Neunte Szene

[405] PROFESSOR GISELIUS stehen bleibend. Nicht wahr, mein lieber junger Mann, Sie werden verstehen, daß meine Frage an Sie nur vom strengsten Pflichtgefühl diktiert ist?

DR. APPEL sehr bescheiden. Wie meinen Herr Geheimrat?

PROFESSOR GISELIUS. Ich meine, daß ich als diligens pater familias dazu verpflichtet bin, und daß mich keine profanen Motive beseelen. Nicht wahr?

DR. APPEL eifrig, aber ohne ihn zu verstehen. Gewiß!

PROFESSOR GISELIUS. Vielleicht könnten Sie mir entgegenhalten, daß es richtiger wäre, wenn ich das alles mit meiner Tochter besprechen würde.

DR. APPEL schüchtern. Ja, ich weiß nicht ...

PROFESSOR GISELIUS. Doch! Ich sehe diesen Einwand voraus, und ich betone, daß meine erste Absicht auch dahin zielte, aber aus verschiedenen Gründen spreche ich eben doch lieber mit Ihnen. Erstens ...

DR. APPEL sich linkisch verbeugend. Es ehrt mich sehr ...

PROFESSOR GISELIUS ihn unterbrechend. Erstens ist es naturgemäß ein heikles Thema, dessen Besprechung sich zwischen uns leichter ermöglicht. Das geben Sie zu?

DR. APPEL hilflos. Wenn Sie glauben ...

PROFESSOR GISELIUS fortfahrend. Zweitens rechne ich bei Ihnen auf Verständnis und guten Willen, mich anzuhören ...

DR. APPEL. Aber gewiß, Herr Geheimrat ...

PROFESSOR GISELIUS fortfahrend. Auf den guten Willen, bei der Sache zu bleiben, ohne persönliche Einwürfe zu machen.

DR. APPEL. Sie dürfen überzeugt sein ...[405]

PROFESSOR GISELIUS die Stimme etwas erhebend. Drittens und letztens ist für mich der Umstand ausschlaggebend, daß Sie Zoologe sind, denn Sie haben damit schon die Präsumtion für sich, daß Sie von meiner Seite aus keiner Belehrung bedürfen ...

DR. APPEL lebhafter. O nein, Herr Geheimrat, ich bin Ihnen dankbar für jeden Hinweis. Bei dem großen Interesse, das Sie unserer Sache entgegenbringen.

PROFESSOR GISELIUS. Interesse ... nun ja.

DR. APPEL. Und den gewiß beachtenswerten Kenntnissen, die Sie sich errungen haben ...

PROFESSOR GISELIUS. Davon wollen wir eigentlich nicht sprechen, verehrter Kollege.

DR. APPEL. Aber nach dem, was mir Ihre Frau Gemahlin sagte ...

PROFESSOR GISELIUS betroffen. Was hat meine Frau gesagt?

DR. APPEL. Daß Sie von jeher für unsere Wissenschaft das wärmste Interesse hegten ...

PROFESSOR GISELIUS etwas ungeduldig. Ach wo!

DR. APPEL. Und sich viel damit beschäftigten?

PROFESSOR GISELIUS. Fällt mir doch gar nicht ein!

DR. APPEL. Ich glaubte aber ...

PROFESSOR GISELIUS. Wo in aller Welt hätte ich die Zeit dazu finden können! Nein! Nein! Derartige Scherze dürfen Sie nicht ernst nehmen. Aber wir wollen auf unser eigentliches Thema zurückkehren ... Er rückt mit dem Stuhl näher an Dr. Appel heran. Sie sitzen einander gegenüber, so daß sich ihre Knie beinahe berühren.

DR. APPEL unsicher. Auf unser Thema?

PROFESSOR GISELIUS. Sie werden also Ihren Einwand, daß ich mich richtiger an meine Tochter wenden würde, Sie werden also diesen Einwand fallen lassen?

DR. APPEL. Ich verstehe wirklich nicht ...

PROFESSOR GISELIUS. Wir werden uns sofort verstehen, mein lieber ... Sucht nach dem Namen.

DR. APPEL sich verbeugend. Doktor Traugott Appel.

PROFESSOR GISELIUS. Wir werden uns rasch verstehen. Und wenn ich Ihnen sage, daß ich vor reichlich zwanzig Jahren in der gleichen Lage einem erfahrenen Freunde gegenüber saß und von ihm Belehrung erbat, so werden Sie unsere jetzige Situation[406] als eine naturgemäße und keineswegs beklemmende ansehen ...

DR. APPEL spielt mit seinem Blumenbukett. Gewiß!

PROFESSOR GISELIUS. Eben. Und so wollen Sie sich also nicht länger dagegen ablehnend verhalten?

DR. APPEL wie oben. Nein.

PROFESSOR GISELIUS. Dann gehen wir in medias res und beantworten Sie mir die Frage, ob Sie mit dem Wesen der Ehe vertraut sind?

DR. APPEL ihn erstaunt ansehend. Mit dem ...?

PROFESSOR GISELIUS nimmt ihm sanft den Blumenstrauß weg und hält ihn nun selbst in der rechten Hand. Ob Sie mit dem Wesen der Ehe vertraut sind?

DR. APPEL verlegen und hilflos. Ich ... ich weiß nicht.

PROFESSOR GISELIUS väterlich verweisend. Lieber, junger Freund, das ist auch keine präzise Antwort. Ich weiß doch, ob ich weiß!

DR. APPEL sehr verlegen. Vielleicht habe ich noch sehr wenig darüber nachgedacht.

PROFESSOR GISELIUS. Ja, glauben Sie, daß hierin irgend etwas aus einem Denkprozesse zu gewinnen ist?

DR. APPEL schüchtern fragend. Nicht?

PROFESSOR GISELIUS. Nein! Bester! Teuerster! Ich kann Ihnen aus eigener Erfahrung sagen, nicht das mindeste!

DR. APPEL immer schüchterner. Vielleicht könnte ich ...

PROFESSOR GISELIUS. Sie wissen also nichts? Rein gar nichts?

DR. APPEL. Ich glaube nicht ...

PROFESSOR GISELIUS bekümmert. Das erschwert natürlich meine Aufgabe sehr! Er steht auf, legt das Bukett auf den Stuhl und geht auf und ab. Das erschwert natürlich meine Aufgabe ganz wesentlich.

DR. APPEL. Es tut mir so leid ...

PROFESSOR GISELIUS sich nach ihm umdrehend. Was hilft mir das? Hm? Ich stehe nun einfach vor der überaus heiklen Pflicht, Ihnen nicht weniger wie alles sagen zu müssen!

DR. APPEL. Vielleicht könnte ich zu Hause einiges Sachdienliche lesen und dann mit Ihnen darüber sprechen?

PROFESSOR GISELIUS. Wie?

DR. APPEL nimmt das Bukett vom Stuhl weg und hält es wieder vor sich hin. Ich meine, ich könnte vielleicht eingehende Spezialwerke lesen.

PROFESSOR GISELIUS. Ach wo! Das ist nichts. Er sieht Dr. Appel[407] nachdenklich an. Hm! Hm! Hm! Nun stelle ich die Frage an mich, ob es nicht doch besser wäre, wenn ich das Thema mit meiner Tochter durchspräche?

DR. APPEL lebhafter. Aber, wenn Sie es für notwendig halten, sprechen Sie, bitte, ruhig mit mir.

PROFESSOR GISELIUS achselzuckend. Tja!

DR. APPEL. Ich lasse mich gerne belehren ...

PROFESSOR GISELIUS. Das sagen Sie so! Setzt sich wieder wie vorher; vorwurfsvoll. Ich hätte geglaubt, daß Sie als Zoologe durch Ihr Studium an dieses Problem wenigstens herangeführt worden wären!

DR. APPEL. Meine Spezialität waren von jeher die Bostrichiden.

PROFESSOR GISELIUS verständnislos. Die ...?

DR. APPEL. Borkenkäfer.

PROFESSOR GISELIUS. Das gibt mir nicht viel Hoffnung. Müssen Sie gerade mit Insekten zu tun haben?

DR. APPEL lebhafter. Aber wenn sich Herr Geheimrat dafür interessieren, gerade das gesellige Leben der Bostrichiden ist mannichfaltig und lehrreich!..

PROFESSOR GISELIUS zweifelnd. Lehrreich?

DR. APPEL eifrig. Ja, wir haben geradezu alle Variationen des Zusammenlebens. Die wahllose Polygamie bei den Eccoptogastern und wiederum die Monogamie bei anderen Arten ...

PROFESSOR GISELIUS. So ... so?

DR. APPEL. Der wichtigste Käfer, der Buchdruck, Ips typographus, hingegen lebt in Bigamie.

PROFESSOR GISELIUS. M-hm.

DR. APPEL. Ich habe über diese Gattung Ips eine größere Abhandlung geschrieben und manche glückliche Entdeckung gemacht.

PROFESSOR GISELIUS. So?

DR. APPEL. Es kommt nämlich auch vor, daß der typographus mit drei Weibchen lebt, aber die Regel ist mit zweien.

PROFESSOR GISELIUS. Ja – und?

DR. APPEL wieder hilflos. Und?

PROFESSOR GISELIUS ungeduldig. Wo bleibt das Analogon? Der Vergleich?

DR. APPEL. Ein Vergleich der Gattung Ips mit ... mit?

PROFESSOR GISELIUS ungeduldig. Ach was! Ips! Was helfen[408] uns Ihre Ips? Da sitzen wir jetzt und können von vorn anfangen. Ich habe mir das anders vorgestellt ...

DR. APPEL immer schüchterner. Vielleicht gelingt es mir, Ihrem Gedankengange zu folgen ...

PROFESSOR GISELIUS kategorisch. Nein!

DR. APPEL. Sie glauben nicht?

PROFESSOR GISELIUS. Wenn ich mich daran erinnere, wie Ihr großer Vorgänger Busäus unterrichtet war ... Sie kennen seinen Namen?

DR. APPEL. Ich kenne sein Werk über die Moschustiere.

PROFESSOR GISELIUS. Davon weiß ich nichts, aber offenbar hat er dabei mehr Analoges gefunden, wie Sie bei Ihren Ips. Und auf rein wissenschaftlicher Basis, denn er war Junggeselle.

DR. APPEL steht auf. Entschuldigen Sie, Herr Geheimrat, ich sehe selbst ein, daß mir momentan das rechte Verständnis fehlt.

PROFESSOR GISELIUS drückt ihn auf den Stuhl zurück. Bleiben Sie sitzen! Wir müssen wohl oder übel in den sauren Apfel beißen. Sie haben offenbar noch nie daran gedacht, welche Pflichten Sie in der Ehe erwarten?

DR. APPEL resigniert. Ich habe mich noch nie mit dieser Frage beschäftigt.

PROFESSOR GISELIUS. Gut.

DR. APPEL. Da ich keinen speziellen Anlaß dazu hatte.

PROFESSOR GISELIUS. Es ist aber höchste Zeit, mein lieber ...

DR. APPEL sieht ihn hilflos an.

PROFESSOR GISELIUS. Sie verlassen sich doch nicht etwa darauf, daß junge Mädchen an einem schönen Frühlingsabend und so weiter, ohne irgendeinen ersichtlichen Grund alles wissen?

DR. APPEL. Ich muß offen gestehen ...

PROFESSOR GISELIUS energisch. Es ist eine ganz unlogische Annahme, sage ich Ihnen. Es ist eine Redensart, die uns über eine Pflicht hinwegtäuschen soll.

DR. APPEL resigniert. Gewiß, Herr Geheimrat!

PROFESSOR GISELIUS. Schön, dann wollen wir also beginnen. Appel sieht schüchtern auf sein Bukett nieder. Giselius schlägt die Arme übereinander und sieht ihn über die Brille forschend an.

PROFESSOR GISELIUS. M-ja, wenn es nur nicht so schwierig wäre! Vorwurfsvoll. Sie hätten mir diese peinliche Aufgabe wirklich ersparen können![409]

DR. APPEL steht auf. Es ist wahr, ich habe Ihre Zeit zu lange in Anspruch genommen.

PROFESSOR GISELIUS grämlich. Bleiben Sie doch sitzen!

DR. APPEL sich langsam zurückziehend. Ich möchte wirklich nicht länger stören ...

PROFESSOR GISELIUS. Was soll das heißen, wenn Sie jetzt gehen? Damit wir morgen das nämliche Pensum zu bewältigen haben?

DR. APPEL. Vielleicht ist es nicht notwendig ...

PROFESSOR GISELIUS eigensinnig und etwas lauter. Aber gewiß ist es notwendig; darüber sind wir uns doch im klaren, und überhaupt folgt das schon aus Ihrem Zugeständnisse, daß Sie sich keine Vorstellung machen können von diesem wichtigen Vertrage, den Sie abschließen wollen ... Er steigert seine Stimme, und bei den letzten Worten tritt seine Frau von links ein. Sie sieht erstaunt auf ihren Mann und auf Dr. Appel, der an der Mitteltüre steht und die Hand auf der Klinke hat.


Quelle:
Ludwig Thoma: Gesammelte Werke in sechs Bänden. Band 2, München 1968, S. 405-410.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Lottchens Geburtstag
Lottchens Geburtstag

Buchempfehlung

Musset, Alfred de

Gamiani oder zwei tolle Nächte / Rolla

Gamiani oder zwei tolle Nächte / Rolla

»Fanni war noch jung und unschuldigen Herzens. Ich glaubte daher, sie würde an Gamiani nur mit Entsetzen und Abscheu zurückdenken. Ich überhäufte sie mit Liebe und Zärtlichkeit und erwies ihr verschwenderisch die süßesten und berauschendsten Liebkosungen. Zuweilen tötete ich sie fast in wollüstigen Entzückungen, in der Hoffnung, sie würde fortan von keiner anderen Leidenschaft mehr wissen wollen, als von jener natürlichen, die die beiden Geschlechter in den Wonnen der Sinne und der Seele vereint. Aber ach! ich täuschte mich. Fannis Phantasie war geweckt worden – und zur Höhe dieser Phantasie vermochten alle unsere Liebesfreuden sich nicht zu erheben. Nichts kam in Fannis Augen den Verzückungen ihrer Freundin gleich. Unsere glorreichsten Liebestaten schienen ihr kalte Liebkosungen im Vergleich mit den wilden Rasereien, die sie in jener verhängnisvollen Nacht kennen gelernt hatte.«

72 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für diese preiswerte Leseausgabe elf der schönsten romantischen Erzählungen ausgewählt.

442 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon