XVIII

[282] Als Pierre nach Hause zurückkehrte, wurden ihm zwei Rastoptschinsche Flugblätter überreicht, die an diesem Tag erschienen waren.

In dem ersten war gesagt, das Gerücht, Graf Rastoptschin habe verboten, daß die Einwohner Moskau verließen, sei unwahr; im Gegenteil freue sich Graf Rastoptschin darüber, daß die adligen Damen und Kaufmannsfrauen aus Moskau wegreisten; es werde nun weniger Furcht und weniger Neuigkeitskrämerei in der Stadt geben. Dann hieß es in dem Flugblatt weiter: »Aber ich verbürge mich mit meinem Kopf dafür, daß der Bösewicht nicht nach Moskau hineingelangen wird.« Aus diesen Worten ersah Pierre zum erstenmal klar, daß die Franzosen in Moskau einziehen würden. Im zweiten Flugblatt wurde mitgeteilt, unser Hauptquartier befinde sich in Wjasma; Graf Wittgenstein habe die Franzosen besiegt; aber da viele Einwohner den Wunsch hätten, sich zu bewaffnen, so würden für sie im Zeughaus Waffen bereitgehalten: Säbel, Pistolen, Gewehre; diese würden den Einwohnern für billigen Preis abgelassen. Der Ton dieser Flugblätter war nicht mehr so scherzhaft wie in den früheren Gesprächen Tschigirins. Pierre wurde durch diese Flugblätter sehr nachdenklich gestimmt. Die furchtbare Gewitterwolke, die er mit aller Kraft seiner Seele herbeirief und die ihn zugleich unwillkürlich mit Schrecken erfüllte, rückte offenbar näher.

»Soll ich in den Militärdienst eintreten und zur Armee gehen oder abwarten?« Diese Frage legte sich Pierre zum hundertstenmal vor. Er nahm ein Spiel Karten, das in seinem Zimmer auf dem Tisch lag, und schickte sich an, Patience zu legen.

»Wenn diese Patience aufgeht«, sagte er zu sich selbst, als er die Karten gemischt hatte und sie nun in der Hand hielt und nach[283] oben sah, »wenn sie aufgeht, so bedeutet das ... ja, was bedeutet das?«

Er war sich noch nicht darüber schlüssig geworden, was das bedeuten sollte, als er vor der Tür seines Zimmers die Stimme der ältesten Prinzessin hörte, welche fragte, ob sie hereinkommen dürfe.

»Dann bedeutet es, daß ich zur Armee gehen soll«, beendete Pierre seine Überlegung. »Herein, herein!« rief er dann, sich nach der Prinzessin hinwendend.

Nur die älteste Prinzessin, die mit der langen Taille und dem versteinerten Gesicht, lebte noch in Pierres Haus; die beiden jüngeren hatten sich verheiratet.

»Verzeihen Sie, Kusin, daß ich zu Ihnen komme«, sagte sie aufgeregt und in vorwurfsvollem Ton. »Wir müssen doch endlich einen bestimmten Entschluß fassen. Was soll denn nun mit uns eigentlich werden? Die ganze bessere Gesellschaft hat Moskau verlassen, und das Volk rebelliert. Warum bleiben wir denn noch hier?«

»Im Gegenteil, es scheint ja doch alles gut zu stehen, liebe Kusine«, erwiderte – Pierre mit jener gewohnheitsmäßigen Scherzhaftigkeit, die er sich im Verkehr mit ihr zu eigen gemacht hatte, da es ihn der Prinzessin gegenüber immer verlegen machte, die Rolle eines Wohltäters zu spielen.

»Jawohl, gut zu stehen! Wenn Sie das ›gut stehen‹ nennen! Mir hat Warwara Iwanowna heute erst erzählt, was für Heldentaten unsere Truppen verrichten! Geradezu stolz kann man darauf sein! Und auch das Volk ist schon ganz rebellisch geworden und gehorcht nicht mehr; sogar mein Mädchen fängt an grob zu werden. Auf die Art wird es bald dahin kommen, daß sie uns prügeln. Auf den Straßen kann man schon gar nicht mehr gehen. Und was die Hauptsache ist: heute oder morgen[284] werden die Franzosen kommen; worauf warten wir da noch? Ich habe nur die eine Bitte, Kusin«, sagte die Prinzessin, »ordnen Sie an, daß ich nach Petersburg fahren kann; mag ich im übrigen sein, wie ich will, aber unter der Herrschaft Bonapartes zu leben, dazu bin ich nicht imstande.«

»Aber beruhigen Sie sich doch, liebe Kusine! Woher schöpfen Sie denn Ihre Nachrichten? Im Gegenteil ...«

»Ich für meine Person unterwerfe mich Ihrem Napoleon nicht. Mögen andere Leute tun, was sie wollen ... Wenn Sie das nicht anordnen wollen ...«

»Aber ich will es ja tun; ich werde sofort Befehl geben.«

Die Prinzessin war offenbar ärgerlich, daß sie nun niemand hatte, auf den sie zornig sein konnte. Etwas vor sich hinflüsternd, setzte sie sich auf einen Stuhl.

»Aber Sie sind da falsch berichtet«, sagte Pierre. »In der Stadt ist alles ruhig, und es ist keinerlei Gefahr vorhanden. Sehen Sie, hier habe ich es diesen Augenblick gelesen.« Pierre zeigte der Prinzessin die Flugblätter. »Der Graf schreibt, er verbürge sich mit seinem Kopf dafür, daß der Feind nicht nach Moskau hineingelangen werde.«

»Ach, Ihr Graf, dieser Graf!« begann die Prinzessin heftig, »dieser Heuchler, dieser Bösewicht, der selbst das Volk zur Rebellion angestiftet hat! Hat er nicht in diesen dummen Flugblättern geschrieben, man solle jeden Verdächtigen, wer er auch sei, beim Schopf nach der Polizei schleppen? Solche Dummheit! Wer einen solchen festnehme, dem solle Ehre und Ruhm zuteil werden. Soweit treibt er die Liebenswürdigkeit gegen das Volk! Warwara Iwanowna hat mir gesagt, das Volk hätte sie beinahe totgeschlagen, weil sie auf der Straße französisch gesprochen habe ...«

»Ja, das ist nun einmal nicht anders ... Aber Sie nehmen sich[285] alles zu sehr zu Herzen«, sagte Pierre und begann seine Patience zu legen.

Trotzdem die Patience aufging, begab sich Pierre nicht zur Armee, sondern blieb in dem leer gewordenen Moskau, immer in derselben Unruhe und Unentschlossenheit, und erwartete mit einem aus Furcht und Freude gemischten Gefühl den Eintritt von irgend etwas Schrecklichem.

Am nächsten Tag gegen Abend reiste die Prinzessin ab, und zu Pierre kam sein Oberadministrator mit der Nachricht, das Geld, das Pierre zur Ausrüstung seines Regiments verlangt habe, könne nur dadurch beschafft werden, daß eines der Güter verkauft werde. Überhaupt stellte ihm der Oberadministrator vor, daß dieser ganze Aufwand für das Regiment ihn mit Notwendigkeit ruinieren werde. Pierre verbarg, während er die Darlegung seines Beamten anhörte, nur mit Mühe ein Lächeln.

»Nun, dann muß es eben verkauft werden«, antwortete er. »Was ist zu machen? Zurücktreten kann ich jetzt nicht!«

Je schlechter sich die Lage aller Dinge und speziell seiner eigenen Verhältnisse gestaltete, um so mehr freute sich Pierre; denn um so deutlicher war es, daß die von ihm erwartete Katastrophe herannahte. Es war jetzt fast niemand von Pierres Bekannten mehr in der Stadt. Julja war abgereist, desgleichen Prinzessin Marja. Von seinen näheren Bekannten waren nur Rostows dageblieben; aber diese besuchte Pierre nicht.

An diesem Tag fuhr er, in der Absicht sich zu zerstreuen, nach dem Dorf Woronzowo, um sich einen großen Luftballon anzusehen, welchen der Mechaniker Leppich zur Vernichtung des Feindes baute, sowie einen Probeballon, der am folgenden Tag aufgelassen werden sollte. Der große Ballon war noch nicht fertig; aber er wurde, wie Pierre erfuhr, auf Wunsch des Kaisers[286] gebaut. Der Kaiser hatte über diesen Luftballon an den Grafen Rastoptschin folgendes geschrieben:

»Sobald Leppich fertig sein wird, bilden Sie ihm für seine Gondel eine Bemannung aus zuverlässigen, intelligenten Leuten, und schicken Sie einen Kurier an den General Kutusow, um ihn zu benachrichtigen. Ich habe ihm bereits von der Sache Kenntnis gegeben. Bitte, schärfen Sie Leppich ein, recht achtsam auf den Ort zu sein, wo er sich das erstemal niederläßt, damit er sich nicht irrt und nicht den Feinden in die Hände fällt. Unter allen Umständen muß er bei seinen Bewegungen sich mit dem General en chef im Einverständnis halten.«

Als Pierre auf dem Rückweg von Woronzowo über den Bolotnaja-Platz gefahren war, sah er bei der Richtstätte eine Menge Menschen, hielt an und stieg aus dem Wagen. Es hatte die Auspeitschung eines der Spionage beschuldigten französischen Koches stattgefunden. Die Exekution war soeben beendigt, und der Henker band einen kläglich stöhnenden, dicken Mann mit rötlichem Backenbart, in blauen Strümpfen, von der Bank los; neben dem Gezüchtigten lag dessen grünes Kamisol. Ein anderer Delinquent, ein hagerer, blasser Mensch, stand ebendort. Beide waren, nach ihren Gesichtern zu urteilen, Franzosen. Mit nicht minder angstvollem, schmerzlich verzerrtem Gesicht, wie das des hageren Franzosen war, drängte sich Pierre durch die Menge.

»Was geht hier vor? Wer ist das? Wofür wird er bestraft?« fragte er.

Aber die Aufmerksamkeit der Menge, die aus Beamten, Kleinbürgern, Kaufleuten, Bauern und Frauen in Pelerinen und Pelzen bestand, richtete sich mit solchem Eifer auf das, was auf der Richtstätte vorging, daß ihm niemand Antwort gab. Der dicke Mann erhob sich, zog mit finsterem Gesicht die Schultern zusammen und begann, offenbar bestrebt seine Festigkeit zu[287] zeigen, ohne um sich zu blicken, sein Kamisol anzuziehen; aber plötzlich fingen ihm die Lippen an zu zucken, und er weinte los, indem er sich über seinen eigenen Mangel an Selbstbeherrschung ärgerte, so wie erwachsene, sanguinische Menschen zu weinen pflegen. Die Menge begann laut zu sprechen: wie es Pierre vorkam, um in sich selbst das Gefühl des Mitleids zu übertäuben.

»Es ist der Koch eines Fürsten ...«

»Nun, Musje, die russische Sauce schmeckt, wie es scheint, den Franzosen zu sauer ... du hast wohl stumpfe Zähne davon bekommen?« fragte ein neben Pierre stehender runzliger Kanzlist, als der Franzose weinte.

Der Kanzlist blickte sich um, offenbar in Erwartung einer beifälligen Aufnahme seines Scherzes. Einige lachten; andere fuhren fort, ängstlich nach dem Henker hinzublicken, der den zweiten entkleidete.

Pierre schnaufte mehrmals durch die Nase, runzelte die Stirn, drehte sich schnell um und ging zu seinem Wagen zurück; während des Gehens und Einsteigens brummte er unaufhörlich etwas vor sich hin. Bei der Weiterfahrt zuckte er mehrmals zusammen und schrie so laut auf, daß der Kutscher ihn fragte:

»Was befehlen Sie?«

»Wohin fährst du denn?« schrie Pierre den Kutscher an, als dieser auf den Lubjanskaja-Platz fuhr.

»Sie haben befohlen zum Oberkommandierenden«, antwortete der Kutscher.

»Dummkopf! Rindvieh!« beschimpfte Pierre seinen Kutscher, was bei ihm nur selten vorkam. »Nach Hause habe ich befohlen; und fahr schneller, du Tölpel!«

»Noch heute muß ich abreisen«, sprach Pierre vor sich hin.

Beim Anblick des gezüchtigten Franzosen und der Menge, die die Richtstätte umdrängte, hatte er sich mit solcher Entschiedenheit[288] gesagt, er könne nicht länger in Moskau bleiben und müsse heute noch zur Armee abgehen, daß es ihm schien, er habe entweder dem Kutscher schon davon gesagt, oder dieser müsse es von selbst wissen.

Als Pierre nach Hause gekommen war, teilte er seinem Oberkutscher Ewstafjewitsch, der alles wußte, alles verstand und in Moskau eine allbekannte Persönlichkeit war, mit, daß er diese Nacht nach Moschaisk zur Armee abreisen werde, und befahl ihm, seine Reitpferde dorthin zu schicken. Indessen konnte alles dies an diesem Tag nicht mehr zur Ausführung gebracht werden, und daher mußte Pierre auf Ewstafjewitschs Vorstellungen hin seine Abreise auf den folgenden Tag verschieben, um den Relaispferden Zeit zu lassen, sich vorher auf den Weg zu machen.

Am 24. August klärte sich das bisher schlechte Wetter auf, und am Nachmittag dieses Tages reiste Pierre aus Moskau ab. Als er in der Nacht in Perchuschkowo die Pferde wechselte, erfuhr er, daß an diesem Abend ein großer Kampf stattgefunden habe. Man erzählte ihm, hier in Perchuschkowo habe die Erde von dem Kanonendonner gezittert. Auf Pierres Frage, wer gesiegt habe, konnte ihm niemand eine Antwort geben. (Es war dies das Treffen vom 24. bei Schewardino.) Bei Tagesanbruch näherte sich Pierre dem Städtchen Moschaisk.

In allen Häusern von Moschaisk waren Truppen einquartiert, und in der Herberge, wo Pierre von seinem Reitknecht und seinem Kutscher empfangen wurde, war in den Zimmern kein Platz; alles war voll von Offizieren.

In Moschaisk und hinter Moschaisk standen und marschierten überall Truppen. Auf allen Seiten erblickte man Infanterie, Kavallerie, namentlich Kosaken, Trainfuhrwerke, Munitionswagen und Kanonen. Pierre beeilte sich, möglichst schnell mit seinem Wagen vorwärtszukommen, und je weiter er sich von Moskau[289] entfernte und je tiefer er in dieses Truppenmeer eindrang, um so mehr bemächtigte sich seiner eine unruhige Erregung und ein neues, ihm noch unbekanntes, freudiges Gefühl. Es war ein Gefühl ähnlich dem, welches er im Slobodski-Palais bei der Ankunft des Kaisers empfunden hatte, ein Gefühl, als müsse er notwendig etwas unternehmen und etwas zum Opfer bringen. Mit einer angenehmen Empfindung wurde er sich bewußt, daß alles, worin die Menschen ihr Glück suchen, Lebensgenüsse, Reichtum, ja das Leben selbst, im Vergleich zu etwas anderem nur wertloser Kehricht sei, den man mit Vergnügen wegwerfen könne. Über dieses andere, Höhere konnte sich Pierre freilich keine Rechenschaft geben, und er versuchte auch gar nicht; darüber ins klare zu kommen, für wen und für was alle erdenklichen Opfer zu bringen ihm so besonders reizvoll erschien. Es beschäftigte seine Gedanken nicht dasjenige, für das er Opfer bringen wollte, sondern es war ihm das Opferbringen selbst ein neues, frohes Gefühl.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 3, S. 282-290.
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