V

[283] In den Jahren 1812 und 1813 beschuldigte man Kutusow geradezu, grobe Fehler begangen zu haben. Der Kaiser war mit ihm unzufrieden. Und in einem Geschichtswerk, das unlängst auf Allerhöchsten Befehl verfaßt worden ist, wird gesagt, Kutusow[283] sei ein schlauer, höfischer Lügner gewesen, der vor dem Namen Napoleon Angst gehabt und durch seine Fehler bei Krasnoje und an der Beresina die russischen Truppen des Ruhmes einer völligen Besiegung der Franzosen beraubt habe.1

Das ist das Schicksal nicht der »großen Männer« von der Art, wie sie der russische Verstand nicht anerkennt, sondern das Schicksal jener seltenen, immer einsam dastehenden Männer, die, den Willen der Vorsehung erkennend, ihm ihren eigenen, persönlichen Willen unterordnen. Haß und Geringschätzung seitens der Menge sind die Strafe dieser Männer dafür, daß sie für die höchsten Gesetze Verständnis gehabt haben.

Für die russischen Geschichtsschreiber (es ist sonderbar und schrecklich zu sagen) ist Napoleon, dieses nichtigste aller Werkzeuge der Geschichte, dieser Mann, der nie und nirgends, nicht einmal in der Verbannung etwas von Menschenwürde hat blicken lassen, Napoleon ist für sie ein Gegenstand des Entzückens und der Begeisterung; er ist »ein großer Mann«. Kutusow dagegen, der vom Anfang bis zum Ende seiner Tätigkeit im Jahre 1812, von Borodino bis Wilna, kein einziges Mal, durch keine Handlung und kein Wort sich selbst untreu wurde, der ein in der Geschichte seltenes Beispiel von Selbstverleugnung und von der Fähigkeit, in der Gegenwart die zukünftige Bedeutung eines Ereignisses zu erkennen, bietet, Kutusow wird von ihnen als ein unschlüssiger, kläglicher Mensch geschildert, und wenn sie von Kutusow und dem Jahr 1812 reden, so klingt es immer, als schämten sie sich ein bißchen.

Und doch ist es schwer, eine historische Persönlichkeit zu finden, deren Tätigkeit mit solcher Unwandelbarkeit beständig auf dasselbe[284] Ziel gerichtet gewesen wäre. Es ist schwer, ein würdigeres und in höherem Grad mit dem Willen der ganzen Nation im Einklang befindliches Ziel zu ersinnen. Noch schwerer ist es, in der Geschichte ein zweites Beispiel zu finden, wo das Ziel, das sich eine historische Persönlichkeit gesetzt hat, in einer so vollkommenen Weise erreicht worden wäre wie das Ziel, auf dessen Erreichung die gesamte Tätigkeit Kutusows im Jahre 1812 gerichtet war.

Kutusow sprach nie von vierzig Jahrhunderten, die von den Pyramiden herabsähen, von den Opfern, die er dem Vaterland bringe, von dem, was er zu vollbringen beabsichtige oder schon vollbracht habe; er sprach überhaupt nicht über sich, er schauspielerte nicht, er erschien stets als ein ganz einfacher, gewöhnlicher Mensch und redete die einfachsten, gewöhnlichsten Dinge. Er schrieb Briefe an seine Töchter und an Madame Stahl, las Romane, liebte die Gesellschaft schöner Frauen, scherzte mit den Generalen, den Offizieren und Soldaten und widersprach niemals denen, die ihm etwas beweisen wollten. Als Graf Rastoptschin auf der Jauski-Brücke zu Kutusow herangefahren kam und ihm den persönlichen Vorwurf machte, er sei an dem Untergang Moskaus schuld, und sagte: »Sie haben ja doch versprochen, Moskau nicht preiszugeben, ohne eine Schlacht geliefert zu haben!«, da antwortete Kutusow: »Ich werde auch Moskau nicht ohne Schlacht preisgeben«, obwohl Moskau bereits preisgegeben war. Als Araktschejew im Auftrag des Kaisers zu ihm kam und sagte, man müsse Jermolow zum Befehlshaber der Artillerie ernennen, antwortete Kutusow: »Das habe ich selbst soeben gesagt«, obgleich er einen Augenblick vorher etwas ganz anderes gesagt hatte. Was machte er sich daraus, er, der inmitten der verständnislosen, ihn umgebenden Menge der einzige war, der damals die ganze gewaltige Bedeutung jenes Ereignisses begriff,[285] was machte er sich daraus, ob Graf Rastoptschin das Unglück der Hauptstadt sich selbst oder ihm zur Last legte? Und noch weniger interessierte es ihn, wer zum Befehlshaber der Artillerie ernannt wurde.

Dieser alte Mann war durch die Erfahrung seines Lebens zu der Überzeugung gelangt, daß nicht Gedanken und die zu ihrem Ausdruck dienenden Worte es sind, wodurch die Menschen in Bewegung gesetzt werden, und so sprach er denn nicht nur in den oben genannten Fällen, sondern fortwährend ganz sinnlose Worte, die ersten besten, die ihm einfielen.

Aber dieser selbe Mann, der mit seinen Worten so lässig umging, hat während seiner ganzen Tätigkeit kein einziges Mal ein Wort gesagt, das nicht mit jenem einzigen Ziel in Übereinstimmung gewesen wäre, nach dessen Erreichung im ganzen Verlauf des Krieges sein Streben ging. Mit sichtlichem Widerstreben, mit der schmerzlichen Überzeugung, daß man ihn doch nicht verstehen werde, sprach er wiederholentlich unter den verschiedensten Umständen seinen Gedanken aus. Um mit der Schlacht bei Borodino zu beginnen, mit welcher seine Mißhelligkeiten mit seiner Umgebung ihren Anfang nahmen, so war er der einzige, welcher sagte, die Schlacht bei Borodino sei ein Sieg; und dies hat er sowohl mündlich als auch in seinen Rapporten und Berichten bis an sein Lebensende wiederholt. Er war der einzige, welcher sagte, der Verlust Moskaus sei nicht der Verlust Rußlands. Auf Lauristons Friedensanerbietungen antwortete er, ein Friede sei unmöglich; so denke das ganze Volk. Er allein sagte während des Rückzuges der Franzosen, alle unsere Manöver seien unnötig; alles mache sich ganz von selbst besser, als wir es nur wünschen könnten; man müsse dem Feind eine goldene Brücke bauen; weder die Schlacht bei Tarutino noch die bei Wjasma noch die bei Krasnoje sei nötig gewesen; man müsse noch Truppen haben,[286] wenn man an die Grenze komme; für zehn Franzosen gebe er noch keinen einzigen Russen hin.

Und er allein, dieser Höfling, wie man ihn uns darstellt, er, der angeblich Araktschejew belog, in der Absicht, dem Kaiser zu gefallen, er allein, dieser Höfling, sagte in Wilna, obgleich er sich dadurch die Ungnade des Kaisers zuzog, eine weitere Kriegführung im Ausland sei nutzlos und schädlich.

Aber seine Aussprüche allein würden nicht beweisen, daß er damals die Bedeutung des Ereignisses erfaßte. Seine Taten, alle ohne die geringste Abweichung, sind sämtlich auf ein und dasselbe dreifache Ziel gerichtet: erstens, alle seine Kräfte zum Zweck eines Zusammenstoßes mit den Franzosen anzuspannen; zweitens, sie zu besiegen, und drittens, sie aus Rußland zu vertreiben, unter möglichster Erleichterung der Leiden des Volkes und des Heeres.

Er, dieser Zauderer Kutusow, dessen Devise Geduld und Zeit war, der Feind alles entschiedenen Handelns, er lieferte die Schlacht bei Borodino, nachdem er die Vorbereitungen zu ihr mit einer beispiellosen Feierlichkeit ausgestattet hatte. Er, dieser Kutusow, der bei der Schlacht bei Austerlitz vor dem Beginn derselben sagte, sie werde verloren werden, er behauptete bei Borodino, trotzdem die Generale versicherten, die Schlacht sei verloren, und obwohl man nie von einem Beispiel dafür gehört hat, daß ein Heer sich nach einer gewonnenen Schlacht hätte zurückziehen müssen, er allein behauptete im Gegensatz zu allen bis zu seinem Lebensende, die Schlacht bei Borodino sei ein Sieg. Er allein bestand während des ganzen Rückzuges der Franzosen darauf, keine Schlachten zu liefern, da sie nun nutzlos seien, und keinen neuen Krieg zu beginnen und die Grenzen Rußlands nicht zu überschreiten.

Die Bedeutung jenes Ereignisses zu verstehen, ist heutzutage[287] (wenn man nur nicht der Tätigkeit der Massen Ziele unterschiebt, die nur in den Köpfen von etwa einem Dutzend Menschen existierten) eine leichte Sache, da das ganze Ereignis mit seinen Folgen klar vor uns liegt.

Aber auf welche Weise vermochte es damals dieser alte Mann, allein, im Widerspruch zu der Meinung aller, die Bedeutung der bei diesem Ereignis sich äußernden nationalen Idee mit solcher Sicherheit zu er kennen, daß er dieser Idee auch nicht ein einziges Mal während seiner ganzen Tätigkeit untreu wurde?

Die Quelle dieser ungewöhnlichen Einsicht in den Sinn dessen, was sich da vollzog, lag in jenem nationalen Empfinden, das er in seiner ganzen Reinheit und Kraft in sich trug.

Nur durch die Erkenntnis, daß dieses Empfinden in Kutusow lebendig war, wurde das Volk veranlaßt, auf so seltsame Weise den in Ungnade gefallenen alten Mann gegen den Willen des Zaren zum Repräsentanten des Nationalkrieges zu erwählen. Und nur dieses Empfinden war es, was ihn auf jene höchste Höhe des Menschentums stellte, von der herab er als Oberkommandierender alle seine Kräfte nicht darauf richtete, Menschen zu töten und zu vernichten, sondern sie zu retten und zu schonen.

Diese schlichte, bescheidene und darum wahrhaft majestätische Gestalt ließ sich nicht in jene lügenhafte Form eines europäischen Heros, eines vermeintlichen Lenkers der Menschen bringen, in jene Form, die die Geschichtsschreibung ersonnen hat.

Für einen Lakaien kann es keinen wahrhaft großen Mann geben, weil ein Lakai seinen eigenen Begriff von Größe hat.

Fußnoten

1 Vgl. in Bogdanowitschs Geschichte des Jahres 1812 die Charakteristik Kutusows und die Erörterung über die unbefriedigenden Resultate der Kämpfe bei Krasnoje.

Anmerkung des Verfassers.


Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 4, S. 283-288.
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