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[288] Agafja Michailowna ging auf den Fußspitzen hinaus; die Kinderfrau ließ die Vorhänge herunter, jagte die Fliegen aus den Musselinvorhängen des Bettchens hinaus und verscheuchte einen Brummer, der fortwährend gegen die Fensterscheiben stieß; dann setzte sie sich und wedelte mit einem verwelkten Birkenzweige über den Köpfen der Mutter und des Kindes.

»Nein, diese Hitze, diese Hitze!« stöhnte sie. »Wenn Gott nur ein bißchen Regen schicken wollte!«

»Ja, ja, sch-sch-scht ...«, antwortete Kitty nur. Sie wiegte sich leise hin und her und drückte zärtlich Dmitris dickes, an der Handwurzel wie von einem Faden umwickeltes Ärmchen, das der Kleine immer sachte bewegte, wobei er die Augen bald auf, bald zu machte. Über die Bewegungen dieses Ärmchens beunruhigte sich Kitty; sie wollte dieses Ärmchen küssen, fürchtete sich aber, es zu tun, um das Kind nicht aufzuwecken. Endlich hörte das Ärmchen auf, sich zu bewegen, und die Augen[288] schlossen sich. Nur von Zeit zu Zeit setzte das Kind seine Saugtätigkeit noch einmal fort, hob die langen, gebogenen Wimpern in die Höhe und blickte die Mutter mit seinen feuchten, im Halbdunkel schwarz erscheinenden Augen an. Die Kinderfrau hörte auf zu fächeln und schlief ein. Von oben her hörte man die kräftige Stimme des alten Fürsten und Katawasows Lachen.

›Die Unterhaltung ist offenbar auch ohne mich in Gang gekommen‹, dachte Kitty, ›aber es ist doch schade, daß Konstantin nicht da ist. Er ist gewiß wieder nach dem Bienenstand gegangen. Obgleich es mir leid tut, daß ihn dies sooft von Hause fern hält, so freue ich mich doch auch darüber. Das zerstreut ihn. Er ist jetzt viel heiterer geworden und fühlt sich viel wohler als im Frühjahr. Sonst war er so düster und quälte sich so mit seinen Gedanken, daß mir ordentlich bange um ihn wurde. Aber was ist er doch für ein seltsamer Mensch!‹ dachte sie lächelnd.

Sie wußte, was ihren Mann quälte. Es war sein Unglaube. Zwar, wenn man sie gefragt hätte, ob sie meine, daß er im zukünftigen Leben wegen seines Unglaubens der Verdammnis anheimfallen werde, so hätte sie einräumen müssen, daß er allerdings werde verdammt werden; aber trotzdem machte sein Unglaube sie nicht unglücklich. Und obgleich sie sich zu der Lehre bekannte, wonach für einen Ungläubigen keine Rettung möglich sei, und die Seele ihres Mannes mehr als alles in der Welt liebte, so dachte sie doch an seinen Unglauben mit einem Lächeln und sagte zu sich selbst, daß er ein eigenartiger Mensch sei.

›Wozu liest er das ganze Jahr hindurch allerlei philosophische Bücher?‹ dachte sie. ›Wenn in diesen Büchern die Wahrheit geschrieben stände, so würde er es doch verstehen können und zur Ruhe kommen; wenn aber Unwahrheit darin steht, was hat es dann für Zweck, diese Bücher zu lesen? Er sagt selbst, es sei sein Wunsch zu glauben. Warum glaubt er dann also nicht? Doch wohl, weil er zuviel denkt? Und daß er soviel denkt, das kommt von seinem einsamen Leben her. Immer ist er allein, immer allein. Mit uns kann er nicht über alles sprechen. Ich glaube, diese Gäste werden ihm angenehm sein, besonders Katawasow. Er unterhält sich gern mit ihm‹, dachte sie, überlegte sich aber im nächsten Augenblick, wie sie wohl Katawasow am besten unterbringen könne, ob er allein schlafen solle oder mit Sergei Iwanowitsch zusammen. Und da schoß ihr auf einmal ein Gedanke durch den Kopf, der sie vor Aufregung zusammenfahren ließ; dadurch wurde sogar Dmitri beunruhigt, so daß er sie dafür mit einem strengen Blick ansah. ›Die Waschfrau[289] hat ja wohl noch nicht die Wäsche gebracht, und was an Bettwäsche vorhanden war, ist schon für die bisherigen Gäste herausgegeben. Wenn ich nicht das Nötige anordne, wird Agafja Michailowna für Sergei Iwanowitsch und den Professor Wäsche geben, wie sie von der Bleiche kommt.‹ Der bloße Gedanke daran trieb ihr das Blut ins Gesicht.

›Ja, ich werde das Nötige anordnen‹, sagte sie sich, und zu ihren früheren Gedanken zurückkehrend, erinnerte sie sich, daß sie eine wichtige seelische Frage noch nicht bis zu Ende durchgedacht hatte, und sie suchte sich zu besinnen, welche Frage es gewesen sei. ›Ja, über Konstantins Unglauben!‹ Sie lächelte, als ihr das wieder einfiel.

›Nun ja, ungläubig! Mag er lieber immer ein solcher Ungläubiger bleiben, als ein Gläubiger von der Art werden, wie es Madame Stahl war oder wie ich es damals im Auslande werden wollte. Nein, heucheln, das wird er niemals.‹

Dabei kam ihr lebhaft ins Gedächtnis, in welch schöner Weise sich unlängst Ljewins Herzensgüte geäußert hatte. Vor vierzehn Tagen hatte Dolly einen reuigen Brief von Stepan Arkadjewitsch erhalten. Er hatte sie darin angefleht, seine Ehre zu retten und ihr Gut zu verkaufen, um seine Schulden zu bezahlen. Dolly war in Verzweiflung gewesen und hatte nicht gewußt, ob sie ihren Mann mehr haßte oder verachtete oder bedauerte; sie hatte beschlossen, sich scheiden zu lassen, ihm seine Bitte abzuschlagen; aber es hatte dann doch damit geendet, daß sie einwilligte, einen Teil ihres Gutes zu verkaufen. Und nun erinnerte sich Kitty, unwillkürlich vor Rührung lächelnd, wie verlegen sich ihr Mann nach diesem Entschlusse Dollys benommen hatte, wie er mehrmals ungeschickten Anlauf zu dem Vorschlag, der ihn beschäftigte, gemacht hatte und wie er schließlich (es war dies das einzige Mittel gewesen, das er hatte ersinnen können, um Dolly zu helfen, ohne ihr Ehrgefühl zu verletzen) Kitty dazu angeregt hatte, den Teil des Gutes, der ihr gehörte, ihrer Schwester zu überlassen, eine edle Tat, auf die sie selbst vorher gar nicht verfallen war.

›Und er wäre ein Ungläubiger? Mit seinem Herzen, mit dieser Furcht, irgend jemandem, und wäre es auch nur ein Kind, wehe zu tun! Alles für andere, nichts für sich. Sergei Iwanowitsch ist geradezu der Ansicht, das sei Konstantins Pflicht, für ihn die Verwaltung des Gutes zu führen. Und ebenso Konstantins Schwester. Jetzt hat sich Dolly mit ihren Kindern unter seine Obhut gestellt. Und alle die Bauern, die Tag für Tag zu ihm kommen, als ob er verpflichtet wäre, ihnen allerlei Dienste zu erweisen!‹[290]

»Ja, werde du nur so, wie dein Vater ist; so werde du nur«, murmelte sie vor sich hin, indem sie den kleinen Dmitri der Kinderfrau hingab und mit den Lippen sein Bäckchen berührte.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Anna Karenina. 3 Bde., Berlin 1957, Band 3, S. 288-291.
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