V

[382] Die Hochzeit Nataschas, die im Jahre 1813 den Grafen Besuchow heiratete, war das letzte freudige Ereignis in der alten Familie Rostow. In demselben Jahr starb Graf Ilja Andrejewitsch, und wie das meist so zu gehen pflegt, zerfiel mit seinem Tod die frühere Familie.

Die Ereignisse des letzten Jahres: der Brand von Moskau und die Flucht aus dieser Stadt, der Tod des Fürsten Andrei und Nataschas Verzweiflung, der Tod Petjas, der Gram der Gräfin, alles dies war Schlag auf Schlag auf das Haupt des alten Grafen gefallen. Es hatte den Anschein, daß er die volle Bedeutung aller dieser Ereignisse nicht begriff und sich nicht imstande fühlte sie zu begreifen; er beugte in geistigem Sinn sein altes Haupt, als ob er neue Schläge erwartete und erbäte, die ihn vollends vernichten sollten. Er schien bald ängstlich und zerstreut, bald in unnatürlicher Weise lebhaft und unternehmend.

Nataschas Hochzeit hatte ihn durch die damit verbundenen[382] Äußerlichkeiten eine Zeitlang beschäftigt. Er bestellte die Diners und Soupers und wollte offenbar heiter erscheinen; aber seine Heiterkeit teilte sich nicht wie früher anderen mit, sondern erweckte im Gegenteil nur Mitleid bei denen, die ihn kannten und liebten.

Nachdem Pierre mit seiner jungen Frau abgereist war, wurde der alte Graf still und begann über innere Unruhe zu klagen. Einige Tage darauf wurde er krank und mußte sich zu Bett legen. Gleich in den ersten Tagen seiner Krankheit merkte er trotz aller Tröstungen seitens der Ärzte, daß er nicht wieder aufstehen werde. Die Gräfin brachte, ohne sich auszukleiden, zwei Wochen in einem Lehnstuhl am Kopfende seines Bettes zu. Jedesmal, wenn sie ihm seine Arznei reichte, küßte er ihr schluchzend, ohne ein Wort zu sagen, die Hand. Am letzten Tag bat er unter heißen Tränen seine Frau und seinen abwesenden Sohn um Verzeihung wegen der Zerrüttung der Vermögensverhältnisse – die größte Schuld, deren er sich bewußt war. Nachdem er das Abendmahl und die Letzte Ölung empfangen hatte, verschied er still, und am folgenden Tag füllte sich die Rostowsche Mietwohnung mit einer Schar von Bekannten, welche kamen, um dem Verstorbenen die letzte Ehre zu erweisen. Alle diese Bekannten, die so oft in seinem Haus diniert und getanzt und sich so oft über ihn lustig gemacht hatten, sagten jetzt mit der gleichen Empfindung eines inneren Selbstvorwurfes und der Rührung, wie wenn sie sich vor jemand rechtfertigen wollten: »Ja, mag man sagen, was man will, aber ein prächtiger Mensch war er doch. Solche Leute findet man heutzutage gar nicht mehr ... Und wer hat nicht seine Schwächen?«

Gerade zu der Zeit, als die Angelegenheiten des Grafen dermaßen in Verwirrung waren, daß man sich keine Vorstellung davon machen konnte, wie das alles enden würde, wenn es noch[383] ein Jahr so fortginge, gerade zu der Zeit war er nun plötzlich gestorben.

Nikolai befand sich mit den russischen Truppen in Paris, als die Nachricht vom Tod seines Vaters zu ihm gelangte. Er reichte sofort seinen Abschied ein, nahm, ohne diesen abzuwarten, Urlaub und reiste nach Moskau. Der Vermögensstand war einen Monat nach dem Tod des Grafen völlig klargestellt, und alle waren erstaunt über den riesigen Gesamtbetrag der verschiedenen kleinen Schulden, von deren Existenz niemand auch nur eine Ahnung gehabt hatte. Die Schulden waren doppelt so groß als das Vermögen.

Die Verwandten und Freunde rieten Nikolai, auf die Erbschaft zu verzichten. Aber Nikolai sah in dem Verzicht auf die Erbschaft eine Art von Vorwurf gegen den Vater, dessen Andenken ihm heilig war, und wollte darum von einem Verzicht nichts hören, sondern übernahm die Erbschaft mit der Verpflichtung, die Schulden zu bezahlen.

Die Gläubiger hatten so lange geschwiegen, da sie sich bei Lebzeiten des Grafen durch jene undefinierbare, aber starke Einwirkung gebunden fühlten, die seine maßlose Herzensgüte auf sie ausübte; nun aber reichten sie auf einmal sämtlich ihre Forderungen ein. Es entstand, wie das meistens so geht, geradezu eine Art von Wettrennen, wer zuerst Geld bekäme, und gerade diejenigen Leute, die, wie der Geschäftsführer Dmitri und andre, Wechsel in den Händen hatten, die ihnen ohne Äquivalent geschenkt waren, bestanden jetzt am hartnäckigsten auf schneller Befriedigung. Sie wollten Nikolai keine Frist geben, ihm keine Zeit zur finanziellen Erholung vergönnen; und diejenigen, die den alten Mann geschont hatten, der an ihrem Verlust schuld war, falls überhaupt ein Verlust in Frage kam, die fielen jetzt mitleidslos über den jungen Erben her, der doch zweifellos keine Schuld[384] ihnen gegenüber trug und die Bezahlung der Schulden nur aus gutem Herzen auf sich genommen hatte.

Keine einzige der finanziellen Unternehmungen Nikolais gelang; das Gut wurde bei der Subhastation für den halben Wert verkauft, und ein großer Teil der Schulden blieb unbezahlt. Nikolai nahm von seinem Schwager Besuchow dreißigtausend Rubel, die dieser ihm anbot, an, um davon diejenigen Schulden zu bezahlen, die er als aus wirklichen Leistungen herrührende anerkannte. Und um für die verbleibenden Schulden nicht ins Gefängnis gesetzt zu werden, womit ihm die Gläubiger drohten, trat er wieder in den Dienst.

Zur Armee, wo er bei der ersten eintretenden Vakanz Regimentskommandeur geworden wäre, konnte er deswegen nicht wieder gehen, weil die Mutter sich jetzt an den Sohn als an das Letzte klammerte, das ihr im Leben noch Freude machte; daher zog er die ihm so liebgewordene Uniform aus und nahm in Moskau eine Stelle bei der Zivilverwaltung an, obwohl er nur ungern in dieser Stadt im Kreis der Menschen blieb, die ihn von früher her kannten, und gegen den Zivildienst eine Abneigung hatte. Mit seiner Mutter und Sonja zog er in eine kleine Wohnung in der Siwzew-Wraschek-Straße.

Natascha und Pierre lebten damals in Petersburg, ohne von Nikolais Lage eine klare Vorstellung zu haben. Nikolai, der von seinem Schwager Geld geliehen hatte, bemühte sich, ihm seine ärmlichen Verhältnisse zu verheimlichen. Nikolais Lage war namentlich darum eine so üble, weil er mit seinen zwölfhundert Rubeln Gehalt nicht nur sich, Sonja und die Mutter erhalten mußte, sondern auch die Mutter so erhalten mußte, daß sie nicht merkte, daß sie arm waren. Die Gräfin hatte kein Verständnis dafür, daß es möglich sei, ohne den Luxus zu leben, an den sie seit ihrer Kindheit gewöhnt war; und ohne zu begreifen, wie[385] schwer das ihrem Sohn wurde, verlangte sie bald einen Wagen, den sie nicht hatten, um eine Bekannte holen zu lassen, bald ein teures Gericht für sich und Wein für den Sohn, bald Geld, um Natascha, Sonja und Nikolai selbst mit Geschenken zu überraschen.

Sonja führte die Hauswirtschaft, pflegte ihre Tante, las ihr vor, ertrug ihre Launen und ihre versteckte Abneigung, und half Nikolai dabei, der alten Gräfin die dürftige Lage zu verheimlichen, in der sie sich befanden. Nikolai fühlte sich tief, tief in Sonjas Schuld für alles, was sie an seiner Mutter tat, und bewunderte ihre Geduld und Hingebung; aber er suchte sich von ihr fernzuhalten.

Er machte es ihr im Herzen gewissermaßen zum Vorwurf, daß sie gar zu vollkommen war und er gar keinen Grund fand, ihr Vorwürfe zu machen. Sie besaß alles, weswegen man Menschen hochschätzt, aber nur wenig von dem, was ihn hätte dazu bringen können, sie zu lieben. Und er fühlte, daß seine Liebe zu ihr um so geringer wurde, je mehr seine Hochachtung für sie stieg. Er betrachtete jenen Brief als maßgebend für sich, in welchem sie ihm seine Freiheit zurückgegeben hatte, und verhielt sich jetzt ihr gegenüber so, als wäre das, was zwischen ihnen geschehen war, schon längst vergessen und könne sich unter keinen Umständen erneuern.

Nikolais Lage wurde immer schlechter. Der Gedanke, von seinem Gehalt etwas zu erübrigen, erwies sich als eine Schimäre. Statt etwas zu erübrigen, geriet er vielmehr dadurch, daß er die Wünsche seiner Mutter befriedigte, in eine Menge von kleinen Schulden hin ein. Und er sah keinen Ausweg aus dieser Lage. Der Gedanke an eine Heirat mit einer reichen Erbin, wozu ihm seine weiblichen Verwandten zuredeten, war ihm zuwider. An eine zweite Art, in der seine Lage sich vielleicht bald bessern konnte, nämlich durch den Tod seiner Mutter, dachte er überhaupt[386] nicht. Er hatte keinen Wunsch mehr, keine Hoffnung mehr und empfand im tiefsten Innern seiner Seele eine Art von bitterem, düsterem Genuß dabei, seine traurige Lage ohne Murren zu ertragen. Seine früheren Bekannten mit ihren Ausdrücken des Bedauerns und ihren Anerbietungen von Hilfe, die für ihn etwas Beleidigendes hatten, suchte er zu vermeiden; er gönnte sich keine Zerstreuung und Aufheiterung; selbst zu Hause nahm er keine ordentliche Beschäftigung vor, sondern legte nur in Gemeinschaft mit seiner Mutter Karten, ging schweigend im Zimmer auf und ab und rauchte eine Pfeife nach der andern. Er schien geflissentlich in seiner Seele die düstere Stimmung zu nähren, in welcher allein er sich fähig fühlte, seine Lage zu ertragen.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 4, S. 382-387.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Der grüne Kakadu. Groteske in einem Akt

Der grüne Kakadu. Groteske in einem Akt

In Paris ergötzt sich am 14. Juli 1789 ein adeliges Publikum an einer primitiven Schaupielinszenierung, die ihm suggeriert, »unter dem gefährlichsten Gesindel von Paris zu sitzen«. Als der reale Aufruhr der Revolution die Straßen von Paris erfasst, verschwimmen die Grenzen zwischen Spiel und Wirklichkeit. Für Schnitzler ungewöhnlich montiert der Autor im »grünen Kakadu« die Ebenen von Illusion und Wiklichkeit vor einer historischen Kulisse.

38 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.

444 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon