IV

[490] Prinzessin Marja, die mit im Salon gesessen und diese Gespräche und tadelnden Urteile der alten Herren mit angehört hatte, hatte von dem Gehörten nichts verstanden; sie hatte immer nur gedacht, ob auch die Gäste die feindliche Stimmung des Vaters ihr gegenüber nicht bemerkten. Sie hatte nicht einmal die besonderen Aufmerksamkeiten und Liebenswürdigkeiten bemerkt, die Drubezkoi, der schon zum drittenmal bei ihnen im Hause war, während der ganzen Zeit, als sie bei Tisch saßen, ihr erwiesen hatte.

Prinzessin Marja wandte sich mit einem zerstreuten, fragenden Blick zu Pierre, der als letzter der Gäste mit dem Hut in der Hand lächelnd zu ihr trat, als der Fürst bereits hinausgegangen war und sie beide allein im Salon zurückgeblieben waren.[490]

»Darf ich mich noch einen Augenblick zu Ihnen setzen?« fragte er, indem er seinen dicken Körper bequem in einen Sessel neben der Prinzessin Marja sinken ließ.

»Bitte sehr«, antwortete sie; aber ihr Blick fragte: »Sie haben nichts bemerkt?«

Pierre befand sich in der angenehmen Stimmung, die ihn oft nach dem Mittagessen überkam. Er blickte vor sich hin und lächelte leise.

»Kennen Sie diesen jungen Mann schon lange, Prinzessin?« fragte er.

»Welchen jungen Mann?«

»Drubezkoi.«

»Nein, lange kenne ich ihn noch nicht.«

»Nun, und gefällt er Ihnen?«

»O ja, er ist ein angenehmer, junger Mann ... Warum fragen Sie mich danach?« erwiderte Prinzessin Marja, dachte aber dabei immer noch an das Gespräch, das sie am Vormittag mit dem Vater gehabt hatte.

»Weil ich eine Beobachtung gemacht habe: die jungen Männer, die von Petersburg auf Urlaub nach Moskau gehen, verfolgen gewöhnlich nur den Zweck, ein reiches Mädchen zu heiraten.«

»Haben Sie das beobachtet?« fragte Prinzessin Marja.

»Ja«, antwortete Pierre lächelnd, »und dieser junge Mann hat es sich jetzt offenbar zum Grundsatz gemacht, überall da zu sein, wo ein reiches heiratsfähiges Mädchen ist. Ich lese in ihm wie in einem Buch. Er ist jetzt noch unentschlossen, gegen wen er seine Attacke richten soll, ob gegen Sie oder gegen Mademoiselle Julja Karagina. Er ist sehr hinter ihr her.«

»Er verkehrt bei Karagins?«

»Ja, und recht viel. Und kennen Sie auch die neueste Art, wie man einer Dame den Hof macht?« fragte Pierre mit vergnügtem[491] Lächeln; er befand sich augenscheinlich in jener heiteren Stimmung gutmütiger Spottlust, die er sich in seinem Tagebuch so oft zum Vorwurf gemacht hatte.

»Nein«, antwortete Prinzessin Marja.

»Man muß jetzt, um den Moskauer jungen Damen zu gefallen, melancholisch sein. Und er ist im Umgang mit Mademoiselle Karagina sehr melancholisch«, sagte Pierre.

»Wirklich?« erwiderte Prinzessin Marja; sie sah dabei in Pierres gutes Gesicht und dachte unaufhörlich an ihren Kummer. »Es würde mir leichter ums Herz werden«, dachte sie, »wenn ich mich entschlösse, jemandem all das anzuvertrauen, was mich quält. Und gerade diesem Pierre möchte ich gern alles sagen. Er ist so gut und hat eine edle Gesinnung. Es würde mir leichter ums Herz werden. Er würde mir einen Rat geben!«

»Würden Sie ihn heiraten?« fragte Pierre.

»Ach, mein Gott, Graf, es gibt Augenblicke, wo ich bereit wäre, jeden Beliebigen zu heiraten«, erwiderte Prinzessin Marja; die Antwort war ihr wider ihren Willen entfahren, und man hörte ihrer Stimme an, daß ihr die Tränen nahe waren. »Ach, wie schmerzlich ist es, wenn man jemand, der einem nahesteht, liebt und sich dabei sagen muß, daß ...«, fuhr sie mit zitternder Stimme fort, »... daß man für ihn weiter nichts tun kann als sich grämen; wenn man weiß, daß man nichts ändern kann. Dann ist das einzige, was einem übrigbleibt, fortzugehen; aber wohin soll ich gehen?«

»Was haben Sie? Was ist Ihnen, Prinzessin?«

Aber die Prinzessin brach, ohne zu Ende zu sprechen, in Tränen aus.

»Ich weiß nicht, was mit mir heute ist. Hören Sie nicht auf mich; vergessen Sie, was ich Ihnen gesagt habe.«

Pierres ganze Heiterkeit war verschwunden. Er drang mit teilnahmsvollen[492] Fragen in die Prinzessin, bat sie, alles auszusprechen, ihm ihr Leid anzuvertrauen: aber sie wiederholte nur, sie bitte ihn, zu vergessen, was sie gesagt habe; sie erinnere sich selbst des Gesagten nicht und habe keinen andern Kummer als den, welchen er kenne: den Kummer darüber, daß die Heirat des Fürsten Andrei Vater und Sohn miteinander zu entzweien drohe.

»Haben Sie etwas von der Familie Rostow gehört?« fragte sie, um den Gegenstand des Gespräches zu wechseln. »Es ist mir gesagt, sie würden bald herkommen. Auch meinen Bruder erwarte ich alle Tage. Es wäre mir lieb, wenn das erste Wiedersehen hier stattfände.«

»Und wie sieht er jetzt die Sache an?« fragte Pierre, wobei er unter »er« den alten Fürsten verstand.

Prinzessin Marja schüttelte den Kopf.

»Aber was läßt sich dagegen tun? Von dem Jahr, bis zu dessen Ablauf der Vater die Hochzeit verschoben wissen wollte, sind nur noch einige Monate übrig. Und ich sehe noch gar keine Möglichkeit. Könnte ich meinem Bruder nur über die ersten Augenblicke der Wiederbegegnung mit dem Vater hinweghelfen. Es wäre mir lieb, wenn die Rostows noch vor Andrei hier einträfen. Ich hoffe, daß ich mit ihr gut harmonieren werde. Sie kennen die Familie ja schon lange; sagen Sie mir, Hand aufs Herz, die ganze, lautere Wahrheit: was ist sie für ein Mädchen, und wie finden Sie sie? Aber die ganze Wahrheit; denn Sie begreifen wohl: wenn Andrei das gegen den Willen seines Vaters tut, so setzt er so viel aufs Spiel, daß ich gern wissen möchte ...«

Ein unklares, instinktives Gefühl sagte Pierre, daß in diesen vorausgeschickten Redewendungen und den wiederholten Bitten, die ganze Wahrheit zu sagen, eine Abneigung der Prinzessin Marja gegen ihre künftige Schwägerin zum Ausdruck kam, und[493] daß sie im stillen wünschte, Pierre möchte die Wahl des Fürsten Andrei nicht gutheißen. Aber Pierre antwortete aufrichtig, und zwar sprach er mehr seine Empfindung als ein Urteil aus.

»Ich weiß nicht, wie ich Ihre Frage beantworten soll«, erwiderte er und errötete dabei, ohne selbst zu wissen warum. »Ich weiß schlechterdings nicht, was sie für ein Mädchen ist, und bin nicht imstande, ihren Charakter in seinen Einzelheiten zu schildern. Sie ist entzückend; aber woher das eigentlich kommt, das weiß ich nicht. Das ist alles, was ich über sie sagen kann.«

Prinzessin Marja seufzte, und ihre Miene besagte: »Ja, das hatte ich erwartet und gefürchtet.«

»Ist sie klug?« fragte Prinzessin Marja.

Pierre überlegte.

»Ich glaube: nein«, antwortete er; »übrigens doch, ja. Sie legt nur keinen Wert darauf, klug zu sein ... Aber sie ist entzückend, weiter nichts als entzückend.«

Prinzessin Marja schüttelte wieder mißfällig den Kopf.

»Ach, ich wünsche so sehr, sie liebzugewinnen! Sagen Sie ihr das nur, wenn Sie sie früher sehen sollten als ich.«

»Wie ich gehört habe, werden sie in den nächsten Tagen hier eintreffen«, sagte Pierre.

Prinzessin Marja teilte ihm nun noch ihren Plan mit, wie sie, sobald Rostows würden angekommen sein, mit ihrer künftigen Schwägerin in nähere Beziehung treten und sich auch bemühen werde, den alten Fürsten an sie zu gewöhnen.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 2, S. 490-494.
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