Erste Szene


[439] Im Abteil sitzen im offenen Fenster einander gegenüber von Kleewitz und seine Frau. Neben Kleewitz sitzt Stüve, neben Frau von Kleewitz sitzt von Scheibler. Von Kleewitz und seine Frau sehen sich unverwandt mit verliebten Blicken an; wenn sie sich unbemerkt glauben, spitzen sie die Lippen und küssen in die Luft; bald tritt sie ihn, bald er sie auf den Fuß. Von Scheibler liest eifrig in einer Zeitung. Stüve klopft ungeduldig mit dem Fuße auf dem Boden, zieht öfters die Uhr und schmatzt nervös.


STÜVE wieder auf die Uhr sehend. Vier Uhr fünfzig ... um sieben sollen wir in München sein. Diese Bummelkarre heißt sich Schnellzug! Kleine Pause. In einer Stunde hat der Zug mindestens sechsmal gehalten; bei jedem Hundestall haben sie hier 'ne Station, und wenn 'n Wirtshaus daneben steht, is es 'n Kreuzungspunkt. Kleine Pause. Wenn ich von Köln bis Berlin fahre, halte ich keine sechsmal auf der ganzen Strecke, und was nich hunderttausend Einwohner hat, is überhaupt keine Schnellzugsstation. Zieht wieder die Uhr. Das is 'n Verkehr! Ja? Was? Ich will mal das Kursbuch nachsehen. Er steht auf und holt aus dem Netze eine kleine Reisetasche, die er öffnet. Er zieht den großen Hendschel heraus und blättert nervös darin. Dabei dreht er Kleewitz den Rücken zu und sieht zum Publikum heraus.

KLEEWITZ zu seiner Frau, sehr verliebt. Lo!

FRAU VON KLEEWITZ schmachtend. Mäuschen!

KLEEWITZ. Du!

FRAU VON KLEEWITZ. Süßes! Sie küssen in die Luft.

STÜVE hat den Hendschel aufgeschlagen. München – – hundertachtundvierzig ... Zu Kleewitz. Pardong! Wissen Sie vielleicht, wie die letzte Station geheißen hat?

KLEEWITZ. Nee!

STÜVE. Natürlich nich! Zu von Scheibler. Pardong! Wissen Sie? Von Scheibler sieht ihn über die Zeitung weg fragend an.

STÜVE. Wie der Ort heißt, wo wir das letztemal gehalten haben?

SCHEIBLER. Unterdingharting.[439]

STÜVE. Unter ...?

SCHEIBLER hält die Zeitung wieder vor. Dingharting.

STÜVE. Das ist schon wie chinesisch. Unterdingharting ... Im Buche lesend. Vier Uhr achtunddreißig ... Sieht auf seine Uhr. also mindestens zehn Minuten Verspätung! Nee, das ist eine Bummelei! Unerhört! Er wirft das Kursbuch zornig in die Tasche klappt zu, steht auf und legt die Tasche wieder ins Netz.

KLEEWITZ benützt die Situation, wie vorhin. Lo!

FRAU VON KLEEWITZ schmachtend. Süßes!

STÜVE setzt sich wieder. Ich will mal ordentlich Skandal machen. Zu Scheibler. Wollen Sie meine Beschwerde unterschreiben?

SCHEIBLER. Welche Beschwerde?

STÜVE. Gegen diesen Schwindel, daß so was 'n Schnellzug sein soll.

SCHEIBLER. Das ist ein fahrplanmäßiger Schnellzug.

STÜVE. So? Scheibler zuckt die Achseln. Na, das ist Ansichtssache. Wir in Preußen haben andere Eilzüge.

SCHEIBLER. Das entspricht jedenfalls einem Bedürfnisse, wenn gehalten wird.

STÜVE. Vielleicht ist 'n rascher Verkehr auch 'n Bedürfnis. Nich wahr?

SCHEIBLER. Es gibt eben Eilzüge, die halten.

STÜVE. Eilzüge gibt's ja gar nich in Bayern. Dreißig Kilometer in der Stunde ist hier schon Expreß.

SCHEIBLER. Wir fahren von München bis Nürnberg in der Stunde ...

STÜVE einfallend. Nee! Wir fahren von Berlin nach Zossen zweihundert Kilometer per Stunde, von Berlin nach Hamburg hundertzehn Kilometer, wir fahren von Köln nach Berlin fünfundsiebzig Kilometer. Das is 'n Tempo! Ja? Scheibler zuckt die Achseln und liest wieder in seiner Zeitung. Stüve nimmt aus seiner Tasche einen Tintenstift und macht ihn zurecht, er nimmt sein Notitzbuch und will eben zu schreiben anfangen, da pfeift die Lokomotive, und der Zug hält mit einem Rucke an. Man hört die Stimme des Zugführers. Mitta-ding- harting! Mitta ... ding ... harting.

STÜVE auffahrend. Was?! Schon wieder halten? Nee, das geht übern Hutrand! Zu Kleewitz. Pardong! Er stürzt ans Fenster[440] und schreit hinaus. Hören Sie, das is 'ne Schweinerei! Das is 'ne Gemeinheit. Sehr laut. Schaffner! Schaffner!


Quelle:
Ludwig Thoma: Gesammelte Werke in sechs Bänden. Band 2, München 1968, S. 439-441.
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