XII

[314] Am folgenden Tag fand beim Feldmarschall Diner und Ball statt, welche der Kaiser mit seiner Anwesenheit beehrte. Dem Feldmarschall war das Georgskreuz erster Klasse verliehen, und der Kaiser erwies ihm die höchsten Ehren; aber dennoch wußten alle, daß der Kaiser mit ihm unzufrieden war. Der Anstand wurde gewahrt, und der Kaiser gab das erste Beispiel dazu; aber einem jeden war bekannt, daß dem Alten an vielem die Schuld gegeben wurde und daß er zu nichts taugte. Als auf dem Ball Kutusow nach dem alten, aus der Zeit der Kaiserin Katharina stammenden Brauch beim Eintritt des Kaisers in den Ballsaal ihm die erbeuteten Feldzeichen zu Füßen legen ließ, runzelte der Kaiser unfreundlich die Stirn und sprach ein paar Worte vor sich hin, die manche als »Alter Komödiant!« verstanden.

Die Unzufriedenheit des Kaisers mit Kutusow wuchs in Wilna noch namentlich dadurch, daß Kutusow die Bedeutung des bevorstehenden Feldzuges offenbar nicht begreifen wollte oder nicht begreifen konnte.

Als am Vormittag des folgenden Tages der Kaiser zu den bei ihm versammelten Offizieren die Äußerung tat: »Sie haben nicht nur Rußland gerettet, Sie haben Europa gerettet«, da sagten sich bereits alle, daß der Krieg noch nicht beendet war.

Kutusow war der einzige, der das nicht begreifen wollte; er sprach offen seine Meinung dahin aus, ein neuer Krieg könne Rußlands Lage nicht verbessern und seinen Ruhm nicht erhöhen; er könne nur seine Lage verschlechtern und es von der hohen Stufe des Ruhmes herabziehen, auf der es jetzt stehe. Er bemühte sich, dem Kaiser die Unmöglichkeit der Aufbringung neuer Truppen zu beweisen; er sprach von der schwierigen Lage der Bevölkerung, von der Möglichkeit eines Mißerfolges usw.[315]

Bei solcher Denkart erschien der Feldmarschall naturgemäß nur als Hindernis und Hemmschuh für den bevorstehenden Krieg.

Zur Vermeidung von Zusammenstößen mit dem Alten fand sich von selbst ein Ausweg, der darin bestand, daß, wie bei Austerlitz und wie es am Anfang des Feldzuges mit Barclay geschehen war, dem Oberkommandierenden, ohne ihn durch einen Gewaltakt in Aufregung zu versetzen und ohne ihm darüber eine Erklärung zu geben, der Boden der Befehlsgewalt, auf dem er stand, unter den Füßen weggezogen und diese Befehlsgewalt dem Kaiser selbst übertragen wurde.

Zu diesem Zweck wurde der Stab allmählich umgestaltet, die ganze sachliche Bedeutung des Kutusowschen Stabes auf ein Nichts reduziert und auf den Kaiser übertragen. Toll, Konownizyn und Jermolow erhielten andere Stellungen. Alle sagten laut, der Feldmarschall sei recht schwach geworden und seine Gesundheit zerrüttet.

Seine Gesundheit mußte schwach sein, damit man seine Stelle dem geben konnte, der ihn ersetzen sollte. Und seine Gesundheit war auch wirklich schwach.

Wie es sich ganz natürlich und einfach und allmählich gemacht hatte, daß Kutusow aus der Türkei nach Petersburg in den Kameralhof gekommen war, um die Landwehr zu organisieren, und dann zur Armee, gerade in dem Augenblick, als er dort notwendig war, genau ebenso natürlich, allmählich und einfach machte es sich jetzt, wo Kutusows Rolle ausgespielt war, daß an seinen Platz ein neuer Mann trat, ein Mann, wie ihn die Zeit verlangte.

Der Krieg von 1812 sollte außer seiner nationalen, jedem russischen Herzen teuren Bedeutung auch noch eine andere, europäische Bedeutung haben.

Der Bewegung der Völker von Westen nach Osten sollte eine[316] Bewegung der Völker von Osten nach Westen folgen, und für diesen neuen Krieg war ein neuer Feldherr erforderlich, der andere Eigenschaften und Anschauungen besaß als Kutusow und sich von anderen Beweggründen leiten ließ.

Alexander I. war für die Bewegung der Völker vom Osten nach dem Westen und für die Wiederherstellung der Grenzen der Reiche ebenso notwendig, wie Kutusow für die Rettung und den Ruhm Rußlands notwendig gewesen war.

Kutusow hatte kein Verständnis für die Bedeutung der Worte: Europa, Gleichgewicht, Napoleon. Er konnte kein Verständnis dafür haben. Der Repräsentant des russischen Volkes, der Russe, hatte, nachdem der Feind vernichtet, Rußland befreit war und die höchste Stufe seines Ruhmes erreicht hatte, als Russe nichts mehr zu tun. Dem Repräsentanten des Nationalkrieges blieb nun nichts weiter übrig als zu sterben. Und er starb.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 4, S. 314-317.
Lizenz:
Kategorien: