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[291] Von dem Augenblick an, wo Ljewin beim Anblick seines lieben, todkranken Bruders zum ersten Male die Fragen des Lebens und Todes durch die Brille jener neuen, wie er es nannte, Überzeugungen betrachtet hatte, die, ohne daß er sich dessen selbst bewußt geworden war, während der Zeit zwischen seinem zwanzigsten und seinem vierunddreißigsten Lebensjahre in seiner Seele den Platz ausgefüllt hatten, den in seiner Kindheit und in seinem Jünglingsalter der Glaube eingenommen hatte, von diesem Augenblick an empfand er eine entsetzliche Furcht nicht so sehr vor dem Tode wie vor einem Leben, bei dem er nicht die geringste Kenntnis davon hatte, woher es stamme, wozu und warum es da sei und was es eigentlich sei. Der Organismus, seine Vernichtung, die Unzerstörbarkeit der Materie, das Gesetz der Erhaltung der Kraft, die Entwicklung: das waren die Worte, die bei ihm an die Stelle des früheren Glaubens getreten waren. Diese Worte und die damit verbundenen Begriffe waren ja für die Zwecke verstandesmäßigen Denkens gut und nützlich; aber für das praktische Leben halfen sie ihm nichts, und Ljewin hatte eine ähnliche Empfindung, als wenn jemand einen warmen Pelz gegen einen Anzug aus Musselin hingäbe und nun zum erstenmal bei starker Kälte in unzweifelhafter Weise, nicht durch Überlegung, sondern durch das Gefühl an seinem ganzen Leibe, zu der Überzeugung käme, daß er so gut wie nackt sei und mit Notwendigkeit kläglich umkommen müsse.

Von jenem Augenblick an empfand Ljewin, obwohl er sich keine klare Rechenschaft davon gab und in seiner früheren Weise weiterlebte, unausgesetzt diese Angst wegen seiner Unwissenheit.

Außerdem hatte er die dunkle Empfindung, daß das, was er seine Überzeugungen nannte, nicht nur ein Zustand der Unwissenheit, sondern auch eine Geistesverfassung sei, die es ihm unmöglich mache, zur Kenntnis dessen zu gelangen, was er zu erkennen begehrte.

In der ersten Zeit waren diese Gedanken durch seine Verheiratung und durch die neuen Freuden und Pflichten, die er kennenlernte, ganz in den Hintergrund gedrängt worden; aber in der letzten Zeit, als er nach der Entbindung seiner Frau ohne[291] rechte Tätigkeit in Moskau lebte, trat ihm diese Frage, die gelöst zu werden verlangte, immer häufiger und immer aufdringlicher vor die Seele.

Die Frage gestaltete sich für ihn folgendermaßen: ›Wenn ich die Antworten, die mir das Christentum auf die Fragen meines Lebens gibt, ablehne, welche Antworten erkenne ich dann als richtig an?‹ Aber in dem ganzen Bereich seiner Überzeugungen vermochte er schlechterdings keine Antworten zu finden, ja überhaupt nichts, was mit einer Antwort auch nur Ähnlichkeit gehabt hätte.

Es war gerade, wie wenn er in einem Spielwarenladen oder in einer Waffenhandlung hätte Lebensmittel kaufen wollen.

Unwillkürlich und ohne sich dessen selbst bewußt zu sein, achtete er jetzt bei jedem Buche, das er las, bei jedem Menschen, mit dem er in ein Gespräch kam, darauf, welche Stellung sie zu diesen Fragen einnähmen und wie sie sie zu lösen versuchten.

Ganz besonders wunderte und verstimmte ihn, daß die meisten seiner Standes- und Altersgenossen, die, früher gläubig wie er, ihren Glauben mit denselben neuen Überzeugungen vertauscht hatten wie er, darin gar keinen Nachteil fanden, sondern durchaus ruhig und zufrieden waren. Daher quälten ihn außer jener Hauptfrage noch andere Fragen: ob diese Leute aufrichtig seien, ob sie sich auch nicht etwa verstellten oder ob sie ein anderes, klareres Verständnis als er für die Antworten hätten, die die Wissenschaft auf die ihn beschäftigenden Fragen gebe. Und er studierte sorgsam die Ansichten dieser Menschen und die Bücher, in denen diese Antworten enthalten waren.

Eines, was er erkannt hatte, seit diese Fragen angefangen hatten, ihn zu beschäftigen, war dies: daß er in einem Irrtum befangen gewesen war, wenn er, in Erinnerung an seinen jugendlichen Umgangskreis auf der Universität, angenommen hatte, die Religion habe sich bereits überlebt und es gebe gar keine Religion mehr. Alle guten Menschen, die ihm im Leben nahestanden, waren gläubig: so der alte Fürst, und Lwow, zu dem er eine große Zuneigung gefaßt hatte, und Sergei Iwanowitsch, und alle Frauen in der Verwandtschaft; seine eigene Frau war so gläubig, wie er selbst es in seiner frühesten Kindheit gewesen war; und neunundneunzig Prozent des russischen Volkes, die ganze Volksschicht, deren Leben ihm die größte Achtung einflößte, waren gläubig.

Und dann ein zweiter Punkt: Beim Durcharbeiten zahlloser Bücher überzeugte sich Ljewin, daß die Leute, die mit ihm die gleichen verneinenden Anschauungen hatten, eines festen Untergrundes für diese Ablehnung ermangelten und, ohne etwas zu[292] erklären, lediglich die Fragen ablehnten, ohne deren Beantwortung er, wie er fühlte, nicht leben konnte, und sich bemühten, ganz andere, ihn nicht beschäftigende Fragen zu lösen, zum Beispiel die Fragen nach der Entwicklung der Lebewesen, nach einer mechanischen Erklärung der Seele und anderem.

Außerdem hatte sich bei der Entbindung seiner Frau mit ihm etwas für ihn Ungewöhnliches begeben. Er, der Ungläubige, hatte gebetet und in dem Augen blick, wo er betete, auch wirklich geglaubt. Aber jener Augenblick war vorübergegangen, und Ljewin vermochte dieser damaligen Seelenstimmung keine Stelle in seiner geistigen Entwicklung zuzuweisen.

Er konnte nicht zugeben, daß er damals die Wahrheit erkannt hätte und sich jetzt irre; denn sobald er wieder angefangen hatte, ruhig darüber nachzudenken, war alles wieder in Trümmer gefallen. Aber auch das konnte er nicht zugeben, daß er damals in einem Irrtum befangen gewesen wäre; denn seine damalige Seelenstimmung erschien ihm als etwas Hohes, und wenn er sie jetzt als die Wirkung einer Schwäche aufgefaßt hätte, so hätte er das als eine Entweihung jenes Augenblicks empfunden. Er befand sich in einer peinlichen Uneinigkeit mit sich selbst und spannte alle Kräfte seines Geistes an, um aus ihr herauszukommen.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Anna Karenina. 3 Bde., Berlin 1957, Band 3, S. 291-293.
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