Die fehlende Generation

[462] Denen, die sich nicht getroffen fühlen


Die deutschen Jahrgänge 1890 bis 1900 haben im Kriege schwer gelitten – in ihrer vollen Stärke sind sie nicht mehr da. Ersetzt wurden sie durch Frauen, durch ganz junge Leute und durch die Alten; man hat das Alter sozusagen ›gestreckt‹. Noch nie ist so viel Geschrei um die junge Generation gemacht worden, und noch nie waren wir so überaltert wie heute.

Es ist immer verdächtig, wenn um eine so selbstverständliche Sache, wie es die nachrückende Folge der Geschlechter ist, gar zu viel Lärm geschlagen wird – und der Spektakel täuscht auch nicht. Es kommt ja nicht darauf an, welches Alter die Dramatiker haben, auch bin ich für mein Teil lieber mit Raabe alt als mit Herrn Unruh jung – es kommt nur darauf an, wer in den maßgebenden Stellen sitzt. Wer –? Geistig überalterte Leute.

Der Krieg hat sie in ihren Stellen belassen, und niemals waren alte Leute so alt. Zwischen Vater und Sohn liegt ein Weltgeschehen, und weil es ja nicht wahr ist, daß man sich mit der Zeit wandelt, sondern unwandelbar die Bahn zu Ende läuft, getreu der Schulung, in der man angetreten, so sitzt an hunderttausend Stellen noch eine Generation, die den guten alten Walzer tanzt, als gäbe es kein Saxophon auf der Welt.

Der außerordentliche französische Schriftsteller Bainville hat neulich auseinandergesetzt, daß der Faschismus neben andern Entstehungsmotiven eins habe, das besonders für Frankreich bemerkenswert sei: die italienische Politik wird von einer jungen Generation gemacht. Das[462] ist aber leider nicht nur für Frankreich ein bizarrer Gedanke, sondern auch für uns.

Deutschland wird heute auf tausend Gebieten von Leuten geführt, die den Krieg als einen ärgerlichen Zwischenfall ihrer graden Lebensbahn ansehn. (Thomas Mann hat ihn in Paris zu den ›wüsten Ereignissen‹ gerechnet.) Die wüsten Ereignisse haben diese Leute selbstverständlich nicht wandeln können – sie leben ihr Leben zu Ende, wie der Pfeil vom Bogen schnellt. Daher ihre gradezu kindische Sehnsucht nach der alten Zeit; daher die Bezeichnung ›Friedensware‹; daher ihre Ankündigungen, die etwas als ›im Stil der Vorkriegszeit‹ anzeigen, was ein Lob sein soll; daher ihr alberner Gesichtsausdruck, der schafsromantisch in die Vergangenheit stiert. »Alles kommt einmal wieder« sang ein aufs Podium verschlagener Konfektionär.

Nein, es kommt nichts wieder. Welch eine Erinnerung, die zwölf Jahre zurückdrehen will –! Welch eine Vertrottelung, die da glauben machen will, es sei nun alles vorüber; jetzt regnets nicht mehr, spannen wir die Regenschirme wieder zu, und kehren wir zu den friedlichen Beschäftigungen von damals froh und strebsam zurück –! Das ist Verkalkung.

Und weil man in entscheidenden Jahren diese alten Leute in den entscheidenden Stellen faute de mieux hat arbeiten lassen, so sitzen sie heute noch da, sind vieltausend Jahre alt und sind schon lange tot und wissen es noch gar nicht. Nun hat der Alte eine unverwüstliche Zähigkeit, wenn er jüngere Leute hindern will, nachzurücken, und was da an Energie, Kampf, Intrige, Kraft ausgegeben wird, wäre einer bessern Sache würdig. Sie kleben, sie sind da, sie weichen nicht.

Wobei eines Typus gedacht werden mag, der mir immer als besonders schrecklich erschienen ist: das ist der Greis in kurzen Hosen. Es gibt, allerdings hauptsächlich in der Kunst, wo es nichts kostet, eine Menge alter Leute, die den letzten Schmarren der Saison ehrfurchtsvoll umtanzen, damit um Gottes willen keiner glaube, sie seien schon über sechzehn. Von diesem Mißverständnis leben manche jüngern Dichter.

Wo es aber ernst wird, wie etwa im Gerichtswesen, in der Schule, in den Arbeitshäusern, in den Gefängnissen: da weht kein frischer Hauch. Da sind sie noch alle da – und sie unterdrücken die Jugend, von der sie rund zweitausend Jahre entfernt sind, mit Gewalt.

Mehr.

Es ist ihre Schuld, es ist die Schuld dieser vierfach überalterten alten Leute, wenn die Jugend den großen Schritt rückwärts tut. Sie haben die Kinder in den Krampfaderhänden; sie leiten die Mädchen; sie überwachen die jungen Menschen. Da kommt keiner auf. Mag der einzelne junge Lehrer mit den besten Absichten den riesigen ›Lehrkörper‹ angehn, mit den schönsten Vorsätzen, mit den jüngsten Theorien –: er[463] wird erbarmungslos niedergeknüppelt. Und weil es der Schulrat ist, der über Avancement, Versetzung, Titelverleihung entscheidet, so fügen sie sich. Tun sies nicht, fliegen sie.

Wer nicht grade eine Kunst ausübt, hats als junger Mensch in seinem Beruf außerordentlich schwer. Denn er trifft heute nicht nur auf den alten Mann, der ihn hindernd belehrt, wie das immer der Fall gewesen ist, sondern er hat einen Saurier vor sich, der noch übrig geblieben ist, und den sie nicht ins Museum gesperrt haben, sondern der fröhlich grunzend umherkriecht. Das ist ein schwerer Kampf.

Diese Karikatur des Alters schadet dem Alter. Vor Leuten, die etwas in ihrem Leben geleistet haben, die etwas gewesen sind, soll man Achtung haben. Als ich Anatole France ein paar Monate vor seinem Tode noch einmal sprechen hörte, rieselte mirs über den Rücken. Das war einer. Aber der hat ja auch keinen gehindert hochzukommen, weiterzuarbeiten, sich seinen neuen Weg zu suchen. Greulich ist nicht das Alter. Schauerlich sind nur diese geschäftigen alten Leute, die jede Eingangstür abschließen.

Und sie sind auch gefährlich.

Denn was sie leisten, ist nicht nur gänzlich wertlos – es ist auch unsinnig, verfault, eine anachronistische Onanie. Ich will nicht mehr vorgekaut haben, daß ›wir‹ vor dem Kriege das immer so und so gemacht haben, daß die alten guten Grundsätze wieder zu Ehren gebracht werden müssen. Die alten guten Grundsätze haben neuen guten zu weichen, und meistens waren die alten nicht einmal gut. Eine Generation, die den Jüngeren diesen Krieg gebracht hat, hat jedes, aber auch jedes Recht verloren, uns in irgendeiner moralischen Frage zu belehren. Schlimmer konnte sich ihre völlige Impotenz nicht erweisen. Und wenn ein Tor aus Lust an der Opposition von allem das Gegenteil wie diese machte, käme er noch gar nicht einmal zu schlechten Resultaten.

Die alten Leute von heute haben Glück gehabt. Es fehlt hinter ihnen eine ganze Generation. Die ist dezimiert, auseinandergetrieben, direktionslos gemacht, in schlechtem Gesundheitszustand und selbst um Jahre nach vorn geworfen. Die Alten sitzen fester denn je, weil keiner nachdrückt und keiner nachrückt, weil der natürliche Wechsel der Generationen gestört ist – und so dürfen sie ihren geordneten Wahnwitz ruhig weiter betreiben. Man sollte Tausende von ihnen aus den entscheidenden Stellen hinauswerfen, und ihnen, die das Morden mit weisen Reden von hinten begleiteten, einen Kampf liefern, wie ihn bis jetzt nur die Theater, die Kunstausstellungen und die Buchverlage siegreich durchgepaukt haben.


  • [464] · Ignaz Wrobel
    Die Weltbühne, 15.06.1926, Nr. 24, S. 929.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 4, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 462-465.
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