XIII

[317] Pierre empfand, wie das meistens so zu gehen pflegt, die ganze Schwere der physischen Entbehrungen und Anstrengungen, die er in der Gefangenschaft durchgemacht hatte, erst, als diese Anstrengungen und Entbehrungen ein Ende genommen hatten. Nach seiner Befreiung aus der Gefangenschaft reiste er nach Orjol, wurde am dritten Tag nach seiner Ankunft, als er sich gerade anschickte, nach Kiew zu fahren, krank und mußte in Orjol drei Monate lang das Bett hüten; er hatte, wie die Ärzte sagten, das Gallenfieber. Trotzdem ihn die Ärzte behandelten, ihn zur Ader ließen und ihm allerlei Medizin zu trinken gaben, wurde er dennoch wieder gesund.

Alles, was ihm in der Zeit von seiner Befreiung bis zu seiner Krankheit begegnet war, hatte bei ihm fast gar keinen Eindruck[317] zurückgelassen. Er erinnerte sich nur an das feuchte, trübe Wetter, bald mit Regen, bald mit Schnee, an eine innerliche physische Mattigkeit, einen Schmerz in den Beinen und in der Seite; er erinnerte sich an den allgemeinen Eindruck, den der Anblick so vielen menschlichen Unglücks und Leidens auf ihn gemacht hatte; er erinnerte sich an die ihm lästige Neugier der Offiziere und Generale, die ihn nach allerlei befragten, an die Mühe, die er gehabt hatte, einen Wagen und Pferde aufzutreiben, und ganz besonders erinnerte er sich an seine damalige Unfähigkeit zu denken und zu fühlen. Am Tage seiner Befreiung hatte er Petja Rostows Leiche gesehen. An demselben Tag hatte er erfahren, daß Fürst Andrei nach der Schlacht bei Borodino noch länger als einen Monat gelebt und erst kürzlich in Jaroslawl bei Rostows gestorben sei. An demselben Tag hatte Denisow, der ihm diese Nachricht mitgeteilt hatte, im Gespräch auch des Todes Helenens gedacht, von dem er voraussetzte, daß er Pierre schon längst bekannt sei. All dies war Pierre damals nur sonderbar erschienen; er hatte das Gefühl gehabt, daß er nicht imstande sei, die Bedeutung aller dieser Nachrichten zu begreifen. Er hatte sich damals beeilt, nur so schnell wie möglich aus den Gegenden, wo die Menschen einander töteten, wegzufahren nach irgendeinem stillen Zufluchtsort und dort seine Gedanken zu sammeln, sich zu erholen und all das Neue und Seltsame zu durchdenken, was er in dieser Zeit erfahren hatte. Aber sowie er nach Orjol gekommen war, war er krank geworden. Als er von seiner Krankheit wieder zur Besinnung kam, sah er zwei seiner Leute um sich, die aus Moskau gekommen waren, Terenti und Wasili, sowie die älteste Prinzessin, die in Jelez, auf einem Gut Pierres, wohnte und auf die Nachricht von seiner Befreiung und seiner Krankheit zu ihm gereist war, um ihn zu pflegen.

Während seiner Genesung entwöhnte sich Pierre nur allmählich[318] von der ihm bereits zur Gewohnheit gewordenen Lebensweise der letzten Monate und gewöhnte sich wieder daran, daß ihn am Morgen niemand weitertrieb, daß ihm niemand sein warmes Bett wegnahm und daß ihm mit Sicherheit sein Mittagessen, sein Tee und sein Abendessen bevorstand. Aber im Traum sah er sich noch lange als Gefangenen mit jener ganzen Umgebung. Ebenso allmählich gelangte Pierre zum Verständnis jener Nachrichten, die er nach seiner Befreiung aus der Gefangenschaft erfahren hatte: vom Tod des Fürsten Andrei, vom Tod seiner Frau, von der Vernichtung der Franzosen.

Das frohe Gefühl der Freiheit, jener vollen, unentreißbaren, dem Menschen innewohnenden Freiheit, deren er sich zum erstenmal nach dem Ausmarsch aus Moskau am ersten Rastort bewußt geworden war, erfüllte Pierres Seele während seiner Rekonvaleszenz. Er wunderte sich darüber, daß diese innerliche, von äußeren Umständen unabhängige Freiheit sich jetzt wie zum Überfluß und zum Luxus noch mit einer äußerlichen Freiheit umgab. Er war allein in der fremden Stadt, ohne Bekannte. Niemand verlangte etwas von ihm; nirgends lud man ihn ein. Alles, was er wünschte, hatte er; der Gedanke an seine Frau, der ihn früher fortwährend gepeinigt hatte, war in seinem Kopf nicht mehr vorhanden, da auch sie selbst nicht mehr existierte.

»Ach, wie schön, wie herrlich!« sagte er zu sich, wenn man ihm den sauber gedeckten Tisch mit der appetitlich riechenden Bouillon heranrückte, oder wenn er sich am Abend in sein weiches, reines Bett legte, oder wenn er sich erinnerte, daß seine Frau und die Franzosen nicht mehr waren. »Ach, wie schön, wie herrlich!«

Und nach alter Gewohnheit stellte er sich die Frage: »Nun, und was jetzt? Was werde ich jetzt tun?« Und sogleich gab er sich selbst die Antwort: »Nichts. Ich werde leben. Ach, wie herrlich!«

Das, womit er sich früher gequält hatte, was er beständig gesucht[319] hatte, nämlich ein Lebensziel, existierte jetzt für ihn gar nicht. Nicht in dem Sinne, daß dieses gesuchte Lebensziel nur jetzt augenblicklich für ihn zufällig nicht existiert hätte, sondern er fühlte, daß es ein solches Lebensziel nicht gab und nicht geben konnte. Und gerade dieses Fehlen eines Lebenszieles verlieh ihm jenes volle, freudige Bewußtsein der Freiheit, das ihn jetzt beglückte. Er konnte kein Lebensziel haben, weil er jetzt den Glauben hatte, nicht den Glauben an irgendwelche Grundsätze oder Worte oder Ideen, sondern den Glauben an den lebendigen, stets zu fühlenden Gott. Vorher hatte er Ihn in Zielen gesucht, die er sich selbst gesetzt hatte. Dieses Suchen nach einem Ziel war nur ein Suchen nach Gott gewesen. Und plötzlich hatte er in seiner Gefangenschaft nicht durch Worte, nicht durch Vernunftschlüsse, sondern durch das unmittelbare Gefühl das erkannt, was ihm schon vor langer Zeit die Kinderfrau gesagt hatte, daß Gott hier und da und überall sei. Er hatte in der Gefangenschaft erkannt, daß Gott in Karatajew größer, unendlicher und unbegreiflicher sei als in dem Baumeister des Weltalls, von dem die Freimaurer redeten. Es war ihm zumute wie jemandem, der das, was er sucht, dicht neben sich vor seinen Füßen findet, nachdem er lange seine Sehkraft angestrengt hat, um in die Ferne zu blicken. Er hatte sein ganzes Leben lang hierhin und dorthin gespäht, über die Köpfe der ihn umgebenden Menschen weg, und das Richtige wäre gewesen, ohne besondere Anstrengung der Augen einfach vor sich hin zu schauen.

Er hatte es vorher nicht verstanden, in irgend etwas das Große, Unbegreifliche und Unendliche zu sehen. Er hatte nur gefühlt, daß es irgendwo sein müsse, und nach ihm gesucht. In allem Nahen, Begreiflichen hatte er nur das Begrenzte, Kleinliche, Irdische, Sinnlose gesehen. Er hatte sich mit einem geistigen[320] Fernrohr bewaffnet und in die Ferne geschaut, dahin, wo dieses Kleinliche, Irdische, in den Nebel der Ferne gehüllt, ihm groß und unendlich erschien, nur weil es nicht deutlich sichtbar war. So war ihm das westeuropäische Leben, die Politik, die Freimaurerei, die Philosophie, die Philanthropie erschienen. Aber auch in jene Ferne war damals, in den Augenblicken, die er seine Schwäche nannte, sein Geist eingedrungen, und er hatte dort dasselbe Kleinliche, Irdische, Sinnlose gesehen. Jetzt aber hatte er gelernt, das Große, Ewige und Unendliche in allem zu sehen, und warf darum ganz natürlich, um es zu sehen und seinen Anblick zu genießen, jenes Fernrohr weg, durch das er bisher über die Köpfe der Menschen hinweggesehen hatte, und betrachtete freudig um sich herum das ewig sich verändernde, ewig große, unbegreifliche und unendliche Leben. Und in je größerer Nähe er sich die Gegenstände für sein Schauen wählte, um so ruhiger und glücklicher wurde er. Die furchtbare Frage nach dem Warum, die früher alle Bauwerke seines Verstandes zerstört hatte, existierte jetzt für ihn nicht mehr. Jetzt hatte er für diese Frage nach dem Warum in seiner Seele immer die einfache Antwort bereit: weil es einen Gott gibt, jenen Gott, ohne dessen Willen kein Haar von eines Menschen Haupt fällt.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 4, S. 317-321.
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