Die Reliquie

[124] Man nennt mich Zimmermann.

Upton Sinclair


In Nummer 26 des XX. Jahrgangs haben wir ›Stadt und Land‹ von Queiroz betrachtet. Es gibt noch ein Werk des Portugiesen in deutscher Übersetzung: ›Die Reliquie‹ (bei Kurt Wolff in München). Der Inhalt ist folgender:

Der Ich, Theodorico Raposo, wird als Waise zu einer Tante Patrocinio gebracht, zu ›Tantchen‹, einer alten, bigotten, überkatholischen Person. Da verlebt er seine traurige Jugend, mit viel Beten und wenig Essen. Er beginnt sachte, zu heucheln; es ist eine sonderbare Art, zu beten, die der junge Herr sich da angewöhnt. Das erste Liebesabenteuer ereignet sich. Es ist mit seltsamem Feixen erzählt, mit einer merkwürdigen Mischung von zähnefletschendem Humor und weicher Rührung. »Und nun, am Abend, feierte ich dort im Schlafzimmer der Adelia das strahlende Fest meines Lebens. Ich hatte mir dorthin ein Paar Pantoffeln mitgebracht – ich war der Erwählte ihres Busens . . . ›Adieu, kleine Deli‹, ›Laß es dir gut gehn, kleiner Millionär!‹ Und ich kehrte langsam zum[124] Platz Santa Anna zurück, meinen Genuß wiederkäuend.« Der Knabe wird älter, Tantchen wird es auch. Und er bewegt die Angst in seinem Herzen, die habgierige Alte könnte ihr ganzes Vermögen der Kirche zuwenden. Nein, das will er nicht. Schon an dieser Stelle taucht eine eigentümliche Stelle im Buch auf – eine Art Haßgesang gegen Christus, der doch schon genug hätte, wie? Und Theodorico, der Hoffnungsvolle, beschließt, fürderhin noch mehr zu heucheln, um sich bei Tantchen beliebt zu machen. »Von nun an verbesserte ich meine Frömmigkeit und machte sie perfekt.« Das geht gut.

Weniger gut geht das mit der Geliebten, mit der Adelia. »Dann eines Tages hörte sie auf, mir die schönste Liebkosung zu gewähren, die ich am meisten schätzte – den eindringlichen und genußreichen kleinen Kuß ans Ohr.« Und eine gemeine Eifersucht beginnt, in seinem Herzen zu keimen (hier steht übrigens die schöne Bezeichnung für verrufene Viertel: »Da sah ich einen ganz Vermummten höchst heimlich aus einem jener unsaubern Gäßchen heraushuschen, wo die käufliche Venus ihren Pantoffel nachschleift . . . «) – er hat also dieses verwünschte Frauenzimmer im Blut, und wieder taucht eine Vision auf. Er betet, gezwungenermaßen, vor dem Kreuz am Oratorium des Hauses. »Aber da trübte sich nach und nach der Glanz des edeln Metalls, nahm die weiße Farbe warmen, zarten Fleisches an; die Magerkeit dieses traurigen Messias, der da seine Knochen zeigte, rundete sich zu göttlich vollen und schönen Formen; unter der Dornenkrone entrollten sich lüsterne Ströme schwarzen, krausen Haares, auf der Brust zwischen den beiden Wunden erhoben sich, straff, grade, zwei herrliche Frauenbrüste, mit einem Rosenknöspchen auf der Spitze – und sie war es, meine Adelia, die da hoch am Kreuz hing, nackt, übermütig, lachend, sieghaft, schändete sie den Altar, mit Armen, die für mich ausgebreitet waren!« Das läuft nicht gut aus – das Mädel geht ihm verloren.

Da kommt eines Sonntags bei Tisch, bei Tantchen, wo fromme Leute speisen und auch ein Priester anwesend ist, die Rede auf Wallfahrten im allgemeinen und im besondern; und zwischen den Hühnerflügeln und dem Milchreis entkeimt dem kargen Busen der Dame ein heroischer Entschluß. Am nächsten Tag wird es dem Neffen verkündet: Auf! Nach Jerusalem!

Jerusalem –? Nicht eben übel. Ein bißchen anstrengend . . . aber doch: »In diese muselmanischen Länder ziehen, wo man bei jedem Schritt über ein Serail stolpert, das stumm und rosenduftend zwischen Sykomoren Steht . . . « Ein Tropenhelm erscheint der tantlichen Frommen etwas zu gewagt für die Heiligkeit des Orts; aber er verspricht, wenns ernsthaft heilig wird, nur im Zylinder zu gehen, in Palästina . . . Und verspricht auch, eine Reliquie mitzubringen, die schönste und beste, die es gibt. Und schiebt los.

In Alexandrien betritt sein Fuß den Orient. Sein Reisegenosse ist ein[125] Deutscher, Professor Topsius aus Bonn, ein Archäologe. Eigentlich mochte er ihn nicht. »Aber das Animalische in mir verehrte bereits das Intellektuelle in ihm; und wir gingen miteinander Bier trinken.« In Alexandrien wohnt – Jerusalem ist noch weit, o Tantchen! – Miss Mary, und sie tut was sie kann. Aber schließlich muß man fort, alles wird eingepackt, die Dame sitzt auf dem Bett »mit ihrem Hut und blauen Ringen um die lieben Augen«, und da – da ist noch etwas! Der Wirt hat noch etwas entdeckt. »Unter den aufgewühlten Decken suchend, hatte er ein langes Spitzenhemd mit hellen Seidenbändern gefunden. Er schüttelte es, und es verbreitete sich ein schmerzliches Parfum von Veilchen und Liebe . . . « Und dieses Nachthemd nimmt der Gute mit. Nach Jerusalem.

Und dann kommen sie also ins Gelobte Land. Im Hotel gibt es beinahe einen Krach, Professor Topsius »mit der gesellschaftlichen Feigheit des disziplinierten Deutschen« will einrenken. Alles geht gut, sie besichtigen die Stadt, das Grab, die Kirchen, wiederum Kirchen, heilige Plätze – und übrigens auch die Gassen, wo die Venus ihren Pantoffel nachschleift, »um jenen Bienentanz zu genießen, der die Kältesten erhitzt und die Reinsten verdirbt . . . « Das ist aber eine große Nepperei, und wie dieser Bruch von einem Lusthaus geschildert ist, das zeigt einen großen Humoristen.

Jericho. Ruinen und heilige Stätten und Hitze, Hitze. Sie finden einen Dornenbaum. Einen Dornenbaum? oder Dornenbusch? Der Professor wird befragt. »Wir gingen hin. In der Einöde vor dem furchtbaren Baum erhob Topsius den Schnabel wie auf einem Katheder, zog sich für einen Augenblick in die innern Lagerräume seines Wissens zurück – und erklärte mir dann . . . « Er erklärte, dieses sei in der Tat ein solcher Baum wie der, von dem man die Dornenkrone für den Heiland heruntergerissen habe, und das sei die gewünschte Reliquie, die solle er nur Tantchen mitbringen. Ja, wenn es derselbe Baum wäre –! Da mogelt der gute Topsius etwas – »er begriff, daß es eine Familienräson gibt, wie es eine Staatsräson gibt« – und sagt: »Ja, det is er.« Und das geschieht auf Seite 152, und bis dahin ist die Geschichte außerordentlich witzig, spannend und diesseitig.


»Sicherlich schlief ich so seit zwei Stunden, eingewickelt und ausgestreckt auf meinem Feldbett, da schien es mir, als dränge eine zitternde Helle wie von einer rauchenden Fackel in das Zelt ein – und durch sie hindurch rief mich eine Stimme, klagend und schmerzlich: Theodorico, steh auf und reite gen Jerusalem!« Und die Geschichte bekommt hier Flügel, die Personen, lösen die Sohlen vom Erdboden, sie reiten, aber nicht nur ins Heilige Land zurück, sondern zurück in die Zeit – und es beginnt jene hundertmal geschriebene Vision: Die Kreuzigung Christi. Aber wie ist das gemacht. –!

Die Kreuzigung Christi, gesehen mit den profanen Augen eines Heutigen – oder sagen wir: Damaligen, denn das Buch ist annähernd vierzig[126] Jahre alt. Da es ein gutes Buch ist, so wird nie ein deutscher Doktorand die literarische Vaterschaft Zolas oder Flauberts an diesen Dingen nachweisen – aber das kann uns ja nur recht sein.

Es ist also die Leidensgeschichte Christi, naturalistisch aufgedröselt, dargestellt, wie ein Zeitungsbericht darstellt, mit allen kleinen menschlichen Zügen, rekonstruiert, erfunden, dazuphantasiert: das teilnahmslose Volk, die reaktionären Juden, die Cliquen, die Klüngel, die religiösen und politischen Hintergründe – und über allem, wie von Shaw gezeichnet, die Briten des Altertums: die Römer. Die Stadt heult auf, weil sie die Gelegenheit wittert, den Römern eins auszuwischen. »Pontius malte unterdessen ganz teilnahmslos Buchstaben auf ein umfangreiches Pergamentblatt, das auf seinen Knien lag.« Und der, um den es sich handelt – welch ein Handel! – den sieht der Held erst später. Er weiß aber: »Während soeben auf einem für Sklaven bestimmten Todeshügel der Mann aus Galiläa, der unvergleichliche Freund der Menschen, an seinem Kreuz erstarrte und jene reine Stimme der Liebe und Geistigkeit für immer stumm wurde – blieb der Tempel da, der ihn mordete, glanzumgossen und triumphierend, mit dem Blöken seiner Herden, dem Lärm seiner Spitzfindigkeiten, dem Wucher in den Säulenhallen, dem Blut auf den Altären, der Ungerechtigkeit seines harten Hochmuts, der Zudringlichkeit seines ewigen Weihrauchs . . . « Er sollte später einen Nachfolger bekommen, der Tempel – mit eben dem Bildnis des Gekreuzigten . . . Und dann gehen sie auf den Kalvarienberg.

Es ist sehr bezeichnend für den Künstler Queiroz, daß er natürlich – wie ja alle – die Schilderung der Bibel nicht erreichen kann. Was da von Christus am Kreuz steht, ist würdig, schön und einem guten Schriftsteller durchaus angemessen. Viel stärker aber ist das Bild der beiden Schächer.

»Die beiden Verurteilten waren in der Frische der Abendluft aus der ersten Ohnmacht erwacht. Der eine – ein Starker, Behaarter, mit hervorquellenden Augen, mit vorgewölbter Brust und hervortretenden Rippen, als wollte er in einer verzweifelten Anstrengung sich vom Marterholz losreißen – heulte ohne Pause aufs fürchterlichste; das Blut rann ihm in trägen Tropfen aus den schwarzen Füßen, den geborstenen Händen; und von aller Welt verlassen, ohne irgendeine Liebe oder Mitleid, die ihm beigestanden hätten, war er wie ein verwundeter Wolf, der in einem Sumpfloch heult und stirbt. Der andre – zart gebaut und blond – hing ohne einen Seufzer wie ein halb abgebrochener Stengel von einer Pflanze, Vor ihm hob eine ausgemergelte Frau in Lumpen, indem sie fortwährend mit ihren Knien über das Seil hinwegrutschte, auf ihren Armen zu ihm ein nacktes, kleines Kind empor und schrie, röchelte vielmehr: ›Sieh noch einmal! Sieh noch einmal!‹ Die fahlen Augenlider bewegten sich nicht; ein Neger, der soeben das Kreuzigungsgerät einpackte, ging hin und schob sie sanft fort; sie verstummte, preßte verzweifelt den kleinen Sohn an sich, damit sie ihn ihr nicht auch fortnähmen, zähneklappernd,[127] am ganzen Leibe zitternd; und das Kindchen suchte unter den Lumpen nach ihrer magern Brust.«

Das Buch kehrt langsam wieder zur Erde zurück. Dieser Übergang ist mit viel Geschmack und Kunst gearbeitet, sie kehren zurück: in ihre Zeit und nach Hause.

Der Neffe kehrt wieder, bringt Glück- und Segenswünsche aus dem fernen Lande, Andenken und Traktätchen – eine Sache hat er sich bis zuletzt aufbewahrt. Die Dornenkrone. Er hat die mitgebrachte Reliquie fein verpackt im Oratorium aufgebaut. Alle, die befreundeten Patres, der Arzt, Tantchen schreiten in das Gemach. »Was ist es? Was ist es?« Er hat es nicht gesagt. Dies ist sein Hauptclou – dahinter winkt die Erbschaft, das ist sicher. Fünf Minuten später liegt er auf der Straße: er hat das Kistchen mit Marys Nachthemd gegriffen . . .

Und wie nun dieses Buch nicht als Komödienspaß ausgeht, wie auch dieser Scherz beiläufig leicht erzählt ist, wie der arme Held nun erst gefälschte Reliquien verkauft und dann in ein Käsegeschäft eintritt, wie außerordentlich lustig das Roman-Ende-gut-Alles-gut herbeigeführt wird: das ist das, was sich nicht lernen läßt, was man, an der festen Tradition europäischer Romane geschult, wohl heranbilden kann – aber es muß da sein.

Schade: es gibt keine illustrierte Ausgabe des Buches. Das vertrüge viele Zeichner: Frans Masereel fände seinen Spaß daran und sein Pathos, manches ist wie von der Frau Laurencin hingehuscht, und manchmal könnte gradezu eine kleine verblichene Fotografie zwischen den Seiten stehen . . . Die leise Leichtigkeit des Stils ist selbst in der Übersetzung noch zu spüren: »Und meine hohe Liebe zu Vicencia verschwand eines Tages, unmerklich, wie man auf der Straße eine Blume verliert.«

Es ist ein schönes Buch. Nicht nur, weil es, wie in dem gescheiten Nachwort von Richard A. Bermann steht, die Überschwenglichkeiten der bigotten portugiesischen Gesellschaft der damaligen Zeit verspottet.

Sondern, weil es den Urheiland sieht, den, der heute verehrt wird, und den diese selben Anhänger damals gekreuzigt hätten. »An diesem Tage, da die Soldaten, die dich heute mit Blechmusik eskortieren, die Magistratspersonen, die heute jeden einsperren, der dich beleidigt oder verleugnet, die besitzenden Klassen, die dich heute verschwenderisch mit Gold und Kirchenfenstern beschenken – da sie sich mit ihren Waffen und Gesetzbüchern und Börsen vereinigt hatten, um deinen Tod zu erlangen, des Revolutionärs, Feindes der Ordnung, Schreckens der Besitzenden . . . jawohl, von nun an und durch alle künftigen Jahrhunderte würde immer wieder vor dem Holz der Scheiterhaufen, in der Kälte der unterirdischen Kerker, an der Treppe der Schafotte – würde dieser schimpfliche Skandal von neuem beginnen, daß Priester, Patrizier, Richter, Soldaten, Gelehrte und Kaufleute sich verbünden würden, um auf der Höhe eines Hügels grausam den Gerechten zu töten, der, von Gottes[128] Glanz durchdrungen, die Anbetung im Geiste lehren oder das Reich der Gleichheit verkünden würde.«

Man nennt mich Zimmermann . . . Sie haben ihn getötet und töten ihn heute noch – alle Tage: Priester, als feldgraue Militärbeamte verkleidet, wenn es die Mode verlangt; Kaufleute, die den Verkehr mit einem Bankhaus abbrechen, weil es für die Kommunisten ein Konto unterhält; Soldaten, die das Gebet wie einen Schnaps vor der Schlacht konsumieren; und Richter, Richter im schwarzen Talar und mit fertigem Urteilsspruch, mit klassenharten Augen und trübem Verstand, mit ungerührtem Herzen. Priester, Kaufleute, Soldaten und Richter – das Kreuz in Händen. Ein Opfertod, der zweitausend Jahre dauert.


  • · Peter Panter
    Die Weltbühne, 19.05.1925, Nr. 20, S. 742.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 4, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 124-129.
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