I

[364] Sieben Jahre waren vergangen. Das aufgeregte Meer der europäischen Geschichte war in seine Ufer zurückgetreten und schien still geworden zu sein; aber die geheimnisvollen Kräfte, die die Menschheit in Bewegung setzen (geheimnisvoll deshalb, weil die Gesetze, durch die ihre Bewegung bestimmt wird, uns unbekannt sind), fuhren in ihrer Tätigkeit fort.

Trotzdem die Oberfläche des Meeres der Geschichte regungslos dazuliegen schien, bewegte sich dennoch die Menschheit weiter, ebenso ununterbrochen, wie sich die Zeit bewegt. Mannigfaltige Gruppierungen innerhalb der Menschheit bildeten sich und zerfielen; es bereiteten sich Ursachen vor, die zur Neubildung und zum Zerfall von Staaten und zu Verschiebungen von Nationen führten.

Das Meer der Geschichte strömte nicht wie früher stoßweise von einem Ufer zum andern, sondern tobte in der Tiefe. Die historischen Persönlichkeiten wurden nicht wie früher von den Wellen von einem Ufer zum andern getragen; jetzt schienen sie auf einem und demselben Fleck herumgewirbelt zu werden. Die historischen Persönlichkeiten, die früher die Bewegung der Massen an der Spitze von Heeren durch Befehle zu Kriegen, Märschen und Schlachten widergespiegelt hatten, taten dies jetzt durch politische und diplomatische Erörterungen, Gesetze und Verträge.

Diese Tätigkeit der historischen Persönlichkeiten nennen die Geschichtsschreiber Restauration.

Wenn sie die Tätigkeit dieser historischen Persönlichkeiten schildern, die nach ihrer Meinung die Ursache von dem waren, was sie Restauration nennen, so fallen die Geschichtsschreiber über sie ein[364] strenges Verdammungsurteil. Alle bekannten Persönlichkeiten jener Zeit, von Alexander und Napoleon bis zu Madame de Staël, Photius, Schelling, Fichte, Chateaubriand usw., müssen vor diesem strengen Gerichtshof vorbeipassieren und werden freigesprochen oder verurteilt, je nachdem sie an dem »Fortschritt« oder an der »Restauration« mitgewirkt haben.

Auch in Rußland hat, nach der Darstellung dieser Historiker, in dieser Periode der Geschichte eine Restauration stattgefunden, und als den Haupturheber dieser Restauration bezeichnen sie Alexander I., eben den Alexander I., der, nach der Darstellung derselben Historiker, der Haupturheber der liberalen Ära zu Anfang seiner Regierung und der Haupturheber der Rettung Rußlands war.

In der jetzigen russischen Literatur gibt es, vom Gymnasiasten bis zum gelehrten Historiker, keinen Menschen, der nicht auf Alexander wegen seiner ungerechten Handlungen in dieser Periode seiner Regierung einen Stein würfe.

»Er hätte so und so handeln müssen. In jenem Fall hat er gut gehandelt, aber in jenem andern schlecht. Am Anfang seiner Regierung und im Jahre 1812 hat er sich vortrefflich benommen; aber er hat schlecht gehandelt, als er Polen eine Verfassung gab, die Heilige Allianz aufrichtete, Araktschejew mit einer solchen Macht ausstattete, Golizyn und den Mystizismus und nachher Schischkow und Photius begünstigte. Er hat schlecht gehandelt, indem er sich mit dem Dienstbetrieb des Heeres abgab und indem er das Semjonower Regiment kassierte« usw.

Man müßte zehn Bogen vollschreiben, um alle die Vorwürfe aufzuzählen, die die Historiker, gestützt auf ihre Kenntnis vom wahren Wohl der Menschheit, gegen ihn richten.

Welchen Wert haben diese Vorwürfe?

Jene Handlungen, für welche die Historiker Alexander I. loben, als da sind: die liberalen Anfänge seiner Regierung, der Kampf[365] mit Napoleon, die von ihm im Jahre 1812 bewiesene Festigkeit, entspringen sie nicht denselben Quellen (nämlich der Eigenart des Blutes, der Erziehung und des Lebens, wodurch die Persönlichkeit Alexanders zu dem gemacht wurde, was sie war), aus denen auch diejenigen Handlungen entspringen, um derentwillen die Historiker ihn tadeln, als da sind: die Heilige Allianz, die Wiederherstellung Polens, die Restauration der zwanziger Jahre?

Worin besteht denn der eigentliche Kern dieser Vorwürfe?

Darin, daß eine solche geschichtliche Persönlichkeit wie Alexander I., eine Persönlichkeit, die auf der höchsten überhaupt möglichen Stufe menschlicher Macht stand, gleichsam im Brennpunkt des blendenden Lichtes aller auf ihn konzentrierten Strahlen der Geschichte; eine Persönlichkeit, die jenen von der Macht nun einmal unzertrennlichen Einwirkungen der Intrigen, der Täuschungen, der Schmeichelei, der Selbstverblendung im denkbar stärksten Grad ausgesetzt war; eine Persönlichkeit, die in jedem Augenblick ihres Lebens fühlte, daß die Verantwortung für alles, was in Europa geschah, auf ihr lastet; und eine nicht erdichtete Persönlichkeit, sondern eine Persönlichkeit von Fleisch und Blut wie jeder Mensch, mit eigenen persönlichen Gewohnheiten, Leidenschaften und Bestrebungen nach dem Guten, Schönen und Wahren – der Kern jener Vorwürfe liegt darin, daß diese Persönlichkeit vor fünfzig Jahren nicht etwa sittlich schlecht war (diesen Vorwurf erheben die Historiker nicht), sondern über das Wohl der Menschheit nicht diejenigen Anschauungen hatte, die heutzutage ein Professor besitzt, der sich von Jugend auf mit der Wissenschaft beschäftigt, d.h. mit dem Lesen von Büchern, dem Anhören von Vorlesungen und dem Eintragen des Inhalts dieser Bücher und Vorlesungen in ein Heft, aus dem er dann selbst Vorlesungen hält.[366]

Aber selbst wenn wir annehmen, daß Alexander vor fünfzig Jahren sich mit seinen Ansichten über das, worin das Wohl der Völker besteht, im Irrtum befunden habe, so müssen wir notgedrungen annehmen, daß nach Verlauf einiger Zeit auch der Historiker, welcher über Alexander den Stab bricht, sich mit seiner Ansicht über das, was das Wohl der Menschheit bildet, genau ebenso als im Irrtum befangen erweisen wird. Diese Annahme ist um so natürlicher und notwendiger, da wir bei Durchmusterung der Weltgeschichte sehen, daß die Ansicht über das, worin das Wohl der Menschheit besteht, sich mit jedem Jahr, mit jedem neuen Schriftsteller ändert, so daß das, was zu gewisser Zeit als ein Segen betrachtet worden ist, zehn Jahre darauf als ein Unheil erscheint, und umgekehrt. Und damit noch nicht genug; wir finden in der Geschichte gleichzeitig ganz entgegengesetzte Ansichten darüber, was ein Segen und was ein Unheil war: die einen rechnen die Verleihung einer Konstitution an Polen und die Errichtung der Heiligen Allianz Alexander zum Verdienst an, die andern machen ihm beides zum Vorwurf.

Von der Tätigkeit Alexanders und Napoleons dürfen wir nicht sagen, daß sie nützlich oder schädlich gewesen sei, da wir nicht sagen können, wofür sie nützlich und wofür sie schädlich war. Wenn diese Tätigkeit jemandem nicht gefällt, so gefällt sie ihm nur deswegen nicht, weil sie mit seinem beschränkten Begriff über das, was das Heil der Menschen ausmacht, nicht zusammenfällt. Ob mir nun die unversehrte Erhaltung meines Vaterhauses in Moskau im Jahre 1812 als das wahre Heil erscheint, oder der Ruhm der russischen Waffen, oder die Blüte der Petersburger Universität und anderer Universitäten, oder die Freiheit Polens, oder die Machtstellung Rußlands, oder das europäische Gleichgewicht, oder eine gewisse Art von europäischer Aufklärung, der sogenannte Fortschritt: in jedem Fall muß ich bekennen, daß[367] die Tätigkeit einer jeden historischen Persönlichkeit außer diesen Zielen noch andere, allgemeinere und mir unfaßbare Ziele hatte.

Aber nehmen wir an, die sogenannte Wissenschaft fände eine Möglichkeit, alle Gegensätze miteinander zu versöhnen, und besäße für die historischen Persönlichkeiten und Ereignisse einen unveränderlichen Maßstab des Guten und Schlechten.

Nehmen wir an, Alexander hätte in jeder Hinsicht anders verfahren können. Nehmen wir an, er hätte gemäß der Vorschrift seiner jetzigen Tadler, der Leute, die in ihrem Professorendünkel das Endziel der Entwicklung der Menschheit zu kennen meinen, alles nach jenem Programm von Nationalität, Freiheit, Gleichheit und Fortschritt einrichten können (ein anderes Programm scheint es ja gar nicht zu geben), das ihm seine jetzigen Tadler an die Hand gegeben hätten. Nehmen wir an, dieses Programm läge im Bereich der Möglichkeit und wäre bis ins einzelne ausgearbeitet und Alexander hätte nach ihm gehandelt. Was wäre dann aus der Tätigkeit aller der Männer geworden, die die damalige Richtung der Regierung bekämpften, aus dieser Tätigkeit, die nach der Meinung der Historiker eine gute und nützliche war? Diese Tätigkeit wäre überhaupt nicht vorhanden gewesen; es wäre kein Leben vorhanden gewesen; nichts wäre vorhanden gewesen.

Wenn man annimmt, das menschliche Leben könne durch den Verstand regiert werden, so wird damit die Möglichkeit des Lebens aufgehoben.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 4, S. 364-368.
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