Betrachtung

[669] Seht auf eine Rinderherde!

Friedlich grasen neben Kühen

Andre Kühe, welche gleichfalls

Um ihr Futter sich bemühen.


Alle fressen nur das Quantum,

Welches sie benötigt haben;

Keine kümmert sich, ob andre

Etwa reichlicher sich laben.


Keine will die Nahrungstriebe

Einer andern ruchlos stören,

Und dadurch den Bruch des Friedens

Und den Kampf heraufbeschwören.


Ähnlich zart ist auch der Ochse,

Der die fromme Denkart lernte,

Als man ihm sein Allerschönstes

Mit dem Messerschnitt entfernte.


Nur die bösen Stiere raufen.

Doch ihr dürft es nicht vergessen,[669]

Daß sie für die Liebe kämpfen,

Niemals aber für das Fressen.


Und dabei ward diesen Tieren

Nie ein Wort des Heils verkündet!

Und es wurde unter ihnen

Keine Religion gegründet!


Wenn wir dieses recht betrachten,

Sagen wir vielleicht bescheiden:

Wie viel schlechter sind die Menschen,

Die sich hassen und beneiden!


Die sich hauen, schießen, stechen,

Leben und Gesundheit rauben

Für die Liebe, für das Fressen,

Und für ihren Gottesglauben!

Quelle:
Ludwig Thoma: Gesammelte Werke in sechs Bänden. Band 6, München 1968, S. 669-670.
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