Sechster Abschnitt

[470] Frühmorgens fuhr Leonhard mit Elsheim vom Schlosse ab. Alles schien noch im Hause zu schlafen; nur Joseph begleitete die beiden Freunde bis an den Wagen.

» So wäre denn«, fing Leonhard an, »diese sonderbare Lebensepoche für mich beschlossen. Wie hat sich alles so anders gestaltet, als wir es uns beim Ausreisen vorbildeten! Wann sehe ich dich wieder?«

»Ich hoffe«, antwortete der Freund »– ich möchte sagen, ich weiß es gewiß – im Winter. Dein Leben hier, sagst du, sei beschlossen; das meinige freilich noch nicht.«

Sie sahen jetzt in der Ferne, rechts vom Wege, jene Waldhütte liegen, die ihnen beiden so merkwürdig war. »Ich verstehe deine Blicke, Freund, rief der Baron aus, und ich erkenne die Größe deiner Freundschaft auch darin, daß sie mir dies Opfer hat bringen können.«

»Nenne es nicht so«, sagte Leonhard ernst; »in gewissem Sinn ist unser ganzes Leben eine Aufopferung. Wie wenige unserer wahren Wünsche können sich erfüllen! und diejenigen Träume, welche eintreffen, sind, in Wirklichkeit verwandelt, oft sich unähnlich, nicht wiederzuerkennen. Und so tragen, dulden, zweifeln und genießen wir im wechselnden Taumel und trauriger Nüchternheit. Die Jugend fällt von uns ab; selbst das Heiterste dünkt uns töricht; man setzt sich an die Tafel, um zu schwelgen, und steht darbend und ernüchtert auf, weil uns die früheren Gelüste anwidern!«

»Sei nicht so melancholisch«, rief Elsheim, »sonst verdirbst du mir meine eigene Lust.«

Der Wald empfing sie, und der Anblick des Schlosses entschwand ihnen. »Ja wohl«, sagte Elsheim, »entschwindet uns die heitere Unbefangenheit der Jugend; auch mich drückt dieses Gefühl. Man wird nicht klüger, sondern nur zweifelnder und träger. Aber eben darum wollen wir die Neige dieses Götterweins behaglich und schlürfend genießen. – Sieh«, sagte er mit erhöhter Stimme, »jetzt sind wir schon in Franken.«

Leonhard sah um sich, und Elsheim fuhr fort: »Da du es mir[470] gestanden hast, daß du dein teures Nürnberg in heiliger Andacht, wie ein Wallfahrer besuchen willst, so bist du auch wohl so gefällig, diesen Brief dort abzugeben. Er eilt gerade nicht, darum kannst du ihn nach deiner Bequemlichkeit bestellen; aber vergessen wirst du ihn nicht.«

»Gewiß nicht«, sagte Leonhard, und legte das Blatt sorgfältig in seine Brieftasche. Im nächsten Städtchen machten sie halt, erquickten sich und nahmen Abschied. Leonhard war ganz träumerisch, und hörte nur wenig von dem, was ihm der Freund noch sagte. So schieden sie, und auch Elsheim war zerstreut, weil seine Phantasie schon in jenem Waldhäuschen war, wo er jetzt, nach wenigen Stunden, die reizende Charlotte zu finden hoffte.

Im Städtchen nahm Leonhard einen andern Wagen, um eine Seitenstraße einzuschlagen, welche ihn in wenigen Tagen nach seinem geliebten Nürnberg bringen sollte. Während er so einsam weiterfuhr, spürte er seiner Verstimmung nach, und suchte die Ursache dieses quälenden Mißgefühls zu entdecken. Er mußte es sich gestehen, daß er seinem Freunde mit einem gewissen Neide nachgeblickt hatte, indem ihm in frischem Glanz die Schönheit seiner lieblichen Feindin vorschwebte. Auch die sichtbare Eile und Zerstreuung Elsheims beim Abschiede hatten ihn verletzt. Aber noch eine Empfindung traf er an, die er sich erst ableugnen wollte, und die dennoch immer wieder emportauchte. Er hatte seinem Freunde und dessen Liebhaberei, sosehr er selbst dabei ergötzt war, doch eine bedeutende Zeit geopfert; er war selber oft sehr tätig gewesen, und hatte bis zur Ermattung gearbeitet. Alles dies wußte Elsheim, und war selbst oftmals Zeuge davon gewesen. Er hatte also erwartet, daß ihm der Freund beim Abschiede irgendeine Summe würde aufdringen wollen, die er abzulehnen und nicht anzunehmen fest beschlossen hatte. Noch in der Nacht hatte er sich die Reden und Gründe wiederholt, die er dem Baron entgegenhalten wollte, um sein Verweigern auf jede Weise zu rechtfertigen. Dieser Wettstreit der Freundschaft und Großmut war nun nicht eingetreten; und – sagte Leonhard zu sich selbst – sollte mir das nicht erwünscht sein, statt mich zu kränken und zu betrüben? Ich war so fest entschlossen, seine großen Ausgaben, die sein Leichtsinn wohl bis zum Unverhältnis steigern mag, nicht zu vermehren – aber unser törichtes Herz ist aus so seltsamen und feinen Fasern gewebt, die uns oft lange verborgen bleiben, wie es eben jetzt meiner Eitelkeit wehe tut, daß meine beabsichtigte Aufopferung und freundschaftliche Großmut gar nicht zu seiner Kenntnis gelangt ist.[471]

Es fiel ihm bei, daß er dennoch nicht mit leeren Händen nach Hause zurückkomme. Es war nämlich eine alte Verwandte gestorben, die ihm, gegen alles Vermuten, zweitausend Taler vermacht, welche Nachricht er vor einigen Tagen erhalten hatte. Er nahm sich nun vor, seine Rückreise über die Stadt, wo sie gewohnt, zu nehmen, um die Summe einzukassieren. Diese, sagte er zu sich, kann ich dann meiner Friedrike als meinen hiesigen Erwerb vorweisen, damit sie sich über die Versäumnis zufriedenstellt. Aber freilich, ein Verheimlichen zieht das andere, eine Unwahrheit die zweite nach sich. Ist der gerade Weg des alltäglichen Lebens einmal verloren, so ist es schwer, die rechte Straße wiederzufinden.

Am Abend kehrte er in den Gasthof eines anmutigen Dorfes ein. Er ging noch spät spazieren und fragte sich, warum ihn jetzt die Schönheit der Natur nicht so rühre, wie es meistenteils sonst geschah, da er sich auf der Wanderschaft befand.

Er begab sich erst in das Haus zurück, als es ganz finster war, und überlas noch einmal den letzten Brief seiner Friedrike. »Ich lege dir«, sagte sie am Schluß, »den sonderbaren Brief unsers Magisters bei, von dem ich dir schon früher einmal schrieb; vielleicht bist du imstande, einen Sinn aus dem Wirrsal herauszulesen, das meinen Verstand nur konfus macht.« – Leonhard hatte in den letzten Tagen auf dem Schlosse nicht die Zeit gefunden, das Schreiben mit Besonnenheit durchzugehen; er las die Blätter jetzt in der stillen Nacht. Sie lauteten also:


Meine vielverehrte und noch mehr liebe

Madame Leonhard!


Man kann nicht immer schweigen, wie es doch vielleicht geschehen sollte, weil das Wort, wenn es aus dem Gewahrsam des Innern springt, oft, wie ein ungezogenes Kindlein, Schaden stiftet, und auch die im Tumult verletzt, die es hegen und pflegen, lieben und verehren möchte. Weil Dieselben aber, wie mein irdisches Auge, wie mehr mein inneres, wohl bemerkt hat, durch meine Gebärden geängstet werden; mein hastig Reden, mein ganzer Mensch, sozusagen, Sie erschreckt, irritiert und an meinem Wesen konfus gemacht hat: so hasardiere ich dennoch die gefährliche Rede, und zwar nicht um zu sprechen (denn was sollen Worte, was können sie, wo Stummsein alles Unaussprechliche sagt?), sondern um zu lallen, zu seufzen, zu weinen, und die Rede soll nur in Gebärdung andeuten, weshalb sie denn in Ohnmacht fällt.[472]

O wundersame Frau und Inbegriff aller meiner Gedanken, warum sind Sie denn eine Frau, und warum hat mich der Herr als einen Mann erschaffen? daß ich der bin, der ich bin, und Sie selbst diejenige, als welche Sie im irdischen Wesen erscheinen und sind! Konnte es denn nicht anders sein, und mußte es durchaus also ausfallen? Ich! vierzig und mehr Jahr älter, als Sie! O du mein ewiger Schöpfer, wo, was waren denn meine Gedanken und Fühlungen vorher, in der Zeit, die doch die längste meines Lebens muß gewesen sein bevor ich Sie kannte, oder Sie gesehen harte? War doch damals kein Du in der Welt, und ich das ewig einsame unglückseligste Ich! Einsam, allein – können Sie wohl nachfühlen, wie erschrecklich das ist? O Du mein Du, wo bleibt denn, so frage ich alle Engel und Geister, wo bleibt denn mein Ich, wenn ich an Dich denke, oder Dir gar in das Auge schaue? O nein, ich schaue dann nicht mehr, es ist kein Actus meines Selbst; ich werde geschaut und bin selig darin, daß ich in diesem Geblicktwerden zugleich geschaffen und vernichtet bin. So finde ich mich nachher auch wieder – und frage immer: Wie kann das Ich, der scheinbare Alte, der in der Entzückung untergegangen war, tot, dahin – wie kann er ein Ich noch sein und bleiben, um sich, der auf immer fort war, zu finden und anzutreffen? Wer ist, was der Findende, wer, was der Verlorne? Hiebei dreht sich mein ganzes inneres Wesen um, und wird zum Schwindel, und auch mein äußerer Verstand, mein alltägliches kaltes Bewußtsein will zu einem Geheimnis meines innersten, unsichtbaren, im Todesschlafe träumenden Wesens werden. Ja, Frau, Wesen, Ewigkeit, Du, Du! darin liegt alle Unschuld, und im Ich die Sünde und Anklage. Warst Du nicht vor langen, langen Zeiten ich? Ich Du? Eins, und im Einen die Wonne, daß Du die Seele meiner Seele die Seligkeit warst, nach der ich sehnte, und deren Anschauung mir in der Andacht ward?

Ach ja, es ist wohl die Spiegelung von einer fernen Spiegelung, die nur hier hereinfällt, in unsere dermalige Schöpfung und den wunderlichen Schlummer, den wir unser Leben nennen: und so kam die Liebe und die Wollust in die Welt. Wie unmündige Kinder, die sich weit, weit im gründunkeln Walde verloren haben: und keiner hört ihr verirrtes Angstwimmern und das Abbuchstabieren ihres Klageliedes. Und so freilich, was kann ich alter, abgelebter Magister wünschen, fordern oder begehren? Es hat sich alles nur in unsere verhärtete, zu Eis gefrorene Welt hereingeschoben, daß er als Schaugericht lockt und reizt, und uns dann, wie jenem übermütigen Magister oder Doktor, dem Tantalus,[473] versagt wird. Trachtet nicht nach dem Unmöglichen! Gut gesagt und leicht gesprochen, du durchlauchtiges Vernunft- und Naturgesetz! Du hast immer recht, weil du immerdar Unsinn aussagst. Wir können ja nichts anderes begehren und wünschen, als das Unmögliche; das Mögliche, Verständige besitzen wir ja immerdar, und wir haben es ja nur, weil wir gar nichts darum und davon wissen, und wir achten es auch deshalb nicht, und können es nicht achten, wenn wir auch wollten. Schon in frühen, alten Zeiten hat man die sogenannten Giganten darüber bitter kritisiert und hämisch rezensiert, daß sie haben den Himmel erstürmen wollen. Über solche Kritikaster möchte man laut lachen, wenn es sich mit der Bescheidenheit vertrüge; denn was will denn jeder Wille anders, der ein Wille ist? Und wenn er es nicht will, fällt er invalide und tot darnieder, und weiß nicht mehr links und rechts, aus und ein. Ich war wohl oft andächtig und verlor auch mein Ich in der Andacht. Wo war ich dann, wenn ich noch war, als nur im Himmel? So ergeht es mir auch wohl bei einem schönen Gedicht. Die Seele oder Ich – oder wie sollen wir es nennen, wir Dummen, Stummen, Sprachlosen? – streckt alle viere von sich, dehnt sich, erwächst zu einem Briareus mit hundert Armen, um zu fassen und zu umarmen; – und plötzlich, um überselig zu werden – vergeht sie, verschwindet und wird ein Nichts. Der Jupiter hat die Himmelstürmende in den Abgrund geschleudert, und eben das war ihre höchste Wonne. Nun liegt sie unten, von Felsen und Gebirgen erdrückt, selbst versteinert, das heißt auf deutsch, sie lebt nun wieder, sieht sich in der sogenannten Wirklichkeit, besitzt wieder, was ihr vergönnt und erlaubt ist, das Vernünftige, Mögliche, das heißt, ein mit vielen törichten Phrasen weitläufig umschriebenes Nichts.

Ja freilich wußte ich dies alles nicht, bevor ich Dero Bekanntschaft gemacht. Die dummen Geister der Natur und Notwendigkeit logen mir vor, ich sei schon über sechszig Jahr alt, da ich doch noch gar nicht einmal war geboren worden. Und so, Verehrteste, bin ich freilich annoch zu jung für Sie, was wieder ein schlimmer Umstand ist, und wieder zu jener göttlichen, glorreichen Unmöglichkeit gehört, die wir alle erstreben, wenn wir bei Sinnen, geschweige gar in der Andacht sind. – Zeit! Wo ist sie? Wer kennt sie? Sie ist entweder ein Nichts, oder ein allmächtiges Wesen. In der Andacht, im Anschaun, im Lieben ist sie nicht. Nein, da kennen, sehen, fühlen wir sie nicht. Sie gehört gewiß zu jener dummen Notwendigkeit, zu dem, was uns vergönnt ist. Aber freilich in ihr fühlen, denken, sehen und träumen wir, alles im[474] Pulsschlag und Zeitmaß; aber doch nur, um im Ewigen, im Nichts, wenn wir dort im Entzücken angelangt sind, diese Zeit zu vernichten. So Raum. Alberner, Schwacher, Nichtiger, und doch so Allmächtiger!

Nichtsnutziger Staub! warum schwatzest du also. Nämlich, ich wollte eine Epistel schreiben. So fließen denn auch aus Feder und Dinte die Buchstaben, Silben und Worte zusammen, die Linien, das Blatt wird voll, und abermals so schwarz mit Strichen überzogen – ja wohl, das ist das Leben. Das Wort kann nicht ohne Regel, ohne eine kalte, tote Bedeutung sein. Die Bedeutung eben bedeutet nichts, das ist das Feine und auch ganz Grobe von der Sache. Du hast mir einmal die Hand gedrückt. Das war Rede und A und O in einem Pulsschlag. Dein Auge! Gott hat viel mit dem Auge ausdrücken wollen; doch die Menschen brauchen es nur zum Nähen und Stricken. Freilich auch das Notwendige und Erreichbare. Aber wäre es denn so etwas Unnützes, wenn ein Magister, dem die Silben und Worte mehr zu Gebote ständen, als mir Unwissenden, über einen einzigen Blick einen dicken Folianten schriebe? Und, beim Himmel, es gibt Blicke, wo er doch noch nicht zu Ende kommen, und seine Materie (wie man sagt hier ist es aber Gottheit, Liebe, All) doch nicht erschöpfen würde. Und daß mir noch dies Anschauen vor meinem Tode hat werden sollen, das ist es, sosehr ich auch leide und mich winde, wofür ich meinem Schöpfer den allerbrünstigsten Dank sage.

Nimm es, das Blatt, Du mein Du, Du mein wahres inniges Ich, das I meines Ich, oder der Geisterlaut unsers deutschen Ch, welcher das I krönt, nimm Du Du – des Dus Du – das heißt nach Menschensprache und möglicher sittlicher Schicklichkeit staubwärts übersetzt: nehmen Dieselben, verehrte, liebwerteste, schönste Madame Leonhard, nehmen Sie diesen Unsinn und sehen Sie ihn mit diesem Blick an, mit dem Blick, der so oft aus Ihrer Seele kommt und selbst Seele ist; dann wird das schwarze Gekritzel auf diesem Lumpenpapier auch mein ewiges unsterbliches Ich sein, das dadurch magisch und mystisch zur göttlichsten Vermählung in Ihre Seele steigt; dann hast Du mich aufgetrunken, aufgesaugt und aufgeblickt, und ich bin Du und gar nicht mehr

Dero ergebenster Fülletreu,

Magister


Mit sonderbarer Bewegung las Leonhard diesen Brief. Er glaubte ihn zu verstehen, und legte ihn seufzend wieder in die Brieftasche. – Es war ja nur in anderen Worten, was die Gedichte[475] und Reime spielend und springend sagen wollen. – Erst spät konnte er den Schlaf auf seinem Lager finden.


Als am andern Morgen Leonhard gestärkt erwachte, mußte er sich erst besinnen, um sich ermuntert zurechtzufinden. Ihm fiel das enge, niedere Gemach auf; er fühlte, wie er sich in dieser Zeit in jenen hohen, weiten Räumen verwöhnt habe, und er pries in Gedanken die Reichen und Großen, daß es ihnen vergönnt sei, sich immerdar in geräumigen Zimmern und Sälen zu bewegen, wo kein niederes Dach, keine eng aneinanderrückenden Wände ihre Gedanken bedrängen und ihre Gefühle ängstigen. Als er den Gasthof verlassen hatte, war ihm aber so wohl und heiter, er fühlte sich wieder so ahndungsreich und frisch, wie in jener Jugendzeit, die er schon auf immer entschwunden glaubte. Jetzt waren es ungefähr zehn Jahre, daß er in diesen Gegenden gewandelt. Zwischen der Gegenwart und jener vergangenen Zeit lag es wie eine unermeßliche Kluft, und doch trat ihm ein Gefühl ganz nahe, als wenn er jene wundervollen Tage noch mit der Hand abreichen könne.

Jetzt mußte er über seine Empfindlichkeit von gestern lächeln. Sein Freund, so reich er war, und wie sich sein Vermögen auch seit kurzem vermehrt hatte, war so freigebig und gutmütig, hatte zu seinen abenteuerlichen Festen so viele Gäste in sein Haus geladen, daß er es sehr natürlich fand, wenn dieser durch Geschenke an einen wohlhabenden Freund seine Ausgaben nicht noch vermehrte. Auch das Bild der Schönen, und jener dämmernden Stube in der Hütte am Saume des Buchenwaldes war schon in eine Ferne hinabgesunken, die zwar noch in Farben schimmerte, aber doch schon der Schattenwelt angehörte.

Ein anderer Vorwurf, den er sich selber machte, überschlich ihn jetzt in der schönen Einsamkeit. Konntest du nicht, sagte er zu sich selber, schon vor Wochen hier in dieser schönen Natur leben und wandeln? Ja wohl hättest du jenen Zauber früher zerreißen sollen, der dich dort an goldenen Banden festhielt. Hier durchwandre ich das schöne Buch, in welchem ich meine Jugend noch einmal lese.

Als er am folgenden Tage weiterfuhr, erschien es ihm wie ein Traum, daß er schon an diesem Abend in Nürnberg eintreffen solle. Die Sonne fing schon an zu sinken, als er neben seinem Wagen einen jungen Mann wandeln sah, der ihm sehr ermüdet schien. Die Straße war beschwerlich, und da es Leonhard schien,[476] als ob der Reisende auch zur Stadt wolle, so lud er ihn ein, sich zu ihm zu setzen, weil er auf diese Weise sicherer und schneller sein Ziel erreichen könne, welches Anerbieten mit Dank angenommen wurde.

Es begann schon zu dämmern, und da die Straße eben durch einen Wald führte, so konnten beide ihre Gesichtszüge nicht mehr genug unterscheiden, um in nähere Bekanntschaft zu treten. Die Schatten der Bäume streiften wechselnd über sie hin; indem jetzt der Wagen wieder auf einige Zeit langsamer und ruhiger ging, begann der Fremde: »Sie wissen es wohl schwerlich, mein Herr, wen Sie jetzt eben so freundlich in Ihr Fuhrwerk aufgenommen haben?«

»Nein«, sagte Leonhard, »denn ich habe Sie ja zuvor nie gesehen.«

»Wenn ich nun ein Räuber und Mörder wäre?«

»Ich bin vom Gegenteil überzeugt, denn Ihr ganzes Wesen scheint friedlich und wacker. Sie wollen mich vielleicht bei zunehmender Dunkelheit erschrecken, aber ich bin nicht eben furchtsam.«

»Sie können auch ganz ruhig sein«, fuhr der Fremde lächelnd fort, »ein Räuber geht nicht leicht mit solchem kleinen bescheidenen Bündel, wie ich hier neben mir liegen habe. Aber bei alledem sitzt ein sehr merkwürdiges Individuum an Ihrer Seite.«

»So?«

»Ja, mein Herr, und Ihre Miene (die ich zwar nicht mehr genau unerscheiden kann, da Sie vielleicht eben eine ziemlich höhnische machen), aber zugleich Ihr Wesen, Ihre Sprache, alles flößt Vertrauen ein, und so gestehe ich Ihnen denn unter dem Siegel der Verschwiegenheit, daß ich der einzige und zwar rechtmäßige Sohn von Friedrich dem Großen bin.«

Leonhard war überrascht. Er machte den Versuch, sich etwas von der Seite des Fremden zu entfernen; aber der enge Sitz des Wagens zwang ihn, in seiner vertraulichen Stellung zu verharren. »Sie wundern sich gewiß«, sagte der Unbekannte, »ich merke es an Ihrem Fortrücken; ja, es ist sonderbar genug, und Sie können sich nun Ihr ganzes Lebelang rühmen, daß Sie mit mir so unverhofft zusammengetroffen sind. – Aber Sie sind so stumm?«

»Ich begreife die Möglichkeit nicht. Der preußische Friedrich starb, wenn ich nicht irre, im Jahre 1786, und Sie selbst scheinen mir, soviel ich sehen kann, ungefähr von meinem Alter; mithin hätte der große König Sie noch in hohen Jahren und nach dem siebenjährigen Krieg in die Welt gesetzt.«[477]

»Richtig!« rief jener, »ich bin jetzt dreißig Jahr und 1772 geboren, und zwar von der rechtmäßigen Gemahlin des großen Regenten. Und unmöglich finden Sie dergleichen? Lieber unbekannter Herr, was ist denn wohl einem solchen Geiste, einem so ungeheuer großen Monarchen unmöglich, einem Könige, der in seinem Reiche völlig unumschränkt herrscht, und keinem Menschen auf Erden von seinem Tun und Lassen Rechenschaft abzulegen hat? Ja, Herr, es kommen sonderbare Schicksale in der Welt zum Vorschein. Wer viel reiset, erfährt auch viel, und so geht es Ihnen jetzt. Und darum ist es eben recht verdrüßlich, wenn die Ofensitzer alles besser wissen wollen. Nicht wahr?«

»Allerdings«, sagte Leonhard, der nun schon nicht mehr zweifelte, mit wem er es zu tun habe.

»Sie wissen es gewiß«, erzählte der Fremde mit der größten Ruhe weiter, »welche Faktionen sich in den letzten Jahren des großen Königs schon am Hofe und im Lande gebildet hatten. Mit Drohungen wurde der armen Königin so zugesetzt, daß sie die Geburt des rechtmäßigen Prinzen verschwieg. Der vorige König beherrschte nun als nächster Thronerbe bis etwa vor vier Jahren das Land, und ich gönne auch dem jetzigen Herrn seine Würde und sein Glück, denn er ist wacker und tugendhaft; und überhaupt – wenn ich auch mit meinen Ansprüchen hervortreten wollte, so hat jene Kabale es leider so fein angezettelt, daß ich wohl schweigen muß.«

»Aber wie haben Sie, da man Sie in Windeln raubte, erfahren können, daß Sie der Geburt nach der rechtmäßige König sind?«

Der Fremde schwieg eine Weile, als dächte er dieser Frage nach. »Wenn Sie die Kupferstiche vom großen Friedrich ansehen«, sagte er dann, »und betrachten morgen beim Sonnenlicht meine Physiognomie, so wird Ihnen gar kein Zweifel übrigbleiben. Und nach her habe ich darüber sehr authentische und wichtige Papiere, die mir von Männern, die aber unbekannt bleiben wollen, zugefertigt sind. Die Sache leidet wirklich keinen Zweifel; auch bin ich ganz fest davon überzeugt. Im Jahre 1792, als die Koalition geschlossen war, und die deutschen Heere gegen Frankreich marschierten; – o mein Herr – da war in meinem Leben ein großer, ein einziger Moment. Die Republikaner nämlich und Dumouriez und die Begeisterung in Deutschland und La Fayette und der National-Convent, ja durch heimliche Emissäre der König von Frankreich selbst, alle forderten mich dazumal auf, mich zu erklären, öffentlich aufzutreten, um durch mein[478] Wort alle jene Rüstungen zu entwaffnen; als großer deutscher Fürst dann die gute, verkannte Sache zu vertreten und so mit Lorbeeren und unsterblichem Ruhme mein jugendliches Haupt zu schmücken.«

»Ei«, sagte Leonhard, »diese einzige Gelegenheit und große Aufforderung hätten Sie doch benutzen sollen.«

»Glauben Sie denn«, sprach der Fremde mit bewegter Stimme, »daß mein Ehrgeiz damals nicht rege genug gewesen wäre, um durch diesen Gedanken mein jugendliches Blut zu erhitzen? Aber die jesuitische Klugheit jener Kabale hatte ja alles für alle Zeiten unmöglich gemacht. Hätte man mich entführt und irgendeinem Handwerker übergeben, in fremde Länder oder nach Amerika gesendet, ja hätte man mich an die Zigeuner verkauft, so war es möglich, mit Ehren hervorzutreten, ja der letzte Umstand hätte der Sache wohl gar eine romantische Farbe gegeben; aber so hatten die Bösewichter mich unter die Juden gesteckt. Ja, sehen Sie, Sie lachen, Sie können nicht anders, und das ist die Ohnmacht, die mich lähmt, die mir jede Unternehmung unmöglich macht; denn das Lächerliche ist so allgewaltig, so unüberwindlich, daß alles, was es nur erreicht, sich vor ihm beugen muß. Hätte ich nun damals den Anforderungen genügen und auftreten wollen, und man hätte in Europa plötzlich vernommen, der echte König von Preußen ist erschienen, die ganze Gestalt der Dinge muß sich verändern, in ihm wirkt der Geist des großen unsterblichen Friedrich – und nun fragte Europa. Wer ist dieser junge Held? – und vernähme die Antwort: Ein Judenjunge! – so würde ja ganz Europa nur in ein lautes Lachen ausgebrochen sein, so wie Sie jetzt selber lauter und lauter lachen, was mich eigentlich beleidigen sollte, wenn die Sache nicht wirklich so überaus komisch wäre. – Lachen Sie also nur zur Genüge mein Herr, ich finde Ihre Lustigkeit ganz natürlich.«

Leonhard zwang sich, wieder ernsthaft zu werden, um den Unglücklichen nicht zu kränken, weil die Erlaubnis zum Auslachen doch vielleicht nicht ganz aus seinem Herzen gekommen war. – »Seitdem«, fuhr dieser dann fort, »sind nun wieder zehn Jahre vorübergegangen, und ich habe mich immer ruhig verhalten, welches die hohen Potentaten würdigen und mir zugute schreiben sollten. Das ist aber nicht der Fall, denn man läßt mich immer in meiner Armut bleiben, ohne sich um mich zu kümmern. Eins aber könnte man tun, da ich ja keine weiten Länderstrecken, oder großen politischen Einfluß verlange, mir nämlich das liebe gute Nürnberg schenken, welches ich so außerordentlich hochschätze.[479] Das Städtchen hat wirklich was Allerliebstes, und wer Sinn hat für das Heimische, Altdeutsche, so Altfränkische, der wird auch ebenso in das niedliche Nürnberg vernarrt sein, wie ich. Wäre das aber den Regierenden immer noch zuviel, so sollten sie mir doch wenigstens die Sebald-Kirche als mein Eigentum überlassen.«

»Da Sie aber zu der israelitischen Gemeine gehören«, sagte Leonhard, »was wollten Sie mit dieser christlichen Kirche anfangen?«

»Erstens«, antwortete jener, »wünsche ich sie mir, weil ich sie so unaussprechlich liebhabe. Das ist ein Kirche, sehen Sie, wie man wohl sagen möchte: Gerade so muß eine Kirche sein! Lorenz ist auch nicht übel, kommt aber nicht gegen meinen Sebald. Und, verstehen Sie denn nicht? Ich hätte ja immer noch den größten Vorteil davon. Die Nürnberger gehen sehr gern in ihre Kirche; sie ist immer gedrängt voll. So vermietete ich denn meine Kirche an die andächtige Gemeine, daß die Leute doch auch ihre Freude am Gottesdienste bezahlen müßten. – Ich habe auch wirklich Lust, mich nächstens dem Könige von Preußen persönlich vorstellen zu lassen, und ihm das Geheimnis zu eröffnen. Dann werden wir ja sehen, wozu er sich herbeilassen wird. Denn ganz umsonst darf er es doch auch nicht haben, daß ich ihm so ungestört Krone und Szepter gönne.«

Es wurde Leonhard peinlich, länger das Geschwätz des Törichten anzuhören; er fragte also, um abzubrechen, wo man wohl in der Stadt am besten einkehre, und der Plauderer sagte: »O ja nirgend anders, als im ›goldnen Rad-Brunnen‹. Da sind zwei alte, prächtige Leute, und ich bin auch viel da, und ein junger Freund, ein frommer, stiller Mann, der Braueigner Lamprecht. Wir bilden dort oft ein sehr geistreiches Konvivium. Im ›roten Roß‹ ist es auch immer noch gut, aber viel teurer; denn der Gasthof bleibt bisher noch der erste in der Stadt. Aber beim Rad-Brunnen wollen wir absteigen; es ist ja auch sehr möglich, daß mein Freund Lamprecht Sie bei dieser Gelegenheit gleich bekehrt; denn Sie sind doch gewiß noch ein Weltkind, das habe ich vorher wohl an Ihrem Lachen bemerkt. Und der Lamprecht hat eine außerordentliche Force im Bekehren; ehe man sich's versieht, ist man fromm geworden. Es ist eine wahre Lust, wie es ihm von der Hand geht. Ja, ja, das wird einen rechten Spaß geben, wenn Sie so in sich schlagen und einen ganz neuen Menschen anziehen. Haben Sie's wohl schon mal probiert? Es wird einem dabei ganz schnurrig zumute. Aber nachher die unendliche Seelenbefriedigung,[480] und unserm Herrgott so viel näher zu rücken durch solche Protektion: das ist doch auch mitzunehmen.«

So ging es wieder unermüdet fort, nachdem er diese neue Straße eingeschlagen hatte. Leonhard hörte wenig mehr hin und freute sich, als sie in das Tor hineinfuhren. Es war schon später Abend, und aus allen Fenstern schienen ihnen die goldenen Lichter entgegen, als sie durch die große Stadt und die herrlichen Gassen zwischen den hohen Häusern hinrollten. In diesen Augenblicken fühlte sich Leonhard sehr glücklich, sich als ein ganz Einsamer und Unbekannter in der Fremde zu befinden, sich seiner Jugend zu erinnern, und die damals empfangenen Eindrücke zu erneuern. Man hielt wirklich jetzt vor dem Rad-Brunnen, und die Diener kamen den Reisenden freundlich entgegen. »Ei! Herr Franke, kommen Sie auch schon wieder?« riefen sie, und begrüßten so mit Handschlag und Lachen den Törichten.

Dieser dankte nur kurz und obenhin seinem Reisegefährten, um sich eifrig nach Lamprecht zu erkundigen. Man wies ihn nach einem entlegenen Stübchen, in welchem dieser Freund schon seiner harre, obgleich man geglaubt, der Reisende könne erst morgen kommen. Als Leonhard die freundlichen Wirtsleute begrüßt und sein Zimmer in Augenschein genommen hatte, trat er mit hoch klopfendem Herzen seine Wanderung durch die geliebte, ihm so bekannte und doch jetzt fremd gewordene Stadt an. Wie feierlich begrüßten ihn die hohen Kirchen, rätselhaft aus der dunkeln Nacht hervortretend. Er stieg die kleine Anhöhe bei Sebald hinauf, wo er auch ehemals so oft gestanden hatte, und sah wieder die erleuchteten Häuser gegenüber. Dann ging er nach der Lorenzkirche, stand bei dem künstlichen Brunnen still, und hörte andächtig dem Geplätscher und Plaudern seiner feinen Wasserstrahlen zu. Er kehrte um, ging die Straße hinauf, und unten an der einsamen, stillen Burg vorüber. Er freute sich, daß er selbst in der Nacht das Haus wiedererkannte, in welchem Albrecht Dürer gewohnt, so fleißig gearbeitet und so viele Schmerzen erlitten hatte. Er fühlte sich wunderbar gerührt, und jedes Wort Vorübergehender, im bekannten fränkischen Dialekt gesprochen, ging durch sein Herz. So kehrte er um, und zauderte noch den Gasthof zu betreten, um diese poetische Stimmung nicht zu vernichten. Wie glücklich, sagte er zu sich selbst, eine solche alte edle Stadt als seinen Geburtsort zu kennen, in ihr zu erwachsen und sich mit jedem Denkmal, jedem merkwürdigen Stein vertraut zu befreunden. Alles Große, Edle, Wunderliche gehört dem Eingebornen, er erlebt es täglich von neuem; jeder[481] Gedanke und jede Vorstellung wächst mit den früheren Jahrhunderten und ihren Begebenheiten zusammen; jeder Vorsatz, jede Arbeit klingt wie ein nötiger, schöner Ton in das vollstimmige Konzert hinein, das immerfort musiziert, und so alles, was entsteht und sich neu erzeugt, in seine wohltätige Regel und ihren Wohlklang zart und mütterlich aufnimmt.

Als er in den Gasthof trat, fand er nur wenige Menschen an der Tafel, eine stille Gesellschaft, die seine Gedanken und Gefühle nicht störte. In der Nacht schlief er gut in seinem ruhigen Zimmer, und erwachte erquickt und neu gestärkt mit der Frühe des Morgens.

Es war Sonntag, und indem er die Glocken schlagen und läuten hörte, war es ihm so heimisch, so bang schaurig und so heiter und still sehnsüchtig, wie in der frühesten Kindheit. Er ließ diese Sabbatstille in seinem Herzen gewähren, und die Gestalten und Gefühle ruhig beseligt walten, die aus seinem Innern, wie aus unsichtbarer, lautloser, ferner Gegend, emporquollen und ihn anlächelten. – Wie sonderbar dünkte es ihm, daß gar viele hochbegabte Menschen einer Absonderung von den übrigen, einer Sekte und in dieser wieder der Redensarten, der willkürlichen Zeichen bedürften, um sich fromm zu fühlen. Welche Süßigkeit des Himmels entfaltet sich so oft, und verbreitet sich durch unser ganzes Innere, wenn wir den Engel nur gewähren lassen, der mit melodischem Flügelschlag den Teich anrührt, daß seine bewegten zitternden Wogen mit heilender und heiligender Gesundheit emporrauschen.

Bei diesen Worten kam der alte Joseph und dessen Grillen über Sprache in seine Gedanken, und um nicht ganz sich in Träumerei zu versenken, ging er in das gemeinsame Zimmer, um sein Frühstück zu genießen. Der törichte Franke lief jetzt durch die Stube indem er einen schönen jungen Mann an der Hand herzuführte, in dessen frommer Miene und stillem Wesen Leonhard jenen Lamprecht, den ihm der Unkluge geschildert hatte, zu erkennen vermeinte. Sie begrüßten sich gegenseitig und verabredeten mittags an der Wirtstafel sich wiederzufinden. Leonhard eilte in die Sebaldkirche, und die vollen Orgeltöne begrüßten ihn. Durch die gemalten, bunten Fenster schien die Sonne, und brach den scharfen Strahl in den schimmernden hellen und lieblichen Farben. Als wenn durchsichtige leuchtende Decken in Farbenpracht vom hohen Gewölbe niederhingen, so harmonisch verbanden sich die schönen Fenster mit dem ehrwürdigen schattenreichen Gebäude, das sie sanft erhellten. Die Kanzel, Sebalds schönes Grabmal,[482] die merkwürdigen Bilder sah er jetzt nur aus der Ferne, um den Gottesdienst nicht zu stören. Auf die Predigt konnte er nicht eben achten, denn seine Träume übertönten das lehrende Wort des gutmeinenden Priesters. Er entfernte sich wieder still, um auch die schöne Lorenzkirche in dieser Stimmung zu besuchen, deren leichtere Bauart und schlankere Säulen fast fröhlich gegen des Sebaldus-Doms ernsteren Charakter abstechen. Er ließ seinen Genius gewähren, der heut in seinem Innern waltete, und den Vorhang vom Allerheiligsten zurückschlug. Wer diese Tempel-Empfindung niemals gefühlt und erlebt hat, der wird es schwerlich begreifen, daß Leonhard sich in einen Winkel verbarg, um seine Tränen unbemerkt strömen zu lassen.

Als er sich an diesem wollüstigen Weinen ersättiget hatte, wandelte er wieder bei sonntäglicher Stille durch die herrliche Stadt, Wieder erfreute er sich, wie vor Jahren, der Blicke auf den Brücken über das Wasser hin, und die wundersamen hölzernen Galerien, die, geschnitzt, bemalt, häusliche Arbeiter zeigten, oder spielende Kinder, oder sinnende Menschen, die sich über das Geländer lehnten. Er trauerte über jede Veränderung, die er wahrnahm, und die die Einwohner wohl eine Verbesserung nennen mochten. Viele der wunderlichen Gemälde hatte man ausgelöscht; so die Riesen in der Nähe des roten Rosses, welche Otnit, Hildebrand, Dietrich von Bern und andere Helden der alten deutschen Gedichte vorstellen sollten. Viele Häuser waren mit jenem aufgeklärten Weiß oder Hellgelb überzogen, an welchen vormals Engel und schwebende Marien prangten; manche neue Gebäude zierten sich mit jenem negativen Stil der neueren Architektur, und nahmen sich in Leonhards Augen neben den echten alten Bürgerhäusern nur widerwärtig aus. So, geteilt in Zorn und Freude, kehrte er in seinen Gasthof zurück.

Aber welch unangenehmes Gefühl überraschte und störte ihn, als ihm aus dem Eßzimmer ein rohes Geschrei entgegentönte, und er in der Ferne die fratzenhafte Figur jenes Wassermann unterschied, der ihm schon auf der Reise damals so verletzend entgegengetreten war. Er konnte es nicht über sich gewinnen, sich an derselben Tafel niederzulassen, weil ihm der Gedanke unerträglich war, von dem widerwärtigen Menschen wohl gar wiedererkannt zu werden. Er ließ sich also von dem willigen Kellner seine Speisen in das Nebenzimmer bringen, wo er, weniger gestört, das laute Schreien des Übermütigen nur wie aus der Ferne vernahm.

Sowie die Tür geöffnet wurde, vernahm Leonhard die Worte[483] des laut Sprechenden deutlich, und um so mehr, da die übrigen nur wenig und leise sprachen. Nach und nach gewöhnte sich der Einsame mehr an das Geräusch, weil ihn seine gerührte Stimmung, vom Wein erheitert und gestärkt, nach und nach verließ, und einer alltäglicheren Fröhlichkeit Platz machte. So war ihm endlich in dieser sichern Ferne der Herr Wassermann weniger verdrüßlich, und er konnte auf sein Geschwätz und seine Prahlereien, ohne sich zu ärgern, hinhören. Da vernahm er denn, wie der Schreier von seiner nahe bevorstehenden Heirat erzählte, und wie er dann wohl, zum zweitenmal vermählt, sich mehr zur Ruhe setzen würde, und weniger in den benachbarten Ländern umherreisen. Er kenne die Welt und habe sie gehörig genossen, daher sei ihm auch die Neugierde, die den jungen Gimpeln so eigen sei, völlig vergangen.

Leonhard mußte lächeln, denn diese Äußerung traf ihn selbst am meisten, der diesen ganzen Vormittag in der Stimmung eines Jünglings geschwelgt hatte, der zum erstenmal seine eingewohnte Heimat verläßt. So fuhr nun Wassermann fort, seine Lebensansichten und seine Gedanken über Liebe und Ehe auszusprechen. War ihm die Liebe schon lächerlich, so war nach ihm die Eifersucht gar das Verächtlichste, wozu der Mann nur hinabsinken könne. Er verlangte für beide Geschlechter völlig dieselben Rechte und Befugnisse, und da keinem Richter und Gesetz das Recht zustehe, den Mann zu beschränken, wenn er nicht öffentlichen Skandal mache, so dürfe die Frau auch nicht wie eine Sultanin behandelt und eingesperrt werden. Wenn der Mann freilich Unrat merke, oder gar hinter eine Liebschaft komme, so sei es ihm natürlich erlaubt und geziemend, mit einem tüchtigen Stock vorzüglich an der Frau seine Genugtuung zu nehmen. Mehr als barbarisch aber, völlig abgeschmackt sei es, zu forschen, fragen, zanken über das, was vor der Ehe sich begeben haben könne. Eine europäische Narrheit sei es, von dem Mädchen und der Braut zu verlangen, daß sie keinen Mann vorher gekannt, oder geliebt, oder sich ihm ergeben habe, da es doch abgeschmackt herauskommen würde, wenn man den Bräutigam, ob jung oder alt, darüber examinieren oder erkommunizieren wolle. »Wahrlich«, rief er endlich, »auch hierin hat sich Moses als der größte Denker und Gesetzgeber erwiesen; denn bei den Juden darf nach dem mosaischen Recht kein Ehemann das verlangen, was die anderen Religionen in ihrer Torheit so hoch stellen.«

»Was wissen Sie vom mosaischen Recht!« rief jetzt eine Stimme, die gegen jene des Wassermann nur dünn klang und in welcher[484] Leonhard seinen gestrigen Reisegefährten wiedererkannte. – »Gewiß mehr, wie Sie«, schrie Wassermann, »denn ich bin ein ausgebildeter Mensch.« – »Ein Ignorant!« rief der andere, »ein Inhumaner! denn das charakterisiert die deutsche Roheit, sich ewig und immer wieder an den Juden reiben zu wollen, die wohl mehr Genie, Geist und Gelehrsamkeit zeigen, als die meisten jener eingefleischten Christen!« – »Himmel-Tausend-Sakerment!« schrie jetzt Wassermann – und man hörte einen Wurf Sturz und Aufschrei, dann ein lautes Getümmel, wie von einer Schlägerei.

Als Leonhard die Tür öffnete, sah er auch schon das vollständige Handgemenge. Wassermann hatte nämlich, ohne nur zu rufen: »Vorgesehen!« dem törichten Franke, der die Juden nicht wollte schmähen lassen, eine Weinflasche an den Kopf geworfen und so richtig gezielt, daß dieser, verwundet und betäubt, sogleich unter die Tafel stürzte. Sein Freund Lamprecht war mit dem Ohnmächtigen beschäftigt; Wirt und Wirtin standen entsetzt beiseite und rangen die Hände, indes Wassermann sich gegen vier andere Männer als ein Held ebenso rüstig als gewandt verteidigte; denn dem einen, der der Angesehenste schien, hatte er mit seinem Stuhle eine bedeutende Wunde an der Stirn beigebracht, so daß von dieser das Blut herniederströmte. Die anderen drei, nebst zwei Aufwärtern, hatten sich endlich des trunknen und wütenden Wassermann bemächtigt, hielten ihn fest und banden ihm Hände und Füße mit Servietten und Schnupftüchern.

»Mein Herr«, rief jetzt der Verwundete, »nun sollen Sie erfahren, was das auf sich hat, in einer angesehenen Stadt, in anständiger Gesellschaft solchen Skandal aus Mutwillen anzufangen, und mich, einen Polizeibeamten, der den Frieden herstellen will, tätlich, einem wilden Tiere gleich, anzufallen. Dieser Rausch und diese Roheit wird Ihnen teuer zu stehen kommen.«

»Ist der Jude da tot?« fragte Wassermann, auf der Erde liegend und festgebunden.

»Gottlob nicht!« rief Lamprecht aus.

»Nun so wird die Dummheit nicht viel zu bedeuten haben« sagte Wassermann; »laßt mich nur wieder los, und ich gebe mein Ehrenwort, mich an keinem Menschen mehr tätlich zu vergreifen.«

»Ihr Ehrenwort?« rief der Polizeibeamte; »ich möchte lachen wenn mir die Wunde am Kopfe nicht so unbequem fiele; wie[485] solche Menschen nur noch das Wort Ehre in ihren Mund nehmen können.«

Einer der Aufwärter war indessen nach der Wache gegangen. Der Beamte befahl den Übeltäter, nachdem ihm die Beine waren frei gemacht worden, mit gebundenen Händen zum Gefängnis abzuführen, indessen er sich selbst in einem Wagen nach seiner Wohnung bringen ließ. Der verwundete Franke ward zu Bett gebracht.

»O mein werter Herr«, sprach der Wirt in einem flehenden Tone, »rechnen Sie es uns ja nicht an, daß dergleichen in unserm stillen Hause hat vorfallen dürfen. Wie gern hätten wir dem furchtbaren Herrn Wassermann das Losement verweigert, weil er fast immer betrunken ist; aber er hat uns guten Wein geliefert, und die letzte Rechnung ist noch nicht bezahlt, so daß wir ihn wirklich nicht abweisen konnten, ohne uns selbst Schaden und Verdruß zuzuziehen. Aber es ist ein gottloser Mensch, und ich hoffe, sie werden ihn nun diesmal recht ordentlich schröpfen, so daß er endlich Mores lernt, und seine Nebenmenschen nicht mehr auf so schändliche Art molestiert.«

Jetzt trat auch der hübsche, stille Lamprecht in das Zimmer und sagte: »Der Wundarzt versichert, die Wunde habe an sich selbst nicht viel zu bedeuten, und nach ein paar Tagen, wenn der Kranke nämlich die gehörige Ruhe genossen, sei alles wieder in Ordnung.«

Sehr erleichtert verließen der alte Wirt und die Wirtin das Zimmer, und Leonhard sagte, indem er sich zum stillen Lamprecht wandte: »Ihr Freund, der Verwundete, hat mir schon viel von Ihnen gesagt, und ich wünschte nur, wir hätten, ohne diese fatale Geschichte, unsere Bekanntschaft machen können.«

»Der Herr«, erwiderte Lamprecht, »führt einen jeden auf eine eigene, und manchen auf eine wunderliche Weise. Schlägt es nur zum Heil aus, so ist es immerdar zu loben.«

»Gut«, versetzte Leonhard, »aber war es wenigstens nicht unvorsichtig von dem jungen Israeliten, sich in diesen unnützen Streit mit einem Trunkenbold einzulassen? Zwar ist der Arme auch an sich selbst gestört und seiner Vernunft nicht mächtig.«

»Ach! lieber fremder Herr« sagte jener seufzend und mit frommer, weicher Stimme, »es ist gar nicht so, Sie kennen Ihren Reisegefährten allzu wenig.«

»Wieso?«

»Er ist nichts weniger, als ein Jude; er ist ein ordinärer getaufter[486] Christ, wie wir es alle sind; er ist nur seit wenigen Tagen ein Jude, oder bildet sich ein, daß er einen solchen vorstelle.«

»Ist es möglich?«

»Lassen Sie sich dienen«, fuhr Lamprecht fort; »ist Ihnen noch niemals die Erfahrung geworden, daß gewisse Menschen zu manchen Zeiten, oft alljährlich, ihren ordinären guten Verstand einbüßen, und auf einige Zeit zu Narren werden?«

Leonhard sah den Sprechenden mißtrauisch an und sagte dann: »Lieber Mann, das begegnet uns wohl allen.«

»Ich meine es nicht so«, erwiderte jener; »denn das möchte wohl nur das allgemeine Menschenschicksal sein, dem nicht auszuweichen ist. Nein, mein lieber Herr, es gibt gewisse Temperamente, die, sei es im Frühling, Herbst, oder Sommer, geradezu überschnappen, in den Wahnsinn oder ins Delirium geraten, und zu diesen sonderbaren Wesen gehört mein Freund Franke. Wie sollte er denn ein Jude sein, da er hier in der Stadt geboren und erzogen ist? Aber alljährlich, und zwar immer zu derselben Zeit, wird er unsinnig und bildet sich bald diese, bald jene Narrenposse ein. Einmal ist er Katze, oder Hund, oder Fledermaus; ein andermal hat er einen Mord begangen und soll hingerichtet werden, oder er ist in eine Prinzessin verliebt, und dergleichen mehr. Seine alten Eltern wohnen vier Meilen von hier, dahin war er gewandert; und da ich wußte, daß gestern sein kritischer Tag war, so wurde ich sehr besorgt um meinen Freund, weil er länger ausblieb, und unter diesen Umständen auf dem Wege leicht Schaden nehmen konnte. Ich war nun begierig, mit welcher Narrheit er durch das Tor schreiten würde, und, siehe da, er ist uns diesmal als Jude und Prätendent des preußischen Thrones wiedergekommen.«

»Sonderbar!« sagte Leonhard, »und doch hat er mir so umständlich die Sache erzählt.«

»Ganz recht«, sagte Lamprecht; »in diesen Krankheitsumständen ist er immer sehr redselig, und von seiner Ansicht so überzeugt, daß er wie heute solche bis aufs Blut verteidigt. Was gehen ihn die Juden und ihre Meinungen an? Was brauchte er sich ihrer so lebhaft anzunehmen?«

»Was Sie mir da eröffnet haben, teurer Mann«, begann Leonhard wieder, »erfüllt mich mit dem höchsten Erstaunen. Ein Kranker aus diesem sonderbaren Spital ist mir bis jetzt noch niemals vorgekommen. Und es sollte noch mehr solcher Patienten geben?«

»Wer zweifelt daran?« antwortete Lamprecht; »ich muß mich[487] bloß über Ihre Verwunderung verwundern. Wenn in uns allen wohl etwas ist, das den Organismus, oder unser Leben stören will, und das die Natur vielleicht im Ärger, oder Schnupfen, oder einer Leidenschaft, oder Prügelei, oder wie sonst hinwegschafft, damit der Mensch in seinem gewohnten Gleise bleibe – so gibt es auch immerdar so geformte Wesen, bei denen, ohngefähr wie beim Mondsüchtigen, eine zeitgemäße kürzere oder längere Verrücktheit eintreten muß, damit sie nachher nur ihrem Amte als sterblicher Mensch gehörig vorstehen können. So schütteln sie die Schlacken ab, und sind nachher so reputierlich, wie zuvor. So lebt in einer großen Stadt, nicht gar weit von hier, ein sehr gelehrter Mann; dieser wird von hoch und niedrig besucht und verehrt; er steht mit andern herrlichen Geistern in Korrespondenz, und man nennt ihn oft den Stolz seines Vaterlandes. Dieser Gelehrte fällt in jedem Jahr im Herbst, wenn die Tag- und Nacht- gleiche eintritt, in einen sonderbaren Zustand. Er reißt nämlich alsdann seinen Kachelofen ein, wirft die Kacheln umher und arbeitet dabei ohne Rock und Weste im Hemde so eifrig, daß ihm der klare Schweiß von der Stirne trieft. Nun nimmt er den Lehm und Ton, mit welchem der Ofen ausgefüttert ist, mischt diesen und weicht ihn höchst mühsam auf mit Wasser, bis er in seinen früheren bildsamen Zustand zurückgekehrt ist. Dann formt und backt er aus diesem Ton Kugeln von mäßiger Größe, und beschenkt, wenn die eigentliche Raserei vorüber ist, jeden seiner Freunde, auch jeden Vornehmen, selbst die Damen, die ihn verehren, mit einer dieser Kugeln, als einer untrüglichen Universalmedizin gegen alle Übel und Krankheiten. Im ersten Monat wenn die Wut schon ganz vorüber ist, geht er nie aus, ohne einige dieser Pillen bei sich zu tragen, um der leidenden Menschheit unter die Arme zu greifen. In jedem Jahr kommt der Töpfermeister von selbst und ungefordert in sein Logis, weil er schon weiß, welche Arbeit er dort zu tun findet, und nachher ist derselbe Mann so gelehrt und weise, als er es nur jemals war.«

»Wohl dem«, fügte Leonhard hinzu, »an dem der Aberwitz dieser Vampyr, nur so genügsam zehrt, und ihn dann wieder freiläßt. Diejenigen, die sich ohne alles Talent für große Dichter, Staatsmänner, oder Weltweise halten, sind auf jeden Fall viel schlimmer daran.«

»So gibt es wieder andere«, erzählte der sinnige Lamprecht weiter, »die ergreift in ganz unbestimmten Zeiten, bald nach längeren, bald nach kürzeren Fristen, der böse Geist. Es kommt über sie, wie ein Gewitter aus heiterm wolkenlosem Himmel.[488]

Wehe denjenigen, die alsdann in ihre Nähe kommen. Ein solcher Mann befindet sich als Mitgleid in unserer stillen Gemeine: das frommste, liebevollste Gemüt, wohltätig, menschenfreundlich, nachgebend, so sanft, daß ein Kind ihn einschüchtern könnte; aber, wenn er vom Satan besessen ist, so ist kein Auskommen mit ihm, dann fürchtet er weder Himmel noch Hölle, dann achtet er weder Gott noch Menschen. Und auch bei diesem Subjekt hat das Schicksal einen artigen Ausweg gefunden, so daß alle, die ihn kennen, ihm an solchem Tage aus dem Wege zu treten vermögen. Er geht im Hause für alltäglich in einem einfachen Überrocke; ergreift ihn aber jener höllische Geist, so empfindet er schon, indem er aus dem Bette steigt, ein sonderbares Gelüst, einen uralten feuerfarbenen Schlafrock, den er sonst niemals trägt, anzuziehen. So sitzt er denn wie ein altes Gespenst in seinem Zimmer, und ihm ist es selber ganz recht, wenn an diesem Tage Freund und Bekannter seine Nähe vermeidet.«

Jetzt brach Lamprecht auf, um nach seinem kranken Freunde zu sehen; Leonhard aber konnte es nicht müde werden, seine vielgeliebte Stadt zu durchwandern. Er mochte nicht aus dem Tore gehen, um die poetische Täuschung, in welcher er befangen war, nicht aufzulösen, weil er von ehemals wußte, daß die Natur und Gegend um Nürnberg her nichts Erfreuliches bieten. Er segnete eine Stadt, wie es freilich nur wenige gibt, deren Steine, Mauern und Türme den Wanderer so fesseln können, daß er keine Sehnsucht empfindet, die ihn hinaus in das Freie treibt.

Leonhard hatte versprochen, am Abend, weil es Sonntag war, einer heiligen Versammlung beizuwohnen, welche zweimal in der Woche bei dem Brauer Lamprecht zu einer gottesdienstlichen Feier sich verband. Die Mitglieder dieser Gemeinschaft versäumten zwar die Kirchen nicht, um nicht aufzufallen und kein Ärgernis zu erregen; sie hielten aber den öffentlichen Gottesdienst für etwas sehr Gleichgültiges, und sparten ihren Eifer und die wahre Andacht für diese fast heimlichen Zusammenkünfte. Leonhard bereute sein Versprechen, und begriff jetzt selbst nicht, wie er es zu geben sich hatte verleiten lassen; indessen wollte er sein Wort nicht brechen und begab sich in das Zimmer, wo die übrigen schon versammelt waren. Er fand dort den Vorsteher, den Braueigner Lamprecht, und den eingebildeten Juden Franke, der mit verbundenem Kopfe, blaß und seufzend dasaß. Einige ältere und jüngere Männer waren noch zugegen, und Leonhard ließ sich denjenigen vom Vorsteher bezeichnen, welcher zuzeiten den feuerfarbenen Schlafrock anlege, um Freund und Feind zu[489] schrecken. Er war offenbar der Älteste der Gesellschaft, ein blasser Greis, mit schlichtem weißem Haar, einer andächtigen, sanften Miene und mit dem Ausdruck stiller Frömmigkeit im Auge. »Unmöglich!« sagte Leonhard, »dieser ist nicht fähig, auch nur ein Tier zu kränken, oder ihm wehe zu tun.«

»Lieber Bruder«, sagte Lamprecht, »in uns allen liegt der Löwe nur an Ketten, und springt brüllend auf, sowie er sich frei fühlt. Ohne Gnade von oben und festen Willen von uns selbst, sind wir dem wilden Wahnwitz immerdar preisgegeben. Keiner halte sich für den Sichern, denn dieses Trotzen auf unsere Sicherheit ist eben unsere allergrößte Sünde. Wer sich bescheiden fürchtet und an seinen Kräften zweifelt, wird der Versuchung viel weniger unterliegen.«

Man hörte die Glocke schlagen, und alsbald schwiegen alle und vereinigten sich zu einem stillen Gebet. Nun stand Lamprecht auf und hielt eine lange Rede, bei welcher Leonhard wohl einsah und fühlte, daß sie eigentlich zunächst auf seine Bekehrung abzwecke. Der junge Mann trug nicht ohne Beredsamkeit und Begeisterung den Gedanken vor, daß sich die Andacht jedes einzelnen, die oft den zerstreuten Weltmenschen sogar besuche, an dem Glauben und der Erhebung des zweiten Bruders stärken und kräftigen müsse. Nur so bewähre sich die Gnade und werde sichtbar, die sonst nur flüchtig, wie Sonnenglanz bei stürmischem Wetter, vorüberfahre und das Herz vielleicht nur leerer und dürrer ausschöpfe, als es sich vorher gefühlt habe. So sei das Bedürfnis der Gemeine früh empfunden worden, und darauf habe sich die Kirche begründet. In solcher Gemeinsamkeit wehe gleichsam ein Geist in allen Gliedern, und jeder sei zugleich Laie und Priester. Priester im schönsten Sinn des Wortes sei jeder, dessen Seele sich vom Anhauche Gottes erregt fühle, so sei es im Anbeginn der Christenheit gewesen, und dieses Vorrecht der Erleuchtung habe die Reformation auch wieder reklamiert. Nur habe sich leider, schon sehr früh, die Priesterherrschaft in anderer Gestaltung wieder eingeführt, welche ein Monopol mit Gnade und Glauben treiben wolle. Dies zwinge begeisterte Gemüter zu einer engern, aber stillen Verbindung, die sich der Öffentlichkeit entziehe, und nur in der Verborgenheit stark und segensreich bleiben könne. Dieses freie Christentum, vom Staate nicht sanktioniert, durch keine erteilte Priesterwürde gerechtfertigt, sei eben dadurch das wahre, ursprüngliche, welches die Apostel gegründet hätten, und welches auch alsbald seine Weihe und Wahrheit verloren, sowie ihm öffentliche Anerkennung und ein Privilegium[490] geworden sei. In diesen Gemeinen aber, die nur das bewegte Herz und das Bedürfnis des Glaubens zusammenführe, sei nach der Verheißung der Heiland wahrhaft gegenwärtig; er segne sie durch seine unmittelbare Liebe, die sich allen mitteile; und in diesem Überschwung der Liebe, in dieser Einverleibtheit mit ihm sei die Vergebung aller Sünden und der Genuß der Gnade, sowie seiner persönlichen Gegenwart, und die Begeisterten bedürften also keines Symbols oder einer körperlichen, sichtbaren Überzeugung.

Es war nicht zu verkennen, daß der Redner eine Erschütterung Leonhards erwartet hatte, die mit dem Bekenntnis und Entschluß endigen würde, daß er ein Mitglied dieser Sekte werden wolle. Als diese Entwickelung nicht erfolgte, war Lamprecht erst etwas verlegen; dann entschloß man sich, gewöhlichere Gespräche zu führen, die das alltägliche Leben betrafen. Nach und nach entfernter sich die übrigen Mitglieder, und nur Leonhard, Lamprecht und jener stille Greis, welcher sich Alfert nannte, blieben beisammen, um bei vertraulichen Gesprächen ein leichtes Abendessen einzunehmen.

Leonhard erzählte von sich und seinem Haushalt daheim, seiner Frau und seinem Pflegesohn, wie sich sein Geschäft ausgebreitet habe, und wie er als junger Gesell vor etwa zehn Jahren Franken, Schwaben, die Rheinländer und noch andere Gegenden durchstreift habe. Da jetzt nicht mehr von religiösen Gegenständen die Rede war, und seine Genossen den Anschlag auf ihn aufgegeben hatten, so wurde er um so redseliger, als er seit lange schon nicht mit solchen Menschen umgegangen war, die dasselbe bürgerliche Interesse am Leben hatten, als er.

So hatte er auch des alten Magisters erwähnt, welcher seinen Pflegesohn unterrichte. Seit er jenen sonderbaren Brief gelesen hatte, war ihm die Gestalt des alten Mannes immerdar vor Augen. »Ei! ei!« sagte der greise Alfert nach einiger Zeit: »gar wundersam und gleichsam dem Märchenhaften nicht ganz unähnlich Dieser alte Mensch, wie Sie ihn beschreiben, ist öfter in dem Landstädtchen Jessen gewesen; er hat in Wittenberg studiert und promoviert; ja, ja, es wird schon mein lieber guter Fülletreu sein. Nicht wahr, das ist der Name jener alten Perücke?«

»Allerdings«, sagte Leonhard; »ich sehe also wohl jemand vor mir, der ihn ebenfalls kennt, oder gekannt hat?«

Der Alte stand mit Feierlichkeit auf, trocknete sich eine Träne vom Auge, und sagte dann mit vor Rührung zitternder Stimme: »Mein Herr Leonhard, nehmen Sie diesen Handschlag und[491] Druck, in die ich mein ganzes Herz und meine Jugend lege, und bringen Sie das der lieben, guten, frommen, demütigen Kreatur von Menschen, der allerbesten, die Gott erschaffen, oder die ich wenigstens habe kennen lernen.«

Er setzte sich hierauf wieder an seinen Platz, und forderte Leonhard auf, ihm alles zu erzählen, was er nur irgend von dem alten Magister wisse. Dieser konnte fast nichts mehr mitteilen, als was er selbst an jenem Abend erfuhr, als der alte Mann zufällig in Elsheims Gesellschaft ein Fragment seines Lebens zum besten gab. Nachdem er geendigt hatte, sagte der greise Alfert: »Ei, du mein lieber alter Fülletreu, du Schulkamerad und Universitätsfreund, eine Zeitlang sogar mein Stubenbursche! Ach, wo seid ihr hingeschwunden, ihr schönen Zeiten, in denen wir uns im Disputieren und in der Latinität übten! Ja, mein werter Herr, ich bin derselbige Bruder, mit welchem er damals jene Wallfahrt zum Hause meines Vaters nach Jessen anstellte. Ich war auch nachher beim Disputieren sein Hauptopponent, und ich machte es der armen Seele recht sauer. Denn ob wir gleich vertraute Freunde waren, so war uns doch die Wahrheit und Gelehrsamkeit mehr, als unsere Liebe. Ich wußte damals auch nicht, daß er sich in meine Schwester so vergafft habe. Ja, die ist nun auch schon längst gestorben, und auch ihr versoffener, unglückseliger Mann. Ich bin durch mancherlei Schicksale hieher verschlagen worden, und habe endlich in dieser Stadt ein kleines Ämtchen errungen. Ich war in meiner Jugend ein froher, leichtsinniger Bursche, ganz das Gegenteil von meinem stillen Freunde, dem Fülletreu. Diese freundliche Seele war das Muster eines christlichen Jünglings, so sanft, treu, fromm, unschuldig und harmlos, wie das Lamm, das der Mutter zum erstenmal zur Weide folgt. Ach, lieber Gott! ich habe noch das Buch, den Andreas Gryphius, in meinem Besitz, in welches er damals seinen Namen hineingeschrieben hat, als er es meinem alten Vater zum Präsent brachte. So ein Buch, so ein Schriftzug dauert länger, als der Mensch. Aber die Nachkommen, die Fremden, die es dann in die Hand nehmen, wissen nichts von den Schicksalen der Besitzer, von ihren Gefühlen und ihrem Unglück, und können sich also auch nichts dabei denken.«

Der Alte war so weich geworden und fühlte sich so ermüdet, daß er alsbald aufbrach, nachdem er noch einmal mit vieler Rührung von Leonhard Abschied genommen, und ihm viele Grüße an den alten Magister aufgetragen hatte. Als Leonhard und Lamprecht allein waren, fing dieser noch einmal an, vom Zweck[492] ihrer religiösen Gesellschaft zu sprechen, und wie gut und nötig es sei, daß gute Menschen, wie Leonhard, sich ihr anschlössen. Leonhard erwiderte ihm, daß ihm jene öffentliche Gemeinschaft und protestantische Kirche genüge, und daß in ihr dasselbe obwalte, was er an seiner abgesonderten rühme. Auch müsse nach seiner Überzeugung die Religion und die sie begründende Theologie, die Spekulation und Auslegung der Schrift nur Geschäft und Beruf des Priesterstandes sein; dieser sei also als dirigierend, belehrend dennoch notwendig, obgleich beim Gottesdienst selbst jeder andächtige Teilnehmer Priester sei und sein dürfe. Diese Absonderung aber, indem jeder Teilnehmer immerdar nach Eingebung und Begeisterung strebe, führe in der Regel zur Schwärmerei und zum Aberglauben, zugleich aber, was erst wiedersprechend erscheine, oft auch zur freigeisternden Ketzerei und unchristlichem Wandel.

»Schwärmerei!« rief Lamprecht aus, »ja, das ist euer beliebtes Wort, ihr Weltlichen, womit ihr alles Geistige und Übersinnliche niederschlagen wollt. Euch graut immerdar vor dem Geheimnis, und, wenn ihr könnt, tut ihr alles in den Bann als Ketzerei, was eurem törichten Schwanken und allen den ungöttlichen Negationen in den Weg tritt, damit ihr nur für andere Zweifel schwärmen könnt. Für diese, für das Nichts seid ihr fanatisch, und verdammt den Bruder, der euch die blinden Augen öffnen möchte. Ist dies nicht sophistische Gleißnerei?«

»Lieber Freund«, sagte Leonhard, »ich bin viel zu unwissend, um mit Ihnen über so hohe Gegenstände disputieren zu können. Lassen Sie mich in meiner Bahn fortwandeln, und ich will Sie auf der Ihrigen nicht stören. Sollte es nicht viele Wege zum Himmelreiche geben?«

»Es ist uns so verheißen«, antwortete Lamprecht, »nur kommt es darauf an, wie wir dieses höchst wichtige Versprechen erklären, damit es nicht selbst der Sünder zu seiner Rechtfertigung brauche; denn das Böse in uns ist gar listig, und versteht es, sich mit Redekünsten und hell schimmernden Trügnissen zu waffnen. Sie mögen, werter Freund, am Ende nicht unseres Bündnisses bedürfen; aber ich, der Schwache, Hinfällige, würde ohne dasselbe alles Trostes, aller Stütze beraubt. Ach! lieber Mann, Sie nannten, als Sie uns von Ihren Reisen erzählten, auch Tirol, mein vielgeliebtes Vaterland. Nach jenen schönen Bergen sieht das Auge meines Geistes immerdar zurück, und selbst Religion und Schrift können mir in manchen Stunden keinen Trost darüber geben, daß ich diesen unersetzlichen Verlust habe erleiden müssen. Ich[493] begreife die Menschen nicht, deren es doch so viele gibt, die freiwillig ihr Vaterland verlassen, und nachher in der Fremde nichts vermissen. Oh, wenn ich nur wenigstens einmal als durchwandernder Gast dahin wieder kommen, mit Tränen und nassen Augen nur einmal meinen Abschied nehmen und es anblicken dürfte!«

»Wie kommt es denn«, sagte Leonhard –

»Ich habe Vertrauen zu Ihnen«, fuhr jener fort, »und so mögen Sie denn erfahren, was ich sonst immer verschweige; denn ich weiß, daß Sie mein Geheimnis nicht verraten werden, da wenn es bekannt wird, ich noch jetzt vielen Verdruß, ja wohl Unglück dadurch erleiden würde. Ja freilich drückt mich ein Verbrechen, oder nennen wir es, wenn wir milde sein wollen, Leichtsinn, aber einen bösartigen der übermütigen Jugend. In einer der schönsten Gebirgsgegenden von Tirol bin ich geboren und erzogen, natürlich in der katholischen Religion. Meine Eltern waren in jener Stadt reich zu nennen und starben früh, so kam ich als Mündel zu einem sehr redlichen Vetter, der meine Erziehung und die Verwaltung meines Vermögens übernahm. Ich konnte dort recht glücklich sein, im Besitz meiner Acker und Weinberge, in den Wäldern, auf der Höhe der Berge jagend, mich der Natur erfreuend, von Verwandten und vielen Menschen geliebt und geachtet. Und warum erfüllte sich diese Hoffnung nicht? Weil ein Zwerg in demselben Städtchen lebte, eine sonderbare Kreatur, die um zweier Sachen wegen merkwürdig war. Das erste war seine Riesenstärke. Darum half er Weinschrötern und Weinhändlern, und war bei diesen Leuten sehr gern gesehen, die ihn für die Hülfe, die er leistete, gern beköstigten und kleideten, denn mit Geld wußte er nichts anzufangen, so blödsinnig wie er war. Es war zum Erstaunen, und man traute seinen eigenen Augen nicht, wenn man dabeistand, wie der ganz kleine Knirps, der nicht höher als vier Fuß war, ein ziemlich großes Faß voll Wein, was zwei Männer mit Mühe und Kunst aus dem Keller und auf den Wagen schroten mußten, so mir nichts dir nichts auf seine Schultern nahm, damit die Treppe hinaufstieg, es auf den Wagen legte, oder, wenn es sein mußte, es über die Straße nach einem andern Hause hintrug. Deswegen nannte man das Kerlchen auch nur den kleinen Simson. Sonderbar aber, daß er diesen Namen, der doch ein Lob war, durchaus nicht leiden konnte, und hiebei, sowie bei vielen andern Dingen, zeigte sich die zweite Merkwürdigkeit des kleinen Wesens, nämlich eine außerordentliche Bosheit und Schadenfreude. Darum ging ihm auch jeder gern aus dem Wege,[494] und ein alter Priester in unserer Stadt war der Meinung, ein böser Geist regiere und hantiere in dem kleinen Unhold. Rief ihm nun ein Bursche nach: ›Simson!‹ oder ein anderes Wort, das er nicht leiden konnte, so stellte er sich ganz ruhig hin, als wie im Traum, oder in Dummheit, kehrte sich dann, schnell wie der Blitz, um, griff den Bengel und zerarbeitete ihn mit seinen Riesenkräften ganz unbarmherzig. Übrigens schien der Verwahrlosete fast gar nichts zu begreifen; es war auch, als wenn er nicht sprechen könne, denn er redete nur sehr selten, und wenn es geschah, immer nur wenige Worte, die oft gar keinen Zusammenhang miteinander hatten. Seine Stimme war von einer Art, daß ich sie nicht beschreiben kann: so widerlich durch die Nase, so geklemmt und fein gurgelnd, so schnarzend, oder, wie soll ich es nennen? daß es wirklich keine Freude war, ihm zuzuhören, wenn er einmal zu reden anfing. Da der böse Zwerg schon einigemal junge Leute beschädigt und ihnen recht schlimme Verletzungen beigebracht hatte, so war es natürlich, daß die Jugend des Ortes fast ohne Abrede, ein Bündnis gegen den kleinen Simson geschlossen hatte, und ihm so viele Possen spielte, als sie nur ersinnen konnte. Wie nun aber in dem Zwerge überhaupt keine Vernunft war, so hatte er sich auch ein ganz unsinniges Spielwerk ausgedacht. Er schlief fast gar nicht; sobald Mondschein eintrat, war er noch mehr alert und auf den Beinen. Dann schleppte er alte Fässer auf die Höhe des Berges hinauf, trug Wasser hin und scheuerte und hantierte die ganze Nacht, daß ihm der Schweiß vom Gesichte triefte, und er müde und ermattet dann zurückhumpelte, worauf er in einen festen Schlaf fiel. Es kann wohl sein, daß sein Körper dieser Anstrengung bedurfte, denn nachher war er besonders vergnügt. So trieb er es fast immer, solange der Mond schien, und die Eigentümer ließen ihn auch in seiner Dummheit gewähren, weil er ihnen die Tonnen immer wiederbrachte. – Einstmals kam ich von einer Kirmes mit einem Schwarm junger Leute; wir alle waren fröhlich und ausgelassen. Da treffen wir in der Nacht den kleinen Simson bei seinen Fässern. Sogleich geht das Necken los, das Schimpfen und Lachen; aber er ergreift den einen von uns, und schlägt ihn mit solcher Wut zu Boden, daß dieser sofort die Besinnung verliert, und für tot daliegt. Der Zwerg wird auch wacker durchgedroschen, wehrt sich aber wie ein Held und wir alle hatten lange Zeit Flecken aufzuweisen, die wir uns in dieser Schlacht geholt hatten. Der arme Kaspar aber wurde niemals wieder ein gesunder Mensch, und blieb zu aller Arbeit untüchtig. So wurde denn der Zwerg[495] vor Gericht angeklagt, und weil der Kaspar wirklich ein verkrüppelter Mensch geworden, so tat man den wütigen Zwerg zur Strafe in ein Narrenhaus. Wie es aber so geht, am Ende hatte sich der Kleine doch nur seiner Haut gewehrt; Spaß und Schlag lassen sich nicht auf der Goldwaage wiegen. Ein mitleidiger Arzt bewies, daß der Unkluge bei dieser Einsperrung seine Gesundheit zusetze, und daß er auch friedfertig sein würde, wenn ihn die bösen Buben in Ruhe ließen, was nicht zu leugnen war. Man ließ den Simson wieder frei, und uns jungen Menschen wurde von Obrigkeits wegen bedeutet, den Armen, der wegen seiner Statur und des Mangels der Vernunft schon unglücklich genug sei, nicht ferner zu molestieren, und ihn nicht in Wut zu setzen. Alles vernünftig; nur meinten wir jungen Leute in unserm Dünkel, uns sei ein himmelschreiendes Unrecht geschehen, besonders weil unser Kamerad sein trauriges Leben in Abzehrung hinschmachtete. Indessen fügten wir uns, und hielten uns still, um nicht Verdruß zu haben. Wir gingen der boshaften Kröte aus dem Wege, der, als ob er es gewußt, daß wir eine Nase gekriegt hätten, immer laut und höhnisch hinter uns drein lachte. Nach Verlauf mehrerer Monate gab es ein Hochzeitsfest, dem viele von uns beiwohnten; andere hatten den Gemsen aufgelauert. Wir alle nun heiter, von der Hochzeitfeier und vom Wein ermuntert, an nichts weniger als den dummen Simson denkend, ziehen Alpenlieder singend über das Gebirge; zum Unglück aber führt uns der Weg wieder vor seinem Tonnenmagazin da oben vorbei. Diesmal ist er es, der zuerst angreift; er stürzt sich unter uns, und schlägt einen der Hochzeiter nieder, der sich eben drüben im Dorf nach dem Tanz verliebt und verlobt hatte. Der arme Junge liegt zu Boden, schreit, und wir merken, daß ihm zwei Rippen zerbrochen sind. Nun alles her über den Übeltäter, und sie sind nicht übel willens, ihn gar totzuschlagen. Da, möcht ich sagen, springt der böse Geist, der den Zwerg immer beherrscht hat, in mich hinein, und ich rufe: ›Haltet euch zurück, Freunde, tut ihm nichts! Laßt uns das Ungeziefer in die große Tonne hier sperren, den Boden wieder verspunden, und das Teufelsgezücht so den hohen Berg in den Abgrund hinunterrollen und laufen lassen.‹ Gesagt, getan. Mit lautem Lachen wirft sich der ganze Schwarm auf den Zwerg; sein Sträuben nutzt ihm nicht, seine Kraft ist ohnmächtig, denn es sind zu viele, die sich seiner bemächtigen. Man tut den Armen in das Faß und läßt dies den Berg abwärts rollen, den Abhang hinunter, der ziemlich steil und gewiß eine Stunde Weges sich erstreckte.[496]

Sonderbar! bei meinen Rat, den ich gab, war ich ganz heiter, mein Gewissen war stumm und meldete sich nicht. Nun erschrak ich vor mir selber und dem Unheil, das ich angerichtet hatte. Wir besorgten erst den Beschädigten, und als dieser unter Dach und Fach war, eröffnete ich meinen Kameraden, daß ich entschlossen sei, auszutreten, denn wir hätten etwas Heilloses begangen und würden in schwere Verantwortung fallen. Sie lachten erst und wollten mir nicht glauben, dann wurden sie still und ratschlagten; einige gingen hinunter und wollte sehen, was aus dem in der Tonne geworden sei. Ich ging noch diese Nacht in ein anderes Tal, und von dort lief ich in eine mir ganz fremde Gegend. Hier eröffnete ich mich einem Priester, der mich aber nicht lossprechen wollte, indem er sagte, der Fall sei zu wichtig, und er müsse die Sünde erst dem Bischof melden. Das verdroß mich denn auch. So lief ich immer weiter und kam endlich in protestantische Länder. Mein Vormund und alle meine Verwandten handelten sehr brav an mir; man schaffte heimlich und listig mein Vermögen mir zu, denn die Obrigkeit wollte mich strafen; natürlich hatte man unten den Zwerg nur als Leiche wiedergefunden. Alle jene lustigen Kameraden wurden gestraft; ich allein sah mich geborgen. Mehr beglückt war ich aber, als mein Geist erleuchtet ward, und ich meinen religösen Irrtümern entsagte, um mein Gewissen und meine Seele frei zu machen. Sie meinen zwar, Herr, ich sei nun von neuem gebunden; aber meine Seele bedarf dieser Fesseln vielleicht vorzüglich infolge jener Begebenheit, die ich noch nicht verschmerzen, und die Vorwürfe darüber immer noch nicht beschwichtigen kann, die mich in vielen Stunden peinigen. Jetzt habe ich Ihnen, lieber Mann, mein ganzes Herz eröffnet.«

Leonhard dankte dem biederherzigen Manne und erzählte ihm dann, unter welchen Umständen er jenen Zwerg auch in einer Mondscheinnacht vor Jahren angetroffen habe, worauf Lamprecht sagte: »Also hat er doch jenen Gesellen, mit welchem Sie damals wanderten, auch ruiniert, ja, man kann sagen, umgebracht, was er freilich ohne Absicht tat. Mein Unglück, sowie das manches jungen Menschen, hat er auch veranlaßt. Es ist immer denkwürdig, wie ich schon sagte, aus welchen Fäden sich so oft unsere Schicksale spinnen.«

Es war spät in der Nacht, und jeder ging eines andern Weges, um seine Ruhestätte zu suchen.[497]

Am folgenden Tage gab Leonhard den Brief seines Freundes im Hause des Banquiers ab. Man wies ihn sogleich in ein anderes Zimmer zum alten Herrn selbst, der ihn sehr höflich empfing und sogleich zum Sitzen nötigte. Nach kurzem Gespräch trat der Kassierer herein und zählte dem verwunderten Leonhard eine bedeutende Summe in glänzenden Goldstücken hin, worauf der alte Mann sagte: »Ich habe Ordre, Ihnen dieses einzuhändigen, mein Herr, und Ihnen zugleich diesen Brief zu übergeben.« Leonhard nahm ihn, die Aufschrift war von unbekannter Hand, und er war jetzt überzeugt, daß dieses die Erbschaft sei, die ihm überliefert werde, obgleich er nicht begriff, wie die Exekutoren des Testaments hätten wissen können, daß er nach Nürnberg kommen würde; doch war die Summe diejenige, die er von dort erwarten durfte.

Er ging auf sein Zimmer zurück, um die Summe Goldes wegzuschließen, und erbrach nun neugierig den Brief. Sowie er ihn öffnete, war er beschämt über seine Einfalt, denn er erkannte sogleich Elsheims bekannte Schriftzüge. Der Brief lautete so: »Da ich Dich, mein Geliebter, und Deine Wunderlichkeiten kenne, so habe ich es vorgezogen, auf diese Weise einen Teil meiner Schuld gegen dich abzutragen. Und wahrhaft ernstlich würdest du mich erzürnen, wenn du diese Summe ausschlagen wolltest, und mich dadurch so beschämen, daß ich niemals wieder deine Freundschaft oder Hülfleistung in Anspruch nehmen dürfte. Du bedarfst des Geldes bei deinem Geschäft; ich bin die Veranlassung daß du dieses versäumtest: wie könnte ich deiner Friedrike, die ich mir doch zur Freundin wünsche, wieder in die klaren Augen sehen, wenn ich so ganz sündhaft in deiner Schuld bliebe, ich, der Reiche! wenn andere, die es nicht verdienen, von mir erhielten, und ich durch meinen Egoismus Dich um den verdienten Lohn brächte! Und sonderbare Freundschaft wäre es, die sich nicht wollte bezahlen, ihre Auslagen wiedererstatten lassen. Die falsche Großmut sieht aber Dir nicht unähnlich, darum u.s.w.«

Er kann sich nie verleugnen, sagte Leonhard, und freute sich, daß er seiner Friedrike nun die Wahrheit, wenn er zurückgekommen, sagen könne; doch erhoben sich neue Zweifel, indem er alles bei sich überlegte; Pläne spannen sich an diese, und so, in tiefen Gedanken sitzend, fand ihn Lamprecht. Man hatte gestern schon beschlossen, dem greisen Alfert einen Besuch zu machen, und beide begaben sich jetzt nach dessen abgelegener Wohnung. Als sie in dem stillen Hause die Treppen hinangestiegen waren, und Lamprecht die Stubentür öffnete, fuhr er mit einem Schrei zurück,[498] und lief eilig die Treppe wieder hinunter. Leonhard war über dies Beginnen erstaunt, und trat in das geöffnete kleine Zimmer, in welchem er den greisen Mann in einem seltsamen Anzuge auf und nieder wandeln sah. Er trug nämlich jenen alten, weiten, feuerfarbenen Schlafrock, und auf dem Haupt eine hohe Mütze von derselben Farbe, unter welcher, im seltsamen Abstich, die ganz weißen Locken herunterfielen. Die Flucht Lamprechts war ihm nun erklärlich, denn nach diesem Krieges-Kostüm war heut der Tag der Besessenheit des Alten. Auch war dieser mit dem vorigen Tage verglichen, ein ganz verwandeltes Wesen. Seine Augen funkelten zornig, die lange Nase war rot und aufgelaufen, zwei blutrote Flecke glühten auf den beiden Wangen, und sowie er Leonhard eintreten sah, drehte er sich straff herum, sah diesem mit wildem Blick in die Augen und schrie mehr, als er sprach: »Was will Er hier? Was hat Er überhaupt bei uns und in unserer Stadt zu suchen? Die Tagediebe, die unnützen! Da schwänzeln sie herum, schnüffeln in den Häusern, in den Kirchen, wo sie nur ihren empfindsamen Zeitvertreib antreffen können, wie die Trüffelhunde umher, graben das schwarze Zeug, das ihnen lecker dünkt, aus dem Boden, und meinen, sich noch damit zu des lieben Herrgotts Dienern und Hundejungen zu machen. Und Er nun gar! Nicht wahr, nun rennt der hochmütige Müßiggänger auch noch in die sogenannte Natur hinaus, kostet, leckert, liebelt und pfiffelt da auch herum, in Abendröte und Morgenschein hinein, und macht ein Affengesicht dazu, als wenn alles nun erst seine Bestimmung und seinen Wert erhielte, weil er die Nase hineinsteckt, das Maul dumm aufsperrt und Gottes Schöpfung approbiert? Er denkt, Gott Vater kuckt oben zum Fenster hinaus, und sagt zu einigen Engeln, indem er sich die Hände vor Freuden reibt: Ach! seht Kinder, nun schaut mein Leonhardchen alles an, was ich so sauber da unten hingestellt habe, die Berge, das Wasser, alle die Waldung; ja, ja, darauf habe ich lange gewartet, was das Männchen dazu sagen würde. Ei seht, er billigt alles, er ist mit meinen Bemühungen ganz kontent, er nickt mit dem lieben Köpfchen: so ist doch meine Schöpfung nicht umsonst! – Nun, und die Weibsen? Denen läuft Er, Dummerjan, doch gewiß am meisten nach, hat wohl schon manchem dummen Gänschen das Gehirn verwirrt, hat sich von andern an der Nase führen lassen. Wenn ich nun mein spanisches Rohr dort aus dem Winkel hervornähme und kuranzte Ihn hier in meiner Stube herum, daß Er wie ein Bär tanzen müßte: könnt Er sich darüber wundern? habe ich Ihn eingeladen, zu mir zu[499] kommen? Er also hält sich zu Hause einen alten Narren, der Ihm Spaß machen muß, so einen verschimmelten Magister? Ist Er denn nicht Narr genug für seine Haushaltung? Ich denke immer, der Flaps könnte noch seine Nachbaren mit versorgen. Der verteufelte Hochmut in dem Gesindel! Aber es wird euch gewiß noch einmal zu Hause kommen, euer Komödienspielen, in dem ihr ganz verlernt, was Leben und Wahrheit ist. Halunken ihr! Marsch fort, da ist die Tür! Ich will Sein dummes Gesicht nicht länger vor mir sehen! Er sieht aus wie ein Gimpel! die kann ich nicht leiden.«

Leonhard wollte ohnehin hier nicht länger verweilen, und verließ den törichten Alten, dessen Grobheiten ihn nicht beleidigen konnten. Er besuchte alle die Orte der Stadt, die ihm in der Erinnerung lieb geblieben waren, und richtete sich dann ein, am folgenden Tage Nürnberg zu verlassen.

Als er am Abend schon ziemlich ermüdet an die Ruhe dachte, kam noch der fromme Lamprecht zu ihm, und brachte ihm Abbitte und Entschuldigung vom Besessenen. Der Anfall war diesmal schneller als sonst vorübergegangen, und er war nun zerknirscht, und saß weinend und bereuend auf seinem Zimmer. »Er hat nicht den Mut«, sagte Lamprecht, »sich vor Ihnen sehen zu lassen, gegen den er sich so abscheulich betragen hat; er schwört aber, er hätte alle die Grobheiten ausstoßen müssen, ein innerer mächtiger Geist habe ihn dazu gezwungen. Da Sie sich für den Magister, seinen alten Schulfreund, so sehr interessieren, so schickt er Ihnen zum Andenken jenes Exemplar des Gryphius. Sie möchten dabei, bittet er, an seine besseren Stunden denken.«

Leonhard nahm das Buch, dankte und ließ dem Alten freundlichen Gruß und Vergessenheit des Vorgefallenen zusagen. »Den abscheulichen Wassermann«, sagte dann Lamprecht, »werden sie wohl, wie ich gehört habe, auf drei Wochen streng und bei schmaler Kost einsperren; auch hat er Abbitte tun müssen, und wird noch in eine große Geldstrafe kondemniert, die dem Armenhause zum Besten kommen soll.«

»Und was macht Ihr Franke?« fragte Leonhard.

»Er bessert sich körperlich«, antwortete jener, »aber geistig habe ich jetzt viel mit ihm zu tun.«

»Wie das? Sie schienen ja so einig?«

»Sonst immer, aber jetzt muß ich ihm predigen und predigen, daß ich ihm nur sein Judentum wieder aus dem Kopfe bringe.«

»Sie sagten mir ja aber, daß in jedem Jahr diese Verrücktheit an einem bestimmten Tage komme, und ebenso wieder verschwinde:[500] also wird ja mit der Gesundheit sein Christentum von selbst wieder in ihn zurückfluten.«

»Gut gesagt; aber kann man es denn gewiß wissen? Es ist darum doch wahrlich keine verlorene Mühe, unterdes an ihm zu arbeiten, damit er auch während seiner Verrückheit an die Wahrheit kräftig erinnert werde. Auch kann es ja sein, daß jener Wurf mit der Bouteille diese unnütze Phantasterei tiefer in sein Gehirn eingekeilt hat, so daß sie nicht so leicht sich ablöset, wie sonst; und deshalb fühle ich mich berufen, jetzt bei ihm gewissermaßen die Rolle eines Missionars oder Heidenbekehrers zu spielen. Ist doch aller Irrwahn nur partielle Verrücktheit.«

Sie nahmen freundlichen Abschied. Da er wieder allein war, wollte es Leonhard bedünken, als habe Lamprecht, so gut wie Franke und Alfert, seinen Teil von jenem anlockenden Gerichte gekostet, das auf die Sterblichen betäubend wirkt. Er suchte in sich selbst jene Gegend zu entdecken, wo auch ein kleiner schadenfroher Dämon seinen Küchengarten angelegt haben könne. Dann betrachtete er nicht ohne Rührung das alte Buch, und las die Zeilen, die der damals junge Magister seinem vermeintlichen Schwiegervater hineingeschrieben hatte. »Wie rund, wie ängstlich«, sagte er, »wie hoffnungsreich und jugendlich ahndend ist jeder Buchstabe! Welche Zeit, Not, Erfahrung, Jammer zwischen der verblaßten Dinte und seinem letzten Brief! Nun ängstet er sich nicht mehr um die Schrift, er zerreißt keck die Lettern, er will nicht sich und die andern mehr mit der Zierlichkeit bestechen. Ach ja, auch in der Handschrift des Menschen liegt oft und erzählt sich eine Geschichte, auch eine furchtbar tragische zuweilen. – Armer Mensch! arme Menschheit!«

Noch von diesen Betrachtungen angefüllt, wollte er durch eine der Hauptstraßen dem Tore zuschreiten. Neben ihm ritt ein schlanker junger Offizier, der vor einem großen Hause, vor welchem ein Soldat schilderte, abstieg, und dem schläfrigen Reitknecht, welcher ihm gefolgt war, sein Roß übergab. Wahrscheinlich hatte der junge Krieger im Hause seinem Vorgesetzten etwas zu melden. Der Bediente desselben hielt nun faul und halb schlafend das mutige Pferd, das nur ungern sich langsam auf und ab führen ließ. Indem erhob sich in der nächsten Straße ein Getümmel, und eine Menschenmasse, die aufgeregt lärmte, zeigte sich bald. Leonhard konnte dem Strome nicht ausweichen, wie er es gern getan hätte, denn Wassermann war wieder der Held dieses Triumphzuges. Man führte ihn vom Verhör zurück, und er war erhitzt und trunken. Die Polizei wollte ihn jetzt in sein[501] Gefängnis zurückbringen; da er sich aber unterwegs schwach und ohnmächtig angestellt hatte, so waren die Diener des Gerichtes nachgebend genug gewesen, mit dem Klagenden in ein Weinhaus einzukehren, damit er sich nach dem Verdruß und der Erschöpfung wieder etwas stärken möge. Diese ungehörige Freundlichkeit hatte der Zornige aber in Übermut und Hast so gemißbraucht, daß er jetzt, völlig berauscht, indem er bald schrie, bald lallte, durch die Straßen geführt werden mußte.

Jetzt sah er Leonhard, der sich an die Mauer drängte, um seinen Blicken zu entgehen. »Patron da!« schrie Wassermann, »sehen wir uns doch einmal wieder? Oh, ich habe ein gutes Gedächtnis, Eure Physiognomie ist mir bekannt. Jetzt haben mich freilich die Philister unter, und ich bin in Banden. – Laßt mich, ihr Häscher, oder was ihr seid, ein Wörtchen mit meinem vertrauten Freunde da, meinem Intimus sprechen! Er ist eine verliebte melancholische Seele, und kann hier an meiner Standhaftigkeit sich ein Exempel nehmen.«

So drängte er sich zu Leonhard hin, auf welchen jetzt alle Blicke gerichtet waren. Indem dieser noch überlegte, wie er sich, dem Tollen gegenüber, vor so vielen Zuschauern benehmen solle, ward er auf eine sonderbare Weise von dieser Verlegenheit befreit. Mit Blitzesschnelle riß Wassermann dem träumenden Reitknecht die Zügel aus der Hand, und schwang sich, so trunken er war, kräftig und mit Sicherheit auf das Pferd des Offiziers. Sowie er im Sattel saß, schrie er laut und trieb das Roß zur Eile, das auch sogleich mit ihm durch die Menschenmasse brach, und im gestreckten Galopp die Straße mit dem Jauchzenden hinunterrannte. Einen Augenblick war alles in Erstaunen; aber bald sammelten sich die Polizeidiener, und einer von diesen bestieg das Pferd des Reitknechts, um dem Flüchtigen nachzueilen. Die Jugend und alle Menschen, welche Neugier versammelt hatte, stürmten nun dort in die Straße hinein, dem Flüchtigen nach.

»Er ist verrückt!« sagte ein anderer Polizeidiener; »wo kann er hin wollen?« Indem trat der junge Offizier wieder aus dem großen Hause, und war nicht wenig verwundert, keins von seinen beiden Pferden mehr anzutreffen. Die Erzählung des schläfrigen Reichtknechtes verhallte in dem Getümmel und dem Geschrei der Nachlaufenden, Fragenden und neu Hinzukommenden. »Ihm nach! nach!« schrien diejenigen, die mit der Polizei in die andere Gasse liefen. – »Wer ist es? Was?« andere. – »Ein großer Räuber ist angekommen!« rief ein Bürgersmann dazwischen, »und den wollen sie jetzt fangen; er hat aber den Vorsprung![502] Wenn sie nur die Tore zumachen!« – Von einer anderen Seite hörte man rufen: »Ein fremder Courier! Was der wohl Neues bringe mag? Es muß sehr wichtig sein, denn er reitet ja wie toll und besessen.«

Leonhard war mit den übrigen nachgegangen; das Getümmel und Schreien tönte nur noch aus der Ferne, aber das ganze Stadtviertel war in tumultuarischer Bewegung. – Nun ward es stiller, und nach einiger Zeit sah man jenen Polizeioffizianten zu Pferde, welcher das Roß des Lieutenants führte. Auf die Anfrage sagte dieser: »Er hat richtig den Hals gebrochen, der tolle Bösewicht; den Abhang dort hinunter, wo er im Carriere niedersprengte, ist er mit dem Pferde auf dem glatten Pflaster schrecklich hingestürzt, den Kopf gegen die Mauer geschmettert, und ist gleich tot geblieben: das sind die Folgen vom Saufen. Es ist nur abscheulich, daß wir noch Verdruß wegen des Übeltäters haben werden. Er konnte aber so schön bitten und so malade und elend tun.«

Man hatte dort, in ziemlicher Entferung, den Toten in ein Haus gebracht, und bei der Untersuchung erklärte der Arzt, daß alle Hülfe vergebens sei. Der Offizier war sehr erzürnt auf seinen Diener, denn bei dem gewaltigen Sturze hatte sein schönes Pferd auch Schaden genommen, und man konnte nicht sogleich wissen, ob es nicht, außer an den Knieen, welche bluteten, auch innerlich verletzt sei.

Viel später also, als er erwartet, verließ jetzt Leonhard die ihm teure Stadt, in welcher er so mancherlei erfahren und erlebt hatte, worauf er nicht vorbereitet war.


Nach zwei Tagen befand sich Leonhard in der Nähe von Bamberg. War er in Nürnberg immer gerührt gewesen, so war seine Stimmung jetzt mehr erhoben und ihm selber rätselhaft. Ihm bangte bei jedem Schritte, mit dem er sich den Plätzen näherte, an welche sich so überaus teure Erinnerungen hefteten. Lebt sie noch? sprach er zu sich selber, und wie? Ist sie verheiratet? hat sie Kinder? wird sie noch in Schönheit blühen, oder finde ich eine alte, abgelebte Frau in ihr? In diesem Stande verschwindet ja die Jugend meist noch viel schneller, als bei jenen, die sich schonen können, die nicht der harten Arbeit unterworfen sind. Wenn sie noch lebt und die Ihrigen, so sind sie wahrscheinlich arm, und so kann ich dem Glücke danken, daß es mich gerade jetzt so sehr gesegnet hat, um ihnen helfen zu können.[503]

Mit diesen Empfindungen trat er in die alte schöne Stadt ein. Er besuchte sogleich den ehrwürdigen Dom, dann zunächst die Plätze, die seine Phantasie geweiht hatte. Sodann verließ er die Stadt, um nach jenem Dorfe zu wallfahrten, denselben Weg, den er vor Jahren so oft betreten hatte. Er sah den kleinen Fluß wieder, und als er in die Gegend kam, wo er damals Kunigunden von jenem Rasenden befreite, als er dieselbe Anhöhe seitwärts im Walde entdeckte, wo er Abschied von ihr genommen hatte: fühlte er sich so bewegt, zitterte er in Erschöpfung so heftig, daß er sich in dem Walde verbarg, und sich weinend auf dieselbe Stelle niedersetzte. »Wie oft mag ihre Stimme hier ertönt sein«, sagte er; »hier mag sie geruht haben, um meiner in tiefer Wehmut zu gedenken.« Die Blätter dufteten wie damals, und nach lauem Regen quoll wie damals ein Walddunst von unten empor; die stillen Bäume säuselten im sanften Winde, an ihren Stämmen glänzte gebrochen und geteilt der Schein der Sonne, und auf das falbe Laub des Bodens fiel der bewegte Schatten der Blätter, der ein Gatter bildete.

»Es muß sein!« rief Leonhard nach einer lange Pause, und raffte sich gewaltsam auf. »Ich muß dort die Zauberlinde sehen, unter welcher sie tanzte, das ganz abgelegene Wohnhaus, rundum von Busch und Baum umgeben, den ländlichen Garten, wo ich mit ihr Blumen aufband und Früchte pflückte, ich muß von ihr erfahren, und mein Herz dem eindringenden Schmerz eröffnen.«

Er wandelte weiter, der Linde sowie einigen Hütten vorüber; kein Mensch begegnete ihm. Jetzt bog er seitwärts; noch funfzig Schritt, da sah er das Haus. Alles war still. Die Gattertür vorn war offen und nur angelehnt; auch dort blühten Malven, Astern und einige andere Herbstgewächse. Die Haustüre war nicht verschlossen, aber innen alles still, wie ausgestorben. Dann klinkte er die Tür auf, und war nun wieder in jener alten, so wohlbekannten Stube, er um so viel älter geworden. Das dämmernde Licht, die kleinen Fenster, das Spinnrad in der Ecke, der hölzerne Tisch: alles noch wie damals, nichts verändert, aber die Menschen waren fort, es war wie ein Totenhaus. Er warf sich in den ledernen Armstuhl, in welchem der Alte immer zu sitzen pflegte, und überließ sich ganz seinen Träumen. Plötzlich sah er auf, und eine große, edle Gestalt trat durch die Tür; sie trug auf dem Kopf den Wasserkrug, und mußte sich neigen, als sie hereinschritt. »Mein Gott!« rief Leonhard, »ist es möglich! Kunigunde!«

»O Leonhard, mein Leonhard!« rief sie mit dem freudigsten Ton, und beide stürzten einander in die Arme; lange ruhte Brust[504] an Brust. Als sie sich geküßt, geweint, gedrückt und wieder geküßt hatten, traten sie voneinander, und beide sahen sich verwundernd, lächelnd, beseligt an. »Himmel!« sagte Leonhard, »du bist schöner und größer geworden, voller und im Ausdruck edler, wie eine Göttin der alten Fabelzeit stehst du vor mir; es ist ein Wunder mit dir geschehen, denn du bist nicht älter geworden, unter Tausenden hätte ich dich gleich wieder gekannt.«

Sie lachte und sagte: »Älter, ja viel älter bin ich geworden, das versteht sich. Du siehst aber vornehmer aus, als damals, und noch verständiger! Ei! mein Leonhard, wie glücklich bin ich, daß du nun endlich einmal wieder da bist! Ich habe lange auf dich gewartet, aber ich wußte, und wußte es ganz gewiß, daß du kommen, jetzt, bald kommen mußtest, kurz vor meinem Tode, und da bist du ja nun auch wirklich.«

»Du sterben«, erwiderte Leonhard, »in dieser Fülle und Kraft der Gesundheit?«

»Ja, ja, mein Leonhard«, sagte sie mit freundlichem Lachen, »und es ist recht gut, daß es so ist. Dafür und für alles danke ich dem Himmel. Kannst du denn eine Weile bei mir bleiben?«

»Einige Tage gewiß«, erwiderte er, »vielleicht eine Woche, wenn es dir nur möglich ist, wenn dich nichts hindert.«

»Komm in den Garten!« rief sie lebhaft, »dort setzen wir uns wieder hin, wo damals die Rosen so schön blühten; jene Zeit ist jetzt vorüber, aber diese Tage, in welchen du nun bei mir bleiben kannst, sind meine Rosenzeit – und dann das Grab.«

Sie gingen in den heitern einsamen Garten hinaus, und setzten sich an jene Stelle. »Zehn Jahr«, sagte sie dann, »habe ich auf dich gewartet; kann ich dir jetzt nur zehn Stunden in die lieben Augen sehen, und den Ton deiner Stimme hören; – ach! so war die Zeit der Hoffnung ja nicht zu lang, so ist mein Leben ja doch ein schönes gewesen.«

Er sah sie jetzt im Tagesschein, und ihm dünkte, es sei in ihrer Schöne etwas Überirdisches, Verklärtes. Wie er ihr in das Auge sah, ward dessen Bläue wie vergeistigt, und er fuhr zurück vor dem Überschwang der Liebe, der ihn aus diesen Sternen anblickte.

»Ja, du bleibst vielleicht mehr als zehn Stunden«, sprach sie dann nachdenklich, »bis er kommt, der uns trennt.«

»Wen meinst du?« fragte Leonhard.

»Weißt du es denn nicht, o gewiß! daß ich Braut bin? Mein künftiger Mann, der Schreckliche! Ach, Liebster, bei alledem ist das menschliche Leben fürchterlich!«[505]

Sie sank laut weinend an seine Brust. »Oh, meine Eltern«, sagte sie dann, »haben seitdem viel Elend überstanden; sie sind ganz arm geworden; diesem Leiden trat noch eine schmerzhafte Krankheit des Vaters hinzu. Seit ich dich kennengelernt, wollte ich gar nicht heiraten, und das brachte meine Eltern zur Verzweiflung; denn es hatten sich manche junge und reiche Leute gemeldet, die über unser Elend hinwegsehen wollten. Ach! Leonhard, du kannst dir nicht denken, du Glücklicher, wie es das Herz zerreißt, wenn man den Jammer sieht, die Sorge, die Angst der Alten um jeden Groschen, der geschafft oder verwandt werden soll. Daneben die lauten, und noch schlimmer die stummen Vorwürfe, die Blicke einer Mutter, die nach Hülfe schmachten. Und nun hat man es in der Hand, mit einem Wort, mit einer einzigen kleinen Silbe zu helfen, dieselben Eltern wieder glücklich zu machen, die Blut und Leben in der Kindheit für uns hingegeben hätten; nun fallen einem alle die Blicke und Küsse ein, die teure Sorgfalt in Krankheit, wie oft sie sich selbst am Munde absparten, um dem Kinde Freude zu machen, um ihm Arzenei zu verschaffen, um ihm ein Spielzeug zu kaufen. Und ebenso war es schon vorher, lange vorher, ehe man denken und sich erinnern kann; dieser mütterliche Busen, der jetzt nach einem Labsal schmachtet, hat uns gesäugt; das tränende Auge hat über uns gewacht; – sieh, Liebster, man läßt sich endlich von Angst und Not, Liebe und Verzweiflung, und von der Stimme eines Engels, der dazwischenspricht, bereden – und sagt dann das Ja, worüber die Alten aufjubeln, und einem danken, als wenn man sie vom Tode gerettet hätte, wie es denn hier auch der Fall war – aber, Leonhard, ich hätte, um ihr Elend zu enden, nicht einen jener hübschen jungen Männer nehmen können – nicht wahr, das hätte dich noch mehr gekränkt? Und weiß ich doch nicht, ob du nicht auch schon längst verheiratet bist.«

Leonhard sah trübe vor sich nieder und fragte dann: »Und wer ist dieser Auserwählte?«

»Du kennst ihn wohl«, sagte sie; »ein Mensch, der dich haßt, der dich damals ermorden wollte.« Als er wieder Witwer war machte er sich an uns, und bot seine Hülfe an, weil er reich ist. Er setzte etwas darin, mich nicht aufzugeben, und so habe ich mich drein ergeben müssen. Jener häßliche Mensch ist es, mit dem du den Kampf damals ausfochtest.

»Der?« sagte Leonhard, »und er ist hier?«

»Ach nein! er ist auf Reisen, wie öfter, und das ist ein Glück. In acht Tagen etwa wird er zurückkommen. Er hat seitdem vielerlei[506] Begebenheiten erlebt, und späterhin auch einen andern Namen angenommen, seitdem ihn ein reicher Vetter in der Stadt zu sich nahm, und ihn zum Erben einsetzte. Dann ist er in Deutschland und auch auswärts herumgereiset und hat viele Weinberge und große Häuser drüben in einer benachbarten Stadt. Er hat meinen Eltern das größte, bequemste Haus im Dorfe hier verschrieben und vermacht, auch Weinberge, Wiesewachs und Fluren und Triften. Ach, meine Alten sind seitdem so glücklich! Oben, am Ende des Dorfes wohnen sie auch in dem großen Hause. Hier habe ich mir in der lieben alten Häuslichkeit meine Wohnung aufbewahrt, bis dahin wo das Schreckliche geschieht, und der Wassermann zurückkommt.«

»Wassermann!« rief Leonhard höchst überrascht aus »– o der der kommt niemals wieder!« – Er erzählte der Erstaunten nun was sich in Nürnberg begeben hatte.

»Das ändert freilich alles«, sagte sie nach langem Stillschweigen. Sie gingen hierauf, nachdem beide sich mehr gesammelt und Freude und Rührung überwunden hatten, nach dem großen Hause, zu den Eltern Kunigundens. Alles geriet hier über die Nachricht von Wassermanns Tode in Bewegung. Man fragte dies und jenes, man verstand sich nicht; die Alten, die so lange vom Elend waren verfolgt worden, fürchteten, von neuem unglücklich zu werden, und daß man ihnen den kürzlich gewonnenen Besitz wieder entreißen könne. Leonhard tröstete und beruhigte sie. Er fühlte, was in solchen Bedrängnissen ein verständiger Freund den Unerfahrenen sein, wie hülfreich er ihnen werden könne. Jetzt war es ihm von neuem tröstlich, eine bedeutende Summe bei sich zu haben, weil ihm ahndete, daß er des baren Geldes um die Lage dieser Armen zu sichern, wohl bedürfen würde Statt der schönen Ruhe, von welcher er geträumt hatte, wurde er in eine unerwartete Tätigkeit geworfen. In Bamberg suchte er einen tüchtigen Rechtsgelehrten auf. Wassermann hatte nur wenige und sehr entfernte Verwandte. Diese wohnten in der Würzburgischen Stadt, in welcher Wassermann seine Häuser besessen hatte. In Bamberg war ein Testament niedergelegt, in welchem der reiche Wüstling Kunigunden und ihren Eltern und Verwandten sein ganzes Vermögen vermachte. Die Ehe aber war nicht vollzogen worden. Leonhard reisete mit dem wackern Rechtsgelehrten, der sich der Sache mit großem Eifer annahm, nach jenem Städtchen. Die Nachrichten und Beweise von Wassermanns Tode waren seitdem auch vom Nürnberger Magistrate eingesendet worden. Mit den Verwandten, welche gar nichts von[507] dem Vermögen des entfernten Vetters erwartet hatten, war bald ein billiger Vergleich geschlossen, und alle waren zufriedengestellt. So konnte der größte Teil der Verlassenschaft Kunigunden und den Ihrigen zugesprochen werden, was um so erwünschter war, da nun eine jüngere Schwester ihren Bräutigam heiraten und mit diesem eine Wirtschaft anfangen konnte. Kunigunde hatte auch noch die Freude, daß ein Bruder von seiner vieljährigen Wanderschaft zurückkam. Diesem war sie mehrere Meilen in der Freude ihres Herzens, als die Nachricht eintraf, heftig, wie sie war, entgegengegangen. Dies begab sich in den Tagen, als Leonhard nach jener Würzburgischen Stadt gereiset war. Dieser junge, brave Mann konnte sich nun als Schmied in Bamberg, oder auf einem Dorfe niederlassen. Die Alten im Gefühl ihres Glücks, waren voll Freude und Dankbarkeit gegen Leonhard, der ihnen mit Aufopferung von Zeit, Geld und Mühe hauptsächlich zu diesen Herrlichkeiten verholfen hatte. Mit welchen Augen die glückliche Kunigunde ihren Liebling betrachtete, ist leicht zu ermessen. – Und wie glücklich und unglücklich war er selbst in diesen Tagen, die so reich an Begebenheiten, Freuden und Schmerzen waren![508]

Quelle:
Ludwig Tieck: Werke in vier Bänden. Band 4, München 1963, S. 470-509.
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