Kehrseite

[378] Unser Stabsoffizier hat hier in einer Reihe von Aufsätzen niedergelegt, wie er das alte Heer sah und sieht. Soweit in den Aufsätzen von dem Verhältnis des Offiziers zum Mann in der Feldarmee die[378] Rede gewesen ist, habe ich ihm in tatsächlichen Einzelheiten widersprochen. Dieser Schlußausblick über das illegitime Kind des alten Heeres: das neue Heer, die Reichswehr, zwingt mich, meinen Widerspruch auf den gesamten Geist und die Gesinnung dieses Ausblicks auszudehnen.

Der Fachmann, der sein Gebiet betrachtet, gleicht fast immer dem Bewohner eines Gebirgsdörfchens: er hat von der schönen Aussicht nicht viel, weil er zu nah auf ihr draufsitzt. Der Fremde sieht mehr.

Es ist keinem Offizier zu verübeln, wenn er heute noch seine Armee – ja, eigentlich Armeen überhaupt – überschätzt, und es gehört wohl beträchtliche historische Weitsicht dazu, um nach einem solchen Kriege, der Europa zu Grunde gerichtet und die Welt umgewühlt hat, zu sagen, daß die große Zeit der Heere vorbei ist. Ob der Krieg edel oder unedel ist, ist eine deutsche Frage, die hier nicht zur Entscheidung steht; daß er anfängt, ein Anachronismus zu werden, ist gewiß.

Aus diesem Grunde und weil die kleine, uns von der Entente belassene Polizeitruppe von 100000 Mann nicht mehr so mit dem Volk verwachsen sein wird, wie es das alte Heer war, erscheint es mir unangebracht, diesen kleinen Apparat, der kleiner ist als die Metallarbeiter- oder Bergwerksarbeiter-Organisationen, so zu überschätzen, wie das hier geschieht. All diese gut gemeinten Reformvorschläge für das neue Heer kommen um genau hundert Jahre zu spät und sind heute so bedeutungslos, wie es der kulturelle Wert der deutschen Polizeitruppe überhaupt ist.

Was zunächst die harte Wirklichkeit angeht, so ist zu sagen, daß diese Reichswehroffiziere zum größten Teil zäh und energisch an ihren Stellungen kleben, weil sie nichts gelernt haben, als mit mehr oder weniger Arbeit ihre Achselstücke zu tragen. Ihre Gesinnung ist fast durchweg reaktionär, aber reaktionär nicht in durchaus politischem Sinne – dazu sind diese Köpfe viel zu unpolitisch –, sondern reaktionär, was ihre menschliche Stellung im Staat angeht, in dem sie gewohnt waren, die erste Flöte zu spielen. Das Orchester ist verstummt, die große Pauke sitzt in Amerongen, und die Herren Flötisten, sooft sie ihr Instrument hervorholen, detonieren. Ihr Geschrei in der deutschen Öffentlichkeit steht im umgekehrten Verhältnis zu ihrer Zahl und ihrem Wert. Diese paar Männerchen gründen pro Kopf eine Dienststelle, und ihre neue Heereskammer ist kaum mehr als ein neuer Ausfluß von Wichtigmacherei.

Es scheint mir vergebliches Bemühen, in diese Truppe Ideale hineinpflanzen zu wollen, die früher einmal nützlich, also gut, also Ideale gewesen sind. Die karge Preußentreue lohnt heute nicht mehr, sie steht unter Pari, und kein Präsident wird jene Garnisons- und Kasernenluft schaffen können, wie sie die potsdamer Könige um sich haben wehen lassen.

[379] Es mag ja sein, daß die gutbezahlten Reichswehrbeamten – Soldaten kann man das kaum noch nennen – einen sauberem Kragen tragen und besser herausgefüttert sind als die armen Luder, die damals zwei verquälte und verschwitzte Jahre dem Staat schenken mußten. Die Moral dieser Reichswehr steht tief unter allem Durchschnitt. »Operationsplan für Greifenhagen, Pyritz, Arnswalde-West, Stargard-Südost. 3. A. II. Erst bei drohender Haltung der Aufständigen, die zur Notwehr zwingen, öffentlich bewaffnen, eng zusammenlegen. Rädelsführer festnehmen, eventuell still beseitigen.« Diese klare Aufforderung zum Mord trägt mit Recht die Spitzmarke: ›Streng geheim‹. Sie bestimmen ›Stabsquartiere‹, und es ist lustig zu sehen, wie diese kleinen Köpfe aus dem Kriege die Terminologie ihres Handwerks mitgebracht haben. Aber weiter nichts. Sie spielen noch immer Krieg. Und spielen Krieg gegen ihre eignen Landsleute, teilen kleine Bauernnester in Sektoren Nord und Süd, spielen Stabsquartier und Nachrichtendienst und finden einen Mord, wie den an Hans Paasche, durchaus in der Ordnung. Über die Wertlosigkeit dieser menschlichen Gesinnung ist wohl kein Wort zu verlieren.

Denn wir haben das Recht, die Morde und die Mörder der gesamten Institution aufs Konto zu schreiben, weil sie sie dadurch bejaht, daß sie keinen dieser Verbrechen wegen ausstößt. Im Gegenteil. Damit macht man Karriere.

Maßgebend sind nicht die Reglements. Maßgebend ist nur, was geschieht. Und was geschieht, ist so grauenvoll, so aller Gerechtigkeit und Kultur ins Gesicht schlagend, daß nur radikale Abhilfe, das heißt: radikale Auflösung einer solchen Formation uns vom Übel erretten kann. »Richtig behandelt und geführt, wird die Reichswehr sich so weiter entwickeln, daß sie eine würdige Trägerin der Überlieferungen der alten deutschen Wehrmacht werden wird.« Eben das soll sie nicht. Soweit jener alte Geist nicht veraltet war, war er verdorben und verderbt. Er muß ausgerottet werden. Läßt man ihn walten, so wird Deutschland bald ein einziges Ruhr-Revier sein, wo die Kriegsgerichte mit den widerwärtigsten Zuchthausurteilen (die in Marburg nicht am Lager waren) ihre Rache an der Republik nehmen: Hunderte dieser Tendenzurteile wurden vom Reichspräsidenten wieder kassiert, was nicht grade für ihren Wert spricht. Zur Zeit liegt es eben so, daß sich die Reichswehr durch Standgericht und Verwaltungsmaßnahmen an der Republik für die Revolution rächt.

Auf zwei mächtigen Pfeilern stand das alte Preußen: auf dem Heer und auf dem Beamtentum. Hier inkarnierte sich seine Idee am reinsten, hier war der Preuße ganz Preuße. In das Beamtentum dringt heute in zähem Kampf nach fast unerbittlichen Widerständen ab und zu ein neuer Mensch, der wenigstens den schüchternen Anfang machen kann, auch in der preußischen Verwaltung über das Jahr 1830 hinauszugehen.[380] Die Reichswehr kapselt sich ein, macht Demokraten und Sozialisten unmöglich, in sie einzudringen, und bewahrt wiederum den Bazillus in Reinkultur. Denn wir glauben, daß vieles am Preußentum schlecht gewesen ist und das Gute veraltet. Wir glauben, daß menschliche Zuverlässigkeit, Gradheit des Charakters und Reinheit des Willens sich nicht mit jenen andern preußischen Eigenschaften amalgamieren muß, um überhaupt in die Erscheinung zu treten, und wir glauben, daß anständige Menschen von der Qualität fontanescher Preußen auch in andern Zusammensetzungen möglich sind, als in denen der Quitzows. Mit den Gardeleutnants ist es vorbei.

Es wird sich also nicht darum handeln, die neue Armee im alten Geist fortzuführen, wie das die unbegreiflichen Erlasse eures Fritz Ebert und die begreiflichen Aufsätze unsres Stabsoffiziers dartun wollen. Es wird sich vielmehr darum handeln, die alte Form völlig zu zerschlagen, Ruhe und Ordnung auch dann zu wahren, wenn kein überzahlter und moralisch übermästeter Mensch mit blanken Reitgamaschen, blitzendem Monokel und einer dünnen Gerte über den Kasernenhof lümmelt, und es wird sich darum handeln, aus Soldaten Männer zu machen.

Mynona soll einmal eine Skizze geschrieben haben: ›Beweis, daß die Deutschen Menschen sind‹. Er soll mißglückt sein. Er wird glücken, wenn das Deutschtum seinen schwarzen Fleck ausbrennt: Preußen. Er wird glücken, wenn Preußen seinen schwarzen Fleck ausbrennt: die alte Armee.


  • · Ignaz Wrobel
    Die Weltbühne, 15.07.1920, Nr. 29, S. 72.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 2, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 378-381.
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