4. Rosa an Francesco

[596] Tivoli.


Sie haben mir durch Ihren Brief sehr weh getan, lieber Francesco. Soll ich Ihnen sagen, daß Sie recht haben, soll ich den Versuch machen, Ihnen das Gegenteil zu beweisen? Beides wag ich nicht. Schon seit lange bin ich von allen Seiten mit Irrtümern und Zweifeln umgeben; ich kann keinen Schritt vor und keinen zurück tun, ohne zu straucheln. Wie glücklich sind Sie und[596] Adriano, da Sie sich so ungebunden fühlen, da Sie überzeugt zu sein glauben!

Sie können sich meine Lage vielleicht gar nicht vorstellen. In einer Ungewißheit, daß ich darüber würfeln möchte, wie ich von Andrea denken soll, bald zu einer tiefen Verehrung hingerissen, bald von einem niedrigen Argwohn angelockt – mir bewußt, wie sehr ich gegen mich selbst geheuchelt und wie viel ich ihm zu danken habe – o Francesco, es wäre um wahnsinnig zu werden, wenn man diesen Gedanken nachhängen wollte. Was habe ich je gedacht, was nicht ursprünglich aus Andreas Kopfe gekommen wäre? Ich fühle und bekenne meine Schwäche. Sollte ich ihn aufgeben, so würde ich mit ihm alles dahingeben, was mich zusammenhält, ich habe so vieles getan, um ihm nahezukommen, und alles sollte nun vergeblich sein!

Und dann ist es unmöglich! Ich kann Ihnen nicht sagen, warum, aber glauben Sie mir, es ist unmöglich. Wenn der Mensch wüßte, zu welchen Folgen ihn ein ganz gleichgültig scheinender Schritt führen könnte, er würde es nicht wagen, den Fuß aus der Stelle zu setzen.

Am wenigsten kann ich mir jene Lügen vergeben, die ich mir selber vorsagte; in einer gewissen Spannung sucht man das Wunderbare und stellt selbst das Gewöhnliche auf eine seltsame Weise. Diese Übertreibung drückt mein Herz schwer nieder, ob ich gleich nicht ganz Ihrer Meinung sein kann, daß Andrea nicht in einem hohen Grade Verehrung verdiene; wenn wir ihn auch nicht begreifen können, so berechtigt uns das noch gar nicht, ihn gänzlich zu verwerfen.

Ich habe oft abgesetzt und war sehr oft ungewiß, ob ich den Brief abschicken sollte. Mögen Sie ihn indes nehmen, wie Sie wollen, bei einem billigdenkenden Manne wird er mich entschuldigen.

Quelle:
Ludwig Tieck: Werke in vier Bänden, Band 1, München 1963, S. 596-597.
Lizenz:
Kategorien: