[14] An dem Kreuz die Mutter stande,

Schmerzen fühlt sie vielerhande,

Aufgelößt des Herzens Bande,

Wie der Heiland überwande.


Kommt mit mir zum Sehnsuchtslande!

Ach im Brande

Laßt die ganze Seele glühen,

Strahlen aus und einwärts ziehen,

Lilien werden auferblühen,

Nacht und Dunkel schüchtern fliehen

Von dem Lande,

Wo das Kreuz in Thränen stande.
[14]

Ach, Maria, welche Leiden

Mußten deine Seele schneiden!

Wer empfand doch von euch beiden

Wohl zumeist den Tod der Freuden?


Englein, kommt, im Niederklimmen

Laßt erglänzen eure Stimmen,

Ihr wart ja am Kreuz zugegen

Als der Welt geschah der Seegen,

Müßt euch klingend nun bewegen,

Flüglein fein zusammen legen,

Daß in den Gesanges-Stimmen,

Störend mag kein Rauschen schwimmen.


Als die Mutter in dem Sohne

Sah ihr eignes Herze tödten,

Ach, wie ward in bittern Nöthen

Dir des Todes Angst zum Lohne!

O, wo blieb die goldne Krone!

Deine Seele rief zum Throne

Mit dem Sohne: Vater, schone![15]

Ach! wer könnte sich versteinen,

Nicht mit dir, Maria, weinen?

Seel' und Herz nicht dir vereinen?

Thränen, brecht hervor mit Scheinen,

Zittert Töne, klage Stöhnen,

Siehe, wie in Schmach, Verhöhnen,

Noth, Angst, Schmerz zerbricht den Reinen!

Aber, Weinen,

Laß in dir ein Lachen scheinen;

Zittert Thränen, freundlich klingend,

Und lobsingend

Tritt hervor du tiefes Klagen!

Wonnevoll sind seine Plagen,

Und das Herz muß zu sich sagen:

Meinethalb hat er's getragen.

Selbst das Kreuz, an das geschlagen

Jesus Christus unverschuldet

Seine schwere Marter duldet,

Will vor Freuden und vor Leiden

Weinen,

Thränen mit dem Blute einen.[16]

Menschen, seht hier eure Wonnen,

Ausgelöscht sind eure Sonnen,

Ausgetrocknet alle Bronnen:

Aber habt ihr euch besonnen

Daß euch dadurch Heil gewonnen?

Daß mein Herz am Kreuzesschafte,

Milder Jesus, ewig hafte,

Bis es liebend ganz verbronnen!


Ja, es soll in mir zerbrechen!

Klagen, Weinen, holdes Lachen,

Ihr müßt jetzt das Ende machen:

So wie kleine Kindlein sprechen,

Plötzlich aus in Thränen brechen;

Ist es Schuld wohl und Verbrechen,

Wenn sie in den Thränen lachen?

Wunden, seid wie süße Blumen,

Seufzer, aus den Heiligthumen

Steigt empor wie süße Düfte,

Wallet in die Himmelslüfte:

Sehnen,

Thränen,[17]

Holdseeligkeiten,

Himmlische Freuden,

Wie sie süß und hell verbreiten

Durch mein Herz die Herrlichkeiten!

Nichts soll mich im Tode scheiden,

Jesu Christ, von deinen Leiden!


Sei mir du, Maria, milde,

Gegen dieses Leben wilde,

O du süßes Gottesbilde!

Deine Liebe sei mein Schilde!


Wann die letzte Stunde kommen,

Sei die Seel' in Lieb' entglommen,

In den Himmel aufgenommen.

Amen!

Es vernahmen

Gott, Maria, Christ, die Bitten,

Sie sind nicht von euch bestritten,

Denn sie kamen

Recht hier aus des Herzens Mitten,

Auch für mich hast du gelitten,

Amen!

Quelle:
Ludwig Tieck: Gedichte. Teil 2, Heidelberg 1967, S. 14-18.
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