IV

[378] Die Bewegung der Völker beginnt in ihre Ufer zurückzutreten. Die Wogen der großen Bewegung haben sich gelegt, und auf dem still gewordenen Meer bilden sich Strudel, in denen die Diplomaten herumgetrieben werden; dabei bilden sie sich ein, daß gerade sie es sind, die die Bewegung zur Ruhe gebracht haben.

Aber das still gewordene Meer erhebt sich plötzlich von neuem. Die Diplomaten meinen, daß sie, ihre Mißhelligkeiten, die Ursache dieses neuen Andranges der Kräfte seien; sie erwarten einen Krieg zwischen ihren Herrschern; die Lage scheint ihnen in unlösbarer Weise verwickelt. Aber die Woge, deren Annäherung sie fühlen, kommt nicht von der Seite, von der sie sie erwarten. Es erhebt sich noch einmal dieselbe Woge, mit demselben Ausgangspunkt der Bewegung, Paris. Es findet von Westen her ein letzter Rückschlag der Bewegung statt, ein Rückschlag, der dazu bestimmt ist, die unlösbar scheinenden diplomatischen Schwierigkeiten[378] zu lösen und der kriegerischen Bewegung dieser Periode ein Ende zu machen.

Der Mann, der Frankreich verödet hat, kommt allein, ohne Verschworene, ohne Soldaten nach Frankreich. Jeder Polizist kann ihn verhaften; aber infolge eines seltsamen »Zufalls« tut dies niemand, im Gegenteil empfangen alle mit Begeisterung den Menschen, den sie einen Tag vorher verflucht haben und einen Monat später wieder verfluchen werden.

Dieser Mensch ist noch notwendig, um die Verantwortung für den letzten Akt des Zusammenspiels zu tragen.

Der Akt ist beendet.

Die Rolle ist endgültig ausgespielt. Der Schauspieler erhält die Weisung, sich auszukleiden und die Schminke von den Backen und den Spießglanz aus den Augenbrauen zu waschen: man bedarf seiner nicht mehr.

Und nun vergehen mehrere Jahre, während deren dieser Mensch auf seiner Insel in der Einsamkeit sich selbst eine klägliche Komödie vorspielt und intrigiert und lügt, um seine Handlungen zu rechtfertigen, wo diese Rechtfertigung doch nicht mehr nötig ist, und der ganzen Welt zeigt, was das für ein Ding war, das die Menschen für eine lebendige Kraft hielten, während in Wirklichkeit eine unsichtbare Hand es leitete.

Nachdem das Drama zu Ende gespielt war und der Schauspieler sein Kostüm abgelegt hatte, zeigte ihn uns der Leiter der Aufführung.

»Seht nun, woran ihr geglaubt habt! Das ist er! Seht ihr jetzt, daß nicht er euch in Bewegung gesetzt hat, sondern ich?«

Aber lange Zeit haben die Menschen dies nicht verstanden, da ihre Augen sich durch die Kraft der Bewegung hatten täuschen lassen.

Eine noch größere Konsequenz und innere Notwendigkeit weist[379] das Leben Alexanders I. auf, derjenigen Persönlichkeit, die an der Spitze der Gegenbewegung von Osten nach Westen stand.

Welcher Eigenschaften bedurfte der Mann, der, alle andern in den Schatten stellend, an der Spitze dieser Bewegung von Osten nach Westen stehen sollte?

Er mußte Gerechtigkeitsgefühl besitzen; er mußte Interesse haben für die Angelegenheiten Europas, ein Interesse, das nicht durch andere, kleinliche Interessen abgelenkt und getrübt wurde; er mußte an sittlicher Größe seine Standesgenossen, die Herrscher jener Zeit, überragen; er mußte ein mildes, anziehendes Wesen haben; er mußte einen persönlichen Groll gegen Napoleon hegen. Und dies alles findet sich bei Alexander I.; dies alles ist durch zahllose sogenannte »Zufälle« in seinem vorhergehenden Leben vorbereitet; durch seine Erziehung und durch die liberalen Anfänge seiner Regierung und durch die ihn umgebenden Ratgeber und durch Austerlitz und Tilsit und Erfurt.

Während des nationalen Krieges bleibt diese Persönlichkeit untätig, da sie nicht erforderlich ist. Aber sowie sich die Notwendigkeit eines allgemeinen europäischen Krieges zeigt, erscheint diese Persönlichkeit im gegebenen Augenblick auf ihrem Platz, vereinigt die Völker Europas und führt sie zum Ziel.

Das Ziel ist erreicht. Nach dem letzten Krieg von 1815 befindet sich Alexander auf dem höchsten Gipfel menschlicher Macht. Welchen Gebrauch macht er von dieser Macht?

Alexander I., er, der Europa den Frieden wiedergegeben hat, der Mann, dessen Streben von seiner Jugend an nur auf das Glück seiner Völker gerichtet ist, der erste Urheber liberaler Neuerungen in seinem Vaterland, erkennt jetzt, wo er anscheinend die allergrößte Macht und damit die Möglichkeit besitzt, seine Völker glücklich zu machen, zu gleicher Zeit, wo Napoleon in der Verbannung kindische, lügenhafte Pläne entwirft, wie er die[380] Menschheit beglücken würde, wenn er die Macht hätte – Alexander I. erkennt, nachdem er seinen Beruf erfüllt und die Hand Gottes an sich gefühlt hat, plötzlich die Nichtigkeit dieser vermeintlichen Macht, wendet sich von ihr ab, legt sie in die Hände von Leuten, die er verachtet und die verächtlich sind, und sagt nur: »Nicht uns, nicht uns, sondern Deinem Namen sei die Ehre! Ich bin auch nur ein Mensch wie ihr; laßt mich wie ein Mensch leben und an meine Seele und an Gott denken.«


Wie die Sonne und jedes Ätheratom eine in sich abgeschlossene Kugel und zugleich nur ein Atom des in seiner Riesenhaftigkeit für den Menschen unfaßbaren Alls ist, so trägt auch jede Persönlichkeit ihren Zweck in sich selbst, muß aber gleichzeitig den allgemeinen Zwecken dienen, die den Menschen unfaßbar sind.

Eine auf einer Blume sitzende Biene hat ein Kind gestochen. Und das Kind fürchtet nun die Biene und sagt, der Zweck der Bienen bestehe darin, die Menschen zu stechen. Der Dichter erfreut sich an dem Anblick der Biene, die aus einem Blütenkelch trinkt, und sagt, der Zweck der Bienen bestehe darin, den Blütenduft einzusaugen. Der Imker, welcher sieht, daß die Biene Blütenstaub sammelt und in den Korb trägt, sagt, der Zweck der Biene bestehe in der Bereitung des Honigs. Ein andrer Imker, der das Leben des Bienenschwarmes genauer studiert, sagt, die Biene sammle den Blütenstaub zur Ernährung der jungen Bienen und zur Hervorbringung einer Königin, und ihr Zweck bestehe in der Fortpflanzung der Art. Der Botaniker bemerkt, daß die Biene, die mit dem Blütenstaub einer zweihäusigen Pflanze auf einen Stempel hinüberfliegt, diesen befruchtet, und der Botaniker sieht darin den Zweck der Biene. Ein anderer, der die Wanderung der Pflanzen beobachtet, sieht, daß die Biene zu[381] dieser Wanderung mitwirkt; dieser neue Beobachter kann sagen, daß der Zweck der Biene hierin bestehe. Aber der Endzweck der Biene wird weder durch jenen ersten noch durch den zweiten, noch durch den dritten Zweck, noch durch sonst einen er schöpft, den der menschliche Geist zu entdecken imstande ist. Zu je größerer Höhe der menschliche Geist bei der Entdeckung dieser Zwecke sich erhebt, um so deutlicher wird ihm die Unfaßbarkeit des Endzwecks.

Der Mensch kann es über die Beobachtung der wechselseitigen Beziehungen zwischen dem Leben der Biene und anderen Lebenserscheinungen nicht hinausbringen. Und dasselbe gilt von den Zwecken der historischen Persönlichkeiten und der Völker.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 4, S. 378-382.
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