Das Morgenlied

Nun schreite herab, titanischer Bursche,

Und wecke die vielgeliebte Schlummernde dir!

Schreite herab, und umgürte

Mit zartlichten Blüten das träumende Haupt.

Entzünde den bangenden Himmel mit lodernder Fackel,

Daß die erblassenden Sterne tanzend ertönen

Und die fliegenden Schleier der Nacht

Aufflammend vergehen,

Daß die zyklopischen Wolken zerstieben,

In denen der Winter, der Erde entfliehend,

Noch heulend droht mit eisigen Schauern,

Und die himmlischen Fernen sich auftun in leuchtender Reinheit.

Und steigst dann, Herrlicher du, mit fliegenden Locken

Zur Erde herab, empfängt sie mit seligem Schweigen

Den brünstigen Freier, und in tiefen Schauern erbebend

Von deiner so wilden, sturmrasenden Umarmung,

Öffnet sie dir ihren heiligen Schoß.

Und es erfaßt die Trunkene süßeste Ahnung,

Wenn Blütenglühender du das keimende Leben

Ihr weckest, des hohe Vergangenheit

Höherer Zukunft sich zudrängt,

Das dir gleich ist, wie du dir selber gleichst,

Und deinem Willen ergeben, stets Bewegter,

Daß an ihr ein ewig Rätselvolles

In hoher Schönheit sich wieder künftig erneuert.


Quelle:
Georg Trakl: Das dichterische Werk. München 1972, S. 99-101.
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