Eine kleine Erinnerung

[389] Paris, im Juni.

In der Pariser National-Bibliothek findet zur Zeit eine kleine, sehr interessante Ausstellung statt, zu der sogar die feinen Leute im Automobil vorgefahren kommen. Die Presse hat – mit Recht – sehr viel von dieser Ausstellung gesprochen, obgleich sie räumlich nicht groß ist. Sie enthält eine Auswahl der erlesensten Kostbarkeiten der Bibliothek: Manuskripte, Erstdrucke, Autographen, Einbände, Medaillen und alte Landkarten.

Und unter diesen Renans, Lafontaines, Dantons, den Bouchers, den Goldmünzen und den Lederbänden lese ich auf einmal in einer Vitrine:

Zensurstelle A. O. K. 4.

Druck genehmigt.

A. B.

Und dann ein Schmirakel von Unterschrift. Was ist das –?

Das entpuppt sich als der Neudruck eines alten Traktats aus dem Jahre 1661: ›Sermon sur l'ambition‹ (›Abhandlung, den Ehrgeiz betreffend‹) – und die Schrift ist von Bossuet. Da liegt das alte Original-Manuskript, aufgeschlagen, und da liegt der Neudruck, an derselben Stelle aufgeschlagen, die da anhebt: »Cette noble idèe de puissance . . . « und diese ganze Stelle ist in dem Neudruck schwarz durchgestrichen, und darüber steht der obige Vermerk.

Man hatte nämlich in Brügge, im Jahre 1915, diesen – vierten – Band der Werke Bossuets neu aufgelegt, und dazu brauchte man die[389] Genehmigung der Kommandantur von Thielt, der Brügge unterstand. Die Kommandantur hatte Bedenken gegen den Autor von 1661. Warum –?

Die Stelle lautet:

»Dieser edle Begriff von Macht ist sehr weit von dem entfernt, den sich die weltlichen Mächte von ihm machen. Denn wie es so in der menschlichen Natur liegt, für das Böse mehr als für das Gute empfänglich zu sein (›d'estre‹ im Original), so glauben auch die Großen, daß ihre Macht mehr in Ruinen als in Wohltaten zum Ausdruck kommt. Daher Kriege, daher Gemetzel, daher die stolzen Unternehmungen dieser Landräuber, die wir mit dem Namen ›Eroberer‹ belegen. Diese Helden, diese Sieger, mit allen ihren Verherrlichungen, sind auf der Erde nur dazu da, den Frieden der Welt durch ihren maßlosen Ehrgeiz zu stören; so hat sie uns Gott in seinem Zorn gesandt. Ihre Siege verbreiten Trauer und Verzweiflung unter den Witwen und Waisen: sie frohlocken über den Untergang der Völker und die allgemeine Verwüstung – und so lassen sie ihre Macht über uns scheinen.«

Das wollte das Armee-Oberkommando nicht. Schließlich bekam man diese höchst gefährliche Stelle frei.

Aber sie hat sich 260 Jahre lang erstaunlich frisch gehalten.


  • · Peter Panter
    Vossische Zeitung, 10.06.1924.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 3, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 389-390.
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