XIX

[290] Am 24. hatte der Kampf bei der Schanze von Schewardino stattgefunden; am 25. wurde weder von der einen noch von der andern Seite auch nur ein einziger Schuß abgefeuert; am 26. fand die Schlacht bei Borodino statt.

Welchen Zweck hatte es, daß die Schlachten bei Schewardino und bei Borodino angeboten und angenommen wurden, und wie ging es dabei zu? Zu welchem Zweck wurde die Schlacht bei Borodino geliefert? Weder für die Franzosen noch für die Russen hatte sie den geringsten Sinn. Ihr nächstes Resultat war und mußte sein: für uns Russen, daß wir den Untergang Moskaus beschleunigten (den wir doch über alles in der Welt fürchteten), und für die Franzosen, daß sie den Untergang ihrer Armee beschleunigten[290] (den sie gleichfalls über alles in der Welt fürchteten). Daß dies das Resultat sein mußte, war schon damals vollkommen klar, und dennoch bot Napoleon diese Schlacht an, und Kutusow nahm sie an.

Wenn die Heerführer sich hätten durch Gründe der Vernunft leiten lassen, so hätte, möchte man meinen, es dem Kaiser Napoleon klar sein müssen, daß er nach Zurücklegung von zweitausend Werst durch die Annahme einer Schlacht, bei der er aller Wahrscheinlichkeit nach den vierten Teil seiner Armee verlieren mußte, sich in das sichere Verderben stürzte; und ebenso klar mußte es Kutusow sein, daß, wenn er eine Schlacht annahm und gleichfalls den vierten Teil seiner Armee zu verlieren riskierte, er unfehlbar den Verlust von Moskau herbeiführte. Für Kutusow war dies mathematisch sicher, so wie sicher ist, daß, wenn ich im Damespiel einen Stein weniger habe und nun anfange abzutauschen, ich die Partie verliere; ich darf eben unter solchen Umständen nicht abtauschen.

Wenn mein Gegner sechzehn Steine hat und ich vierzehn, so bin ich nur um ein Achtel schwächer als er; wenn ich dann aber dreizehn Steine abtausche, so ist er dreimal so stark wie ich.

Vor der Schlacht bei Borodino verhielten sich unsere Streitkräfte zu denen der Franzosen annähernd wie fünf zu sechs, nach der Schlacht aber wie eins zu zwei, d.h. vor der Schlacht hatten wir hunderttausend Mann gegen hundertzwanzigtausend, nach der Schlacht dagegen fünfzigtausend gegen hunderttausend. Und trotzdem nahm der kluge, erfahrene Kutusow die Schlacht an. Napoleon aber, der geniale Feldherr, wie man ihn nennt, bot diese Schlacht an, die ihn ein Viertel seiner Armee kostete, und infolge deren seine Operationslinie sich noch weiter ausdehnte. Wenn man behauptet, Napoleon habe gemeint, er werde durch die Besetzung Moskaus, wie seinerzeit durch die Besetzung Wiens,[291] den Feldzug beendigen, so lassen sich gegen diese Ansicht viele Beweise vorbringen. Erzählen doch Napoleons Geschichtsschreiber selbst, er habe schon nach der Einnahme von Smolensk haltmachen wollen, die Gefahren seiner ausgedehnten Stellung erkannt und gewußt, daß die Besetzung Moskaus nicht das Ende des Feldzuges sein werde, da er von Smolensk an gesehen habe, in welchem Zustand man ihm die russischen Städte zurückließ, und er auf die wiederholten Äußerungen seines Wunsches, in Unterhandlungen einzutreten, keine Antwort erhalten habe.

Indem Kutusow und Napoleon die Schlacht bei Borodino anboten und annahmen, handelten sie willenlos und vernunftlos. Aber die Historiker haben diesem Verfahren nachträglich, nachdem die Ereignisse sich vollzogen hatten, schlau ersonnene Gründe untergeschoben, welche als Beweise für die Voraussicht und Genialität der beiden Feldherrn dienen sollten, während diese doch in Wirklichkeit von allen willenlosen Werkzeugen der Weltereignisse die sklavischsten und willenlosesten Faktoren gewesen sind.

Die Alten haben uns meisterhafte Heldengedichte hinterlassen, in denen es die Helden sind, auf die sich das gesamte Interesse konzentriert, und wir können uns immer noch nicht an den Gedanken gewöhnen, daß für unsere Periode der Menschheitsentwicklung eine solche Geschichtsanschauung sinnlos ist.

Als Antwort auf die andere Frage, wie die Schlacht bei Borodino und die ihr vorhergehende bei Schewardino geliefert wurden, existiert gleichfalls eine sehr bestimmte und allgemein bekannte, aber völlig unrichtige Darstellung. Alle Geschichtsschreiber schildern die Sache in folgender Weise.

Die russische Armee habe auf ihrem Rückzug von Smolensk sich die günstigste Position für eine Hauptschlacht gesucht und eine solche Position bei Borodino gefunden.[292]

Die Russen hätten diese Position vor der Schlacht befestigt, links von der Heerstraße, die von Moskau nach Smolensk führt, beinah im rechten Winkel zu ihr, von Borodino bis Utiza, an eben der Stelle, wo nachher die Schlacht stattgefunden habe.

Vor dieser Position sei zur Beobachtung des Feindes auf dem Hügel von Schewardino ein befestigtes Vorwerk angelegt worden. Am 24. habe Napoleon die Befestigung angegriffen und genommen, am 26. aber die ganze russische Armee angegriffen, die in der Position auf dem Feld von Borodino gestanden habe.

So heißt es bei allen Geschichtsschreibern, und diese ganze Darstellung ist völlig unrichtig, wovon sich jeder leicht überzeugen kann, der sich die Mühe gibt, in das Wesen der Sache einzudringen.

Die Russen haben nicht die beste Position gesucht, sondern sind im Gegenteil auf ihrem Rückzug an vielen Positionen vorbeigekommen, welche besser gewesen wären als die von Borodino. Sie haben bei keiner dieser Positionen haltgemacht; sowohl weil Kutusow keine Position einnehmen wollte, die er nicht selbst ausgesucht hatte, als auch weil das Verlangen nach einer Völkerschlacht sich noch nicht mit hinreichender Stärke bekundet hatte, als auch weil Miloradowitsch mit der Landwehr noch nicht herangekommen war, und aus zahllosen anderen Gründen. Tatsache ist, daß die früheren Positionen stärker waren, und daß die Position von Borodino (diejenige, in der die Schlacht wirklich geliefert worden ist) nicht nur nicht stark, sondern überhaupt in keiner Hinsicht in höherem Grade eine Position war, als jeder andere Ort im russischen Reich, in den man aufs Geratewohl eine Stecknadel auf der Landkarte hineinstecken könnte.

Die Russen haben nicht nur die Position auf dem Feld von Borodino, im rechten Winkel links von der Heerstraße (d.h. den Ort, wo die Schlacht stattfand), nicht befestigt, sondern auch vor[293] dem 25. August 1812 nie daran gedacht, daß an diesem Ort eine Schlacht stattfinden könne. Als Beweis dafür dient erstens der Umstand, daß nicht nur am 25. an diesem Ort keine Befestigungen vorhanden waren, sondern sogar die am 25. begonnenen auch am 26. noch nicht beendigt waren. Ein zweiter Beweis ist die Lage der Schanze von Schewardino; die Schanze von Schewardino hat vor der Position, in der die Schlacht angenommen wurde, keinen Sinn. Warum wurde diese Schanze stärker befestigt als alle andern Punkte? Und warum wurden, als man sie am 24. bis in die späte Nacht hinein verteidigte, alle Anstrengungen erschöpft und sechstausend Mann geopfert? Zur Beobachtung des Feindes wäre eine Kosakenpatrouille ausreichend gewesen. Drittens: als Beweis dafür, daß man die Position, in der die Schlacht stattfand, nicht vorher in Aussicht genommen hatte und daß die Schanze von Schewardino nicht ein Vorwerk dieser Position war, dient der Umstand, daß Barclay de Tolly und Bagration bis zum 25. August der Überzeugung waren, die Schanze von Schewardino sei der linke Flügel der Position, und daß Kutusow selbst in seinem unmittelbar nach der Schlacht geschriebenen Bricht die Schanze von Schewardino den linken Flügel der Position nennt. Erst lange nachher, als Berichte über die Schlacht bei Borodino in Muße abgefaßt wurden, ersann man (wahrscheinlich um die Fehler des Oberkommandierenden, der nun einmal tadellos dastehen sollte, zu verdecken) die unrichtige, sonderbare Behauptung, die Schanze von Schewardino habe als Vorwerk gedient (obwohl sie doch in Wirklichkeit nur ein befestigter Punkt des linken Flügels gewesen war) und die Schlacht bei Borodino sei von uns in einer vorher ausgewählten, befestigten Position angenommen worden (während sie doch in Wirklichkeit auf einem ganz unerwarteten und beinahe unbefestigten Terrain stattfand).[294]

Der wirkliche Hergang war offenbar der folgende. Die Russen wählten sich eine Position am Fluß Kolotscha, der die große Heerstraße nicht in einem rechten, sondern in einem spitzen Winkel schneidet, so daß sich der linke Flügel bei Schewardino befand, der rechte in der Nähe des Dorfes Nowoje Selo und das Zentrum bei Borodino, an dem Zusammenfluß der Kolotscha und Woina. Jedem, der das Schlachtfeld von Borodino betrachtet und sich dabei den Gedanken an den wirklichen Hergang der Schlacht fernhält, muß es einleuchten, daß diese durch die Kolotscha gedeckte Position für eine Armee zweckmäßig war, die die Absicht hatte, einen auf der Straße von Smolensk nach Moskau vorrückenden Feind aufzuhalten.

Napoleon, der am 24. nach Walujewo vorgeritten war, sah nicht (wie es in den geschichtlichen Darstellungen heißt) die sich von Utiza nach Borodino erstreckende Position der Russen (er konnte diese Position nicht sehen, weil sie nicht existierte) und sah nicht ein Vorwerk der russischen Armee, sondern er stieß bei der Verfolgung der russischen Nachhut auf den linken Flügel der russischen Position, auf die Schanze von Schewardino, und führte, was die Russen nicht erwartet hatten, seine Truppen über die Kolotscha. Und die Russen, die nicht mehr Zeit fanden, eine Hauptschlacht zu beginnen, gingen mit ihrem linken Flügel aus der Position, die sie einzunehmen beabsichtigt hatten, zurück und nahmen eine neue Position ein, welche vorher nicht in Aussicht genommen und nicht befestigt war. Dadurch, daß Napoleon auf die andere Seite der Kolotscha, links von der Heerstraße, herüberging, verschob er die ganze bevorstehende Schlacht von rechts nach links (von russischer Seite gesehen) und übertrug sie auf das Feld zwischen Utiza, Semjonowskoje und Borodino (auf dieses Feld, welches für unsere Position keine größeren Vorteile bot als jedes andere Feld in Rußland), und auf diesem Feld fand dann die ganze[295] Schlacht am 26. statt. Die nebenstehende Kartenskizze gibt in groben Umrissen den Plan der ursprünglichen und der nachherigen wirklichen Aufstellung.1

Wäre Napoleon nicht am Abend des 24. an die Kolotscha geritten und hätte er nicht Befehl gegeben, noch gleich am Abend die Schanze anzugreifen, sondern hätte er den Angriff erst am andern Morgen begonnen, so würde niemand daran zweifeln, daß die Schanze von Schewardino der linke Flügel unserer Position war, und die Schlacht hätte dann in der Weise stattgefunden, wie die Russen es erwartet hatten. In diesem Fall hätten die Russen die Schanze von Schewardino, ihren linken Flügel, wahrscheinlich noch hartnäckiger verteidigt, hätten Napoleon im Zentrum oder von rechts her angegriffen, und es hätte am 25. die Hauptschlacht in der Position stattgefunden, die im voraus in Aussicht genommen und befestigt war. Da aber der Angriff auf unsern linken Flügel noch am Abend nach de Rückzug unserer Arrieregarde stattfand, d.h. unmittelbar nach dem Kampf bei Gridnewa, und da die russischen Heerführer keine Lust oder keine Zeit mehr hatten, noch damals, am Abend des 24., die Hauptschlacht anzufangen, so war die erste und wichtigste Aktion bei der Schlacht von Borodino schon am 24. verloren, und dies führte augenscheinlich auch zum Verlust der am 26. gelieferten Schlacht.

Nach dem Verlust der Schanze von Schewardino befanden wir uns am Morgen des 25. auf dem linken Flügel ohne Position und sahen uns in die Notwendigkeit versetzt, unseren linken Flügel zurückzubiegen und ihn eilig da zu befestigen, wo er gerade hingekommen war.[296]

Aber nicht genug daran, daß am 26. August die russischen Truppen nur unter dem Schutz schwacher, unvollendeter Befestigungen standen: der Nachteil dieser Stellung wurde noch dadurch vergrößert, daß die russischen Heerführer, die die vollendete Tatsache (den Verlust der Position auf dem linken Flügel und die Verschiebung des ganzen künftigen Schlachtfeldes von rechts nach links) nicht recht eingestehen wollten, in ihrer ausgedehnten Position vom Dorf Nowoje Selo bis Utiza stehenblieben und infolgedessen sich genötigt sahen, ihre Truppen während der Schlacht von rechts nach links zu verschieben. Auf diese Weise hatten die Russen während der ganzen Schlacht der gegen unsern linken Flügel gerichteten französischen Armee gegenüber nur halb so starke Streitkräfte. (Die Unternehmungen Poniatowskis gegen Utiza und Uwarows gegen den linken Flügel der Franzosen bildeten besondere Operationen, die mit dem gesamten Gang der Schlacht nichts zu tun hatten.)

Die Schlacht bei Borodino fand also durchaus nicht in der Weise statt, wie die Geschichtsschreiber sie darstellen, die sich bemühen, die Fehler unserer Heerführer zu verdecken, und dadurch den Ruhm des russischen Heeres und Volkes schmälern. Die Schlacht bei Borodino fand nicht in einer ausgewählten, befestigten Position mit nur etwas geringeren Streitkräften auf seiten der Russen statt; sondern die Schlacht bei Borodino wurde infolge des Verlustes der Schanze von Schewardino von den Russen auf einem offenen, beinahe unbefestigten Terrain angenommen, mit Streitkräften, die nur halb so stark waren wie die der Franzosen, also unter Verhältnissen, unter denen man nicht nur nicht erwarten konnte, daß man sich zehn Stunden lang schlagen und die Schlacht unentschieden gestalten könne, sondern nicht einmal, daß man imstande sein werde, drei Stunden lang die Armee vor völliger Auflösung und Flucht zu bewahren.

Fußnoten

1 Tolstois Skizze ist in manchen Punkten nicht genau. Hervorgehoben sei, daß bei der »wirklichen Stellung der Franzosen« der linke Flügel, d.h. das Korps des Vizekönigs, jenseits der Kolotscha zu beiden Seiten der Heerstraße stand.

Kartenskizze
Kartenskizze

Kartenskizze

Anmerkung des Übersetzers.


Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 3, S. 290-297.
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