des Ulanen zum Souper gehen will. Ich lache, verlasse meinen Kavalier und nehme den Arm des Erzürnten:

»Ich will ja brav sein,« besänftigte ich ihn.

Wieder ein Bild: Rundfahrt in der Stadt zu dreien, meine Mutter und wir Verlobten zur Besichtigung von Einrichtungsgegenständen, Equipagen, Toiletten; auch eine Fahrt in die Umgebung zur Besichtigung der wahrhaft fürstlichen Villa, die mir als Morgengabe bestimmt war.

Noch ein Bild: Ein Nachmittag bei uns. Mein Bräutigam und ich sind zum erstenmal allein.

»Berta, weißt du, wie entzückend du bist?« Er umschlingt mich und drückt seine Lippen auf die meinen. Der erste Liebeskuß, den ein Mann mir gegeben. Ein alter Mann, ein ungeliebter Mann. –

Mit einem unterdrückten Ekelschrei reiße ich mich los, und in mir steigt ein leidenschaftlicher Protest auf – Nein, niemals – – –

Am folgenden Tag wurden die Geschenke zurückgeschickt – ich löste die Verlobung auf. Die Meinen hatten zwar zu remonstrieren versucht: das Aufsehen – die Wortbrüchigkeit – ich hätte nicht ja sagen sollen, ich war ja dazu nicht gezwungen worden, jetzt aber plötzlich zurücktreten – ich möge doch wenigstens noch einige Zeit überlegen – –

»Nein, nein – ich kann nicht, kann nicht – lieber sterben!«

Und so wurde der Absagebrief expediert.

Ein paar Stunden später stürzte die Tochter zu mir und weinte zu meinen Füßen: ich solle den Vater nicht so kränken – ich solle den grausamen Entschluß wieder aufheben ...

Ich war aber nicht mehr umzustimmen. Starr hielt ich fest an meinem: »Ich kann nicht, ich kann nicht!«


Bald lag die ganze Episode hinter mir wie ein böser Traum, aus dem erwacht zu sein ich als Wohltat empfand. Meine Verlobung und Entlobung hatten im Fasching gespielt – im Sommer dachte ich nicht mehr daran. Diesen Sommer brachten wir in Baden bei Wien zu, wo meine Mutter eine kleine Villa angekauft hatte. Es war ein lustiger Sommer, voll Landpartien, Kurmusik, Tanzkränzchen.[64]

Eine kleine Gesellschaft bildete sich – ein paar elegante, hübsche junge Mädchen darunter und zahlreiche junge Herren, meist Offiziere, dazu die obligaten Mütter – man begegnete sich täglich – oft auch dreimal täglich: zu Mittag im Park bei der Musik, nachmittags auf der Promenade ins Helenental und abends wieder, wenn nicht Reunion war, bei der einen oder anderen Familie, oder bei der Abendmusik im Park. Besonders intim hatte ich mich befreundet mit einem gleichaltrigen Mädchen, namens Marietta, Marchesa Saibante. Sie war eine auffallende Erscheinung: eine große und rundliche Gestalt – damals war die magere Eckigkeit noch nicht modern –, rabenschwarze Haare und Augen, blendende Zähne, sehr rote Lippen und sehr rote Wangen – dabei aber eine Stumpfnase und überhaupt derbe Züge.

Die Mutter Mariettas, eine geborene Baronin Scheibler, war mit einem Italiener, Marchese Saibante, verheiratet gewesen und war schon lange Witwe. Sie hatte nur diese einzige Tochter und betete sie an. Mit den beiden lebte auch eine ledige Schwester der Marchesa, und diese, Tante Helene genannt, betete Marietta noch mehr an. Die beiden mittelalterlichen Damen (daß es kein deutsches Wort gibt für das ausdrucksvoll bezeichnende englische: »middleaged«) ließen ihren Liebling keinen Schritt aus ihrer Nähe weichen. Sie lebten in sehr bescheidenen Verhältnissen, waren aber ziemlich hochmütig, da sie mit allen illustren Familien des Adels verwandt waren. Eine dritte verstorbene Schwester war mit einem Fürsten Auersperg vermählt gewesen. Auch besaßen sie einen reichen Onkel, Feldmarschall Graf Wratislav, der eine besondere Vorliebe für Helene hegte. Von diesem Onkel wurde fortwährend gesprochen. Sehr oft war auch einer Cousine Erwähnung getan, mit dem stolzen Namen Rohan. (Roi ne puis, prince ne daigne, Rohan je suis.) Nur so nebenbei sprach man von der Cousine Rohan – nicht etwa protzig: »Ich habe eine Cousine, die eine Prinzessin Rohan ist« – sondern es waren eben Geschichten und Mitteilungen, die an sich erwähnenswert waren und sich nur zufällig an die Cousine Rohan knüpften. Ob nicht die meisten Leute unter ihren Verwandten und Freunden oder auch nur Bekannten eine, im Verhältnis zu ihnen, vornehmere Persönlichkeit haben, die sie als »Cousine Rohan« betrachten und zur scheinbar absichtslosen Ausschmückung ihrer Gespräche benutzen? –

In diesem Sommer feierte Elvira ihre Hochzeit mit Doris in See. Marietta und ich figurierten als Kranzeljungfern. Noch während des Dejeuners verließ das junge Paar Baden, um sich[65] nach Pola zu begeben, wo des neuvermählten Fähnrichs Linienschiff vor Anker lag.

Nun war ich ganz auf Marietta angewiesen. Es war ein starker Kontrast. Nach meiner Cousine, der Dichterin, der Gelehrten – die Cousine der Rohan, die ein Weltkind durch und durch war, mit nichts anderem im Sinn als die Vergnügungen und den Glanz des Gesellschaftslebens. Sie hatte trotz ihrer beschränkten Verhältnisse davon gekostet, da sie einen ganzen Fasching in Prag zugebracht, und dort unter der Aegide der Auerspergs, Wratislavs und Rohans auf zwanzig Bällen getanzt und mit manchem »Epouseur« – freilich ergebnislos – geflirtet hatte. In Baden wurde nun wieder getanzt und kokettiert; Marietta und ich waren die Gefeiertsten der Saison. Diese Unterhaltungen waren nunmehr »das Wichtige«. – Als wäre die Welt zu keinem anderen Zweck erschaffen worden, als zu dem, unser Vergnügungsort zu sein. –

Den folgenden Winter verlebten wir, d.h. meine Mutter, mein Bruder und ich, in Rom. Das war so ge kommen: Die soeben entthronte Königin von Neapel hatte mit ihrem Gefolge als Gast des Erzherzogs Albrecht diesen Sommer in der Badner Weilburg zugebracht. Die historische Tragödie, die vorangegangen, die Verteidigung und der Verlust Gaetas – das hatte mich nur wenig berührt; ich hörte nur mit Interesse davon erzählen durch den Obersthofmeister der Königin, ein alter Principe, der uns häufig besuchte. Der war es, der uns das Leben der Fremden in Italien, namentlich in Rom, als so angenehm schilderte und uns so lebhaft zuredete, den nächsten Winter dahinzukommen, daß wir uns dazu bestimmen ließen. Mir lächelte die Aussicht sehr. Doch zu meiner Schande muß ich konstatieren, daß es nicht das ewige Rom mit dem Zauber seiner historischen Erinnerungen war, was mich anzog, sondern die Schilderungen des römischen Gesellschaftslebens. Und so blieb es während des Aufenthaltes. Was mir dort am meisten Eindruck machte – was mir »das Wichtige« war –, das waren nicht Vatikan und Engelsburg und Forum, sondern der Monte Pincio mit seinem eleganten Korso, das Teatro Costanza mit seiner Opernstagione, die aus zwei abwechselnden Opern bestand, wovon die eine der Trovatore war, und die Bälle und Soireen, denen wir in den Palästen der römischen Großen oder in den Salons der Fremdenkolonien beiwohnten. Tiefe Eindrücke habe ich von meinem damaligen Aufenthalt in Rom überhaupt nicht mitgenommen; erst viele Jahre später war es mir vorbehalten, mit einigem Verständnis den Zauber in mich aufzunehmen, den dieser klassische Boden auf halbwegs empfängliche Geister ausüben muß.[66]

Unser Freund aus Baden, der neapolitanische Principe, lud uns einmal zu einem Ausflug nach seiner Vaterstadt ein und führte uns von dort nach Pompeji, nach der Blauen Grotte und nach dem wundervollen Capo di Monte, wo er eine Villa besaß, die aber in ziemlich verwittertem Zustande war – wie übrigens er selber auch. Als er dann zum Schlusse der Saison, da wir schon reisebereit waren, mit einem Heiratsantrage herausrückte, sagte ich ohne Schwanken »nein«. Ein zweites Mal wollte ich nicht wieder das Los auf mich herabbeschwören, dem ich vor kurzem entronnen war – die Frau eines ungeliebten, alten Mannes zu werden. Ja, wenn der fünfundzwanzigjährige Sohn meines Freiers, der schwarzäugige Duca di ***, der mir gar nicht übel gefiel, als Freier aufgetreten wäre, dann weiß ich nicht – – –, aber es fiel ihm nicht ein; ich glaube, daß ich ihm eher antipathisch war, denn er mußte die Absichten seines Vaters durchschaut haben, und eine Wiederverheiratung desselben wäre ihm wahrscheinlich höchst unwillkommen gewesen. Erst nachträglich erfuhren wir, daß man in unseren Kreisen allgemein angenommen, daß der bejahrte Principe, der uns mit Aufmerksamkeiten überhäufte, schon in Baden mein stiller Verlobter gewesen sei.

Von Rom kehrten wir nach Baden zurück, wo das vorjährige Saisonleben von neuem durchgemacht wurde, und im folgenden Winter 1864 gingen wir nach Venedig, um da wieder »in die Welt« zu gehen. –

Venedig ... Auch dich, wunderholde, totenbleiche Lagunenkönigin, habe ich erst in viel späteren Jahren verstehen und lieben gelernt. Unempfindlich gegen ihre Schönheit war ich freilich auch damals nicht ganz, aber »das Wichtige« war mir doch der gesellige Verkehr. Meinem Herzen tat es sehr wohl, wieder in der Nähe meiner geliebten Cousine Elvira zu sein. Ihr Mann war jetzt in Venedig stationiert und das Paar lebte da ganz zurückgezogen, aber in innigstem häuslichem Glück. Nur zweierlei trübte dieses Glück: einmal die in Aussicht stehende baldige Einschiffung des jungen Gatten, was mit einer einjährigen Trennung drohte, und zweitens der schwankende Gesundheitszustand Elviras; sie hustete viel und wurde oft von der Angst befallen, daß sie brustkrank sei. Ihre Umgebung, auch der Arzt redeten ihr diese Angst aus, und dann gab sie sich wieder der vollen Lebensfreude hin.

Ich indessen schwelgte im Genuß des Venezianer Karneval. Venedig war damals eine österreichische Stadt und das Weltleben spielte sich in österreichischen Kreisen ab. Die Häuser, in denen wir verkehrten, waren die des österreichischen Gouverneurs, des österreichischen Konsuls und einiger österreichischer Aristokraten. Auch[67] eine reiche englische Familie, namens Greaves, in der eine schöne Tochter glänzte, machte Haus, aber die italienischen Familien hielten sich feindselig abseits. Das Leben wickelte sich so ab: zu Mittag spielte Militärmusik auf dem Markusplatz, und da promenierte man – geradeso wie im Kurpark von Baden – auf und nieder, von den jeweiligen Kurmachern – zumeist Marineoffiziere – begleitet, und setzte da die Ballgespräche des vorigen Abends fort. Regnete es, so saß man in den Cafés unter den Prokurazien und fand sich auch da gesellig zusammen. Um fünf Uhr nachmittags stattete man sich gegenseitig Visiten ab, und jeden Abend traf man sich auf Hausbällen oder Soireen. Ein großer kostümierter Ball wurde gegeben und einmal – ich glaube, es war im Hause Wimpffen – ist auch ein Amateurtheater aufgeführt worden und lebende Bilder dazu. – Die Toilette, die ich bei diesen drei Gelegenheiten trug, sehe ich noch im Gedächtnis. Ich will sie nicht beschreiben, sondern mit diesem Geständnis nur konstatieren, was sich so tief in einem dummen Mädchenkopf einzuprägen pflegt – und dabei gehörte ich nicht einmal zu den dümmsten. Man feierte mich wegen meines Geistes – man feierte mich überhaupt in dieser Saison in Venedig, so daß ich mich als eine ihrer Königinnen fühlte. Immerhin ein angenehmes Gefühl; es stieg mir stark zu Kopfe, und ich benutzte diesen angenehmen Uebermut dazu, einige herzhafte Körbe auszuteilen. Das zog mir weltlich-kluge Vorwürfe der Meinen zu – aber wie gut für mich, daß ich es getan, denn sonst wäre ich heute irgendeine Admiralin oder Kommandeuse, und hätte nicht den Gatten besessen, dessen Besitz meines Lebens Weihe war, und wäre auch nicht in Berührung mit der Friedensbewegung gekommen, in der mein Schaffen und Streben die glühendste Begeisterung schöpfte. Als Frivolität mag man vielleicht das Charakterbild eines jungen weiblichen Wesens bezeichnen, das ganz in geselligen Freuden aufgeht, das um die weltbewegenden Ereignisse sich nicht kümmert, dagegen an die eigene Toilette, die es bei Festgelegenheiten trug, so intensive Aufmerksamkeit wendet, daß die Erinnerung noch nach vierzig Jahren nicht erloschen ist ... Ich frage übrigens einen alten, noch so gediegenen General, ob er sich nicht an das Klirren des Säbels erinnert, den er zum erstenmal nach seiner Ausmusterung nachschleifen ließ, und frage den gelehrtesten Professor der Staatswissenschaften, ob er nicht noch die Farbe des Bandes vor sich sieht, das er auf seiner Studentenmütze trug? In diesen Dingen – Ballbukett, Leutnantssäbel, Couleurband – liegt aber noch ganz etwas anderes, als was sie sind – es duftet und klirrt und leuchtet darin das Symbol; Einlaßkarten sind[68] es in das große angekündigte Festleben – Gewinstscheine sind es für die erhofften Haupttreffer der großen Lotterie: Zukunft. Balltriumphe – ich weiß es noch, was für gesteigerte Rauschgefühle die mit sich bringen. Ich sage gesteigert – denn Jugend in glücklichen und sorglosen Verhältnissen ist an sich ein Rausch. Da braucht man noch lange nicht »frivol« zu sein – im Sinn von oberflächlich und einfältig –, wenn man mit einem gewissen leidenschaftlichen Vollgenügen in die Fluten der geselligen Vergnügungen untertaucht; es vibriert da ein eigenes elektrisches Fluidum voll unsichtbarer Funken, die sich als Glück oder als Liebe entladen wollen – jedenfalls als Freude. Und je wärmer das Gefühlsleben eines Mädchens ist, je mehr ihr Geist von poetischer Kost sich genährt, je stolzer sie empfindet, daß sie Schätze von Glück zu vergeben hätte, zu je hingebenderer Liebe sie die Kraft in sich fühlt, desto empfänglicher ist sie für jenes geheimnisvolle Funkengeknister ... Wer das Knistern nicht hört, wem die Schaumperlen nicht berauschend zu Kopfe steigen, wen die leidenschaftlichen Glückshoffnungen nicht durchglühen – nun, der findet freilich das ganze Treiben fade und schal und schilt die Törinnen, die sich ihnen hingeben, oberflächlich. Nach einigen Saisons tritt eine Ernüchterung aber bei allen ein. Wer sich immer an den geselligen Festen genügen läßt, auch wenn die erste Jugend vorbei ist, und wenn die Verheißungen sich nicht erfüllt haben, wer dann nicht in anderen Zwecken, in neuen Pflichten, in ernster Tätigkeit »das Wichtige« erkennt, der ist dann allerdings rettungslos frivol. Uebrigens sprach ich von den Empfindungen unserer jungen Mädchen aus der Gesellschaft zur Zeit meiner Jugend. Heute hat sich alles stark verändert. Der höheren Tochter ist nicht mehr wie damals der Ball die höchste Freude und die einzige Gelegenheit, ihren Beruf – eine glückliche Eroberung – zu erfüllen. Der Tanz wird durch den Sport verdrängt, und der Berufe, die sich den Frauen erschließen, gibt es täglich mehr. Das Gesellschaftsleben selbst ist auch langweiliger geworden – die jungen Männer meiden die Ballsäle; die Saisons dauern nicht so lange, daß man sich immer mehr kennen lernt und daher immer besser miteinander unterhält; weder im Winter in der Stadt noch im Sommer im Bad findet sich die Gesellschaft für die ganze Jahreszeit zusammen – man fliegt von einem Ort zum anderen, von den Bergen zum Meere, von der nordischen Stadt in den Süden, von Scheveningen nach St. Moritz, von den Pyrenäen nach Aegypten, bis zu der nicht fernen Zeit, wo man von der Insel Wight einen Abstecher nach den japanischen Modebädern machen wird. –[69]

Quelle:
Bertha von Suttner: Memoiren, Stuttgart und Leipzig 1909, S. 62-70.
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