Das Wasser

[60] Romanze.


Heilig, reine, milde Fluth,

Kind der Liebe, klares Wasser!


Als die neue Welt dem Zorne

War im ersten Seyn erstarret,

Alle Kräfte ihr entflohen

Und ihr innres Herz erkaltet,

Schwebte sie ein harter Leichnam

Durch die leeren Himmelbahnen,

In sich keine Lebensgeister,

Ueber sich nicht Sternverwandten.

Und es regte sich ein Schmerz,[61]

Liebe ganz und ganz Erbarmen,

In den allerreinsten Himmeln,

Legte sich wie weiche Arme

Um den stumm gewordnen Busen,

Und das Herz drinnen erwarmte:

Und es fühlte erst ein Zittern,

Dann ein tief erbebend Bangen,

Und es riß sich von der Furcht

Und dem ungewissen Zagen,

Gab sich ganz und voll dem Schmerz hin,

Daß umher nur Todten-Halle,

Alle Jugend ihm entschwunden

Und die Lust erstarb, die alte.

Wie die Welt in Schmerz und Wehen,

Und Erinnerungen kamen,

Und die Himmelsliebe außen

Sie noch sanfter, weicher faßte,

Wollt' sie sterbend ganz vergehen;

Und die starren Riegel sprangen,[62]

Und den harten Tod zerriß

Nach dem Tode das Verlangen,

Heil'ge Lebensthränen, süße,

Aus der innern Tiefe rannen

Ueber das erblaßte Antlitz,

Ueber die entstellten Wangen:

Und im Schmerz entzündete

Sich die Freude plötzlich, brannte,

Und das Licht flog schnell empor,

Kehrte wieder und umarmte

Sie, die liebe arme Mutter

Und das Kind, das heil'ge Wasser:

Blumen, grüne Kräuter sproßten,

Ströme fluteten und brachen

In das Meer, das neu geboren,

Und Gestirn' im goldnen Glanze

Sahen liebend hoch hernieder,

Sonne mit dem klaren Antlitz,

Mond mit seinem stillen Troste,[63]

Kleine Lichter magisch wandelnd

Blumen in der blauen Tiefe;

Und die Thiere waren alle

Schon in Lebensregung, endlich

Kam der fromme Mensch gegangen,

Und die Thiere und die Steine,

Und die Fische und die Pflanzen,

Und die Sterne und die Lichter,

Und die Menschen betend dankten

Dir Erzeuger, heil'ges, reines,

Frucht erregend klares Wasser.

Quelle:
Ludwig Tieck: Gedichte. Teil 1, Heidelberg 1967, S. 60-64.
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