39. Antonio an Rosaline

[434] Was Du mir getan hast, liebstes, bestes Mädchen? Nichts, als daß Du mich nicht ebensosehr liebst, wie ich Dich liebe. – Warum verläßt Du mich oft so plötzlich? Warum darf ich nicht in der Nacht bei Dir bleiben, wenn Du Dich ohne mich so einsam fühlst? Die wahre Liebe ist mit diesem Eigensinne unbekannt. Wenn Du mich nur hier sähest, wie oft ich in der Nacht nach Deinem Hause hinüberblicke, wie ich nicht schlafen kann, und mir schweigend Deine Lieder wiederhole, um mich nur etwas zu beruhigen, wie ich Dein Bild tausend und tausendmal küsse, das ich neulich bei Dir zeichnete! Das Papier ist von meinen Tränen naß; das Haus wird mir zu enge, und ich schweife im trüben Mondlichte dann zwischen den Ruinen umher, und Deine Gestalt begleitet mich allenthalben. O Rosaline, dieses Zagen, diese Angst kennst Du nicht, denn sonst würdest Du meinen Zustand mehr bemitleiden. Nein, Hartherzige! Du kennst die Liebe nicht, denn Du verhöhnst meine Empfindung. Undankbare! Du weidest Deine Eitelkeit an meinem Gram, und wirst Dich über meine Verzweiflung freuen! – Stand ich nicht gestern noch eine Stunde länger vor Deiner Türe, und Du kamst nicht wieder, wie Du mir versprochen hattest? Spieltest Du nicht, um mich zu kränken, dies verhaßte Lied von dem Antonio? – Nein, Du betrügst mich nur mit einem Schein von Liebe, Du freust Dich darüber, daß Du mich gedemütigt hast, und alle Deine Küsse, Deine Umarmungen sind Heuchelei. Labe Dich an meinem Anblicke, wenn Du mich wahnsinnig gemacht hast!

O vergib mir, Teure, wenn ich Dir Unrecht tue! Betrüben möcht ich Dich nicht.

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Ludwig Tieck: Werke in vier Bänden, Band 1, München 1963, S. 434.
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