V

[494] In Petersburg war es Boris nicht gelungen, eine reiche Frau zu bekommen, und so war er denn in derselben Absicht nach Moskau gereist. In Moskau schwankte er, welches von zwei sehr[494] reichen Mädchen er wählen sollte, ob Julja oder Prinzessin Marja. Obgleich ihm Prinzessin Marja trotz ihres unschönen Äußeren anziehender erschien als Julja, fand er es schwierig, ihr den Hof zu machen. Als er das letztemal mit ihr zusammengewesen war, am Namenstag des alten Fürsten, hatte sie bei allen seinen Versuchen, mit ihr von Gefühlen zu reden, schiefe Antworten gegeben und offenbar auf das, was er sagte, gar nicht hingehört.

Im Gegensatz dazu nahm Julja seine Liebenswürdigkeiten gern entgegen, wiewohl auf eine besondere, ihr eigene Manier.

Julja war jetzt siebenundzwanzig Jahre alt. Durch den Tod ihrer Brüder war sie sehr reich geworden. Sie war jetzt geradezu unschön; aber sie meinte nicht nur ebenso hübsch wie früher, sondern noch weit anziehender zu sein. In diesem Irrtum erhielten sie zwei Umstände: erstens war sie eine sehr reiche Partie geworden, und zweitens war sie, je älter sie wurde, um so ungefährlicher für die Männer, und um so unbefangener konnten diese mit ihr verkehren und, ohne irgendwelche Verpflichtungen auf sich zu nehmen, die Soupers, die Soireen und die muntere Gesellschaft genießen, die sich im Karaginschen Haus zu versammeln pflegte. Viele Männer, die sich zehn Jahre vorher gescheut hätten, täglich ein Haus zu besuchen, wo eine siebzehnjährige Tochter war, um sie nicht zu kompromittieren und sich nicht zu binden, kamen jetzt dreist täglich zu ihr und verkehrten mit ihr nicht wie mit einem heiratsfähigen Fräulein, sondern wie mit einer guten Bekannten, die »kein Geschlecht hat«.

Das Karaginsche Haus war in diesem Winter eines der angenehmsten, gastfreisten Häuser in ganz Moskau. Abgesehen von den Soupers und Diners, zu denen Einladungen ergingen, versammelte sich jeden Abend bei Karagins eine große Gesellschaft, namentlich von Herren; es wurde um Mitternacht soupiert, und[495] man saß dann noch bis gegen drei Uhr zusammen. Es fand kein Schlittenkorso, kein Ball, keine Theatervorstellung statt, woran Julja nicht teilgenommen hätte. Sie trug immer die modernsten Toiletten. Aber trotzdem schien Julja von allem enttäuscht zu sein und sagte jedem, sie glaube weder an Freundschaft noch an Liebe, noch an irgendwelche Lebensfreuden mehr und erhoffe Ruhe nur im Jenseits. Sie hatte sich den Ton eines Mädchens zu eigen gemacht, das eine große Enttäuschung zu ertragen gehabt hat, eines Mädchens, das etwa einen geliebten Mann verloren hat oder von ihm grausam betrogen worden ist. Obgleich ihr nichts dergleichen zugestoßen war, sahen ihre Bekannten sie doch als eine solche Schwergeprüfte an, und sie glaubte sogar selbst, sie habe im Leben viel gelitten. Aber diese Melancholie war weder ihr selbst hinderlich, sich auf alle mögliche Art zu amüsieren, noch bildete sie für die jungen Leute, die bei Karagins verkehrten, ein Hindernis, die Zeit vergnüglich zu verbringen. Jeder Gast, der zu ihnen kam, entrichtete zunächst der melancholischen Stimmung der Tochter vom Haus seinen Tribut und vergnügte sich dann an Gesprächen, wie sie in der Gesellschaft üblich sind, am Tanz, an Spielen, bei denen Verstand und Witz zur Geltung kamen, und an Reimturnieren, wie sie bei Karagins Mode waren. Nur einige junge Männer, zu denen auch Boris gehörte, gingen tiefer auf Juljas melancholische Stimmung ein, und mit diesen jungen Männern führte sie dann längere, einsame Gespräche über die Eitelkeit alles irdischen Treibens und zeigte ihnen ihre Alben, welche bildliche Darstellungen traurigen Inhalts sowie Sinnsprüche und Verse gleicher Art enthielten.

Gegen Boris war Julja besonders freundlich: sie bedauerte ihn, weil ihn das Leben so früh schon enttäuscht habe, bot ihm jene Tröstungen der Freundschaft an, die sie in der Lage war ihm anzubieten, da sie selbst im Leben schon so viel gelitten hatte, und[496] ließ ihn ihre Alben sehen. Boris zeichnete ihr in eines derselben zwei Bäume und schrieb in französischer Sprache dazu: »Ihr Bäume der ländlichen Flur, eure dunklen Zweige schütten Finsternis und Schwermut auf mich herab.«

An einer andern Stelle zeichnete er ein Grabmal mit der Beischrift:


»La mort est secourable et la mort est tranquille.

Ah! contre les douleurs il n'y a pas d'autre asile.«1


Julja sagte, das sei wunderschön.

»Es liegt etwas so Entzückendes in dem Lächeln der Schwermut«, äußerte sie einmal im Gespräch mit Boris; es war dies eine Stelle, die sie sich wörtlich so aus einem französischen Buch abgeschrieben hatte. »Dieses Lächeln ist ein Lichtstrahl in der Dunkelheit, ein Mittelding zwischen dem Schmerz und der Verzweiflung, welches auf die Möglichkeit eines Trostes hindeutet.«

Daraufhin schrieb Boris ihr folgende Verse ein:


»Aliment de poison d'une âme trop sensible,

Toi, sans qui le bonheur me serait impossible,

Tendre mélancolie, ah, viens me consoler,

Viens calmer les tourments de ma sombre retraite

Et mêle une douceur secrète

A ces pleurs que je sens couler.«2
[497]

Julja spielte ihm auf der Harfe die traurigsten Notturnos. Boris las ihr »Die arme Lisa«3 vor und mußte mehrmals im Vorlesen innehalten, da ihm die innere Erregung den Atem benahm. Wenn sie einander in großer Gesellschaft begegneten, so betrachteten Julja und Boris einander als die einzigen Menschen auf der Welt, die gleichgestimmte Seelen hatten und sich wechselseitig verstanden.

Anna Michailowna, welche Karagins häufig besuchte, spielte mit der Mutter Karten und stellte dabei die genauesten Erkundigungen darüber an, was Julja mitbekommen sollte (sie sollte die beiden Güter im Gouvernement Pensa und Wälder im Gouvernement Nischni-Nowgorod als Mitgift erhalten). Mit Ergebung in den Willen der Vorsehung und mit inniger Rührung beobachtete Anna Michailowna den feinfühligen Kummer, welcher ein Band zwischen ihrem Sohn und der reichen Julja bildete.

»Unsere liebe Julja ist doch immer ebenso schwermütig wie liebenswürdig«, sagte sie zu der Tochter. – »Boris sagt, daß ihm in Ihrem Haus die Seele aufgeht; er hat so viele Enttäuschungen zu tragen gehabt und hat ein so tief empfindendes Gemüt«, sagte sie zu der Mutter. – »Ach, lieber Sohn«, sagte sie zu Boris, »welch eine herzliche Zuneigung habe ich in der letzten Zeit für Julja gefaßt; ich kann es dir gar nicht mit Worten schildern! Und wer sollte sie auch nicht lieb haben? Sie ist eine Art von überirdischem Wesen! Ach, Boris, Boris!« Sie schwieg einen Augenblick. »Und wie leid mir ihre Mama tut«, fuhr sie fort; »heute zeigte sie mir Abrechnungen und Berichte, die sie von ihren Verwaltern aus dem Pensaschen erhalten hat (Karagins besitzen dort[498] sehr große Güter), und sie, die Ärmste, muß das alles selbst erledigen und steht so ganz allein da: da wird sie gewaltig betrogen.«

Boris lächelte ganz leise, als er seine Mutter so sprechen hörte. Ihre naive Schlauheit amüsierte ihn; aber er hörte doch solche Mitteilungen immer aufmerksam an und erkundigte sich mehrmals mit Interesse nach den Besitzungen in den Gouvernements Pensa und Nischni-Nowgorod.

Julja erwartete schon lange einen Antrag von seiten ihres melancholischen Verehrers und war bereit, den Antrag anzunehmen; aber ein gewisses geheimes Gefühl der Abneigung gegen sie und gegen ihren leidenschaftlichen Wunsch sich zu verheiraten und gegen das Gekünstelte ihres ganzen Wesens, sowie ein Gefühl des Schreckens vor dem Verzicht auf die Möglichkeit einer wahren Liebe hielten Boris immer noch zurück. Sein Urlaub näherte sich bereits seinem Ende. Jeden Tag, den Gott werden ließ, brachte Boris von früh bis spät bei Karagins zu, und an jedem Tag sagte er, wenn er abends beim Schlafengehen die Angelegenheit für sich allein durchdachte, zu sich: »Morgen will ich meinen Antrag machen.« Aber wenn er dann am andern Tag wieder bei Julja war und ihr rotes Gesicht sah und ihr fast immer gepudertes Kinn und ihre feuchten Augen und ihren gespannten Gesichtsausdruck, der deutlich besagte, daß er jeden Augenblick bereit war aus der Melancholie sofort in eine erkünstelte Schwärmerei für das Eheglück überzugehen: dann fühlte sich Boris außerstande, das entscheidende Wort zu sprechen, trotzdem er sich in seinen Gedanken schon längst als den Eigentümer der Pensaschen und Nischni-Nowgoroder Besitzungen betrachtete und über die Verwendung der Einkünfte daraus seine Dispositionen getroffen hatte. Julja bemerkte seine Unschlüssigkeit, und mitunter kam ihr der Gedanke, sie müsse ihm wohl zuwider sein; aber der übliche Selbstbetrug der Frauen[499] spendete ihr dann immer sogleich wieder Trost, und sie sagte sich, er sei nur aus Liebe so schüchtern.

Jedoch begann ihre Melancholie schon in Nervosität überzugehen, und kurz vor dem Termin, an welchem Boris abreisen mußte, brachte sie einen energischen Plan zur Ausführung. Gerade zu dieser Zeit, wo Boris' Urlaub zu Ende ging, erschien Anatol Kuragin in Moskau und selbstverständlich auch im Salon der Karaginschen Damen, und Julja gab auf einmal ihre Melancholie auf, wurde sehr heiter und benahm sich gegen Kuragin sehr liebenswürdig.

»Lieber Sohn«, sagte Anna Michailowna zu Boris, »ich weiß aus guter Quelle, daß Fürst Wasili seinen Sohn nach Moskau geschickt hat, damit er Julja heirate. Ich habe Julja so lieb, daß sie mir leid tun würde. Wie denkst du darüber, lieber Sohn?«

Der Gedanke, leer auszugehen und ausgelacht zu werden und diesen ganzen Monat schweren melancholischen Minnedienstes bei Julja ohne jeden Nutzen verloren zu haben und all die Einkünfte von den Pensaschen und Nischni-Nowgoroder Besitzungen, die er in seinen stillen Überlegungen bereits für diesen und jenen Zweck ordnungsmäßig bestimmt und verwendet hatte, in den Händen eines andern und ganz besonders in den Händen des dummen Anatol zu sehen, dieser Gedanke versetzte Boris in Entrüstung. Er fuhr zu Karagins mit dem festen Vorsatz, seinen Antrag zu machen. Julja empfing ihn mit heiterer, unbefangener Miene, redete in lässiger Manier davon, wie gut sie sich auf dem gestrigen Ball amüsiert habe, und fragte ihn, wann er abreise. Obgleich Boris in der Absicht gekommen war, von seiner Liebe zu reden, und daher vorhatte, zärtlich zu sein, begann er doch in gereiztem Ton von der Unbeständigkeit der Frauen zu sprechen: die Frauen brächten es mit Leichtigkeit fertig, von Traurigkeit zu Freude überzugehen, und ihre Gemütsstimmung hänge nur davon ab, wer ihnen gerade den Hof mache. Julja nahm das[500] übel und erwiderte, da habe er ganz recht; eine Frau brauche Abwechslung, und immer ein und dasselbe würde einer jeden langweilig.

»Zu diesem Zweck würde ich Ihnen raten ...«, begann Boris in der Absicht, ihr eine Bosheit zu sagen; aber in diesem Augenblick fuhr ihm der peinliche Gedanke durch den Kopf, er könne in die Lage kommen, aus Moskau abreisen zu müssen, ohne trotz so vieler aufgewendeter Mühe seinen Zweck erreicht zu haben (was ihm noch nie auf irgendwelchem Gebiet begegnet war).

Er hielt mitten im Satz inne, schlug die Augen nieder, um den unfreundlichen, gereizten, wankelmütigen Ausdruck ihres Gesichtes nicht zu sehen, und sagte:

»Ich bin ganz und gar nicht in der Absicht hergekommen, mit Ihnen zu streiten. Im Gegenteil ...«

Er warf ihr einen Blick zu, um sich zu überzeugen, ob er fortfahren dürfe. All ihre Gereiztheit war mit einem Schlag verschwunden, und ihre unruhigen, fragenden Augen waren in begieriger Erwartung auf ihn gerichtet. »Ich werde es ja immer so einrichten können, daß ich sie nur selten sehe«, dachte Boris. »Aber ich habe die Sache einmal in Angriff genommen und muß sie nun auch durchführen!« Er wurde dunkelrot, hob die Augen zu ihr auf und sagte:

»Sie kennen meine Gefühle für Sie!«

Mehr zu sagen war eigentlich nicht erforderlich; denn auf Juljas Gesicht strahlte bereits ein Lächeln des Triumphes und des befriedigten Ehrgeizes. Aber sie zwang Boris dazu, ihr alles zu sagen, was bei solchen Gelegenheiten gesagt zu werden pflegt, ihr zu sagen, daß er sie liebe und nie ein Weib mehr geliebt habe als sie. Sie wußte, daß sie das für die Güter im Gouvernement Pensa und die Waldungen im Gouvernement Nischni-Nowgorod verlangen konnte, und sie erhielt, was sie verlangte.[501]

Als Braut und Bräutigam dachten sie nicht mehr an die Bäume, welche Dunkelheit und Schwermut über sie herabschütteten, sondern entwarfen Pläne über die künftige Einrichtung eines glänzenden Hauses in Petersburg, machten Visiten und trafen alle Vorbereitungen für eine prunkvolle Hochzeit.

Fußnoten

1 Ein Helfer ist der Tod, ein stiller Ruheport;

Er ist für Gram und Leid der einz'ge Zufluchtsort.


2 Du, Gift zugleich und Kost für Seelen voll Gefühl,

Die du mich mehr beglückst als eitles Weltgewühl,

O sanfte Schwermut, komm und lindre meinen Schmerz,

In düstrer Einsamkeit erfreue du mein Herz,

Und mit geheimer Lust versüße

Die Tränenflut, die ich vergieße.


3 Eine sentimentale Novelle von Karamsin, erschienen im Jahre 1792.

Anmerkung des Übersetzers.


Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 2, S. 494-502.
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