Amnestie –! Amnestie –!

[317] Die Besprechung der Justizminister der Länder bestätigte den Eindruck, daß nirgends eine allzugroße Amnestiefreudigkeit vorherrscht.

Amtliche Kundmachung


Aus den kleinen vergitterten Fenstern strecken sich unsichtbare Arme, und ein Gewinsel ist zu hören, das von einem andern Gewinsel draußen beantwortet wird: das sind die hungernden Familien der Eingekerkerten, denen der Ernährer fortgerissen worden ist. Diesmal steht eine Einheitsfront aller anständigen Menschen da und fordert zum Geburtstag des greisen Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg, Ritter des Pour le mérite, des Großkreuzes des Eisernen Kreuzes und Präsidenten der deutschen Republik: die Amnestie, die völlige und uneingeschränkte Generalamnestie für die politischen Strafgefangenen aller Grade.

Mißglückte Revolutionen pflegen im Blut zu ersticken und im Zuchthaus, mit der deutschen ist das nicht anders. Heute, wo nach siegreich beendetem trocknem Putsch der Reaktion, die so ziemlich alles hat, was sie braucht, sich die Gemüter beruhigt haben, können wir die Strecke unsrer Richter übersehen. Wir wissen, was sie angerichtet haben, und wir wissen, wer davon betroffen worden ist.

Es unterliegt keinem Zweifel, daß das, was nach dem mitteldeutschen Aufstand, nach dem Kapp-Putsch, nach den Vorgängen in Bayern, Sachsen und Thüringen von den jeweiligen Gerichten verübt ist, einem Gefühl des Ressentiments entspricht, dessen saubere Charakterisierung diese Richter Richter in eigner Sache werden läßt, wobei niemand so glatt funktioniert wie der Angeklagte, der den Richter zu spielen in der glücklichen Lage ist. Lassen wir sie stehn, und blicken wir zurück.

Für politische Vergehen gibt es keine ›gerechten‹ Strafen. Hier versagt das Vokabularium einer sterbenden Ideologie vollständig: das[317] Recht ist in diesen Fällen ein reiner Zweckbegriff. Was also an Strafen gegen ›Landesverräter‹, ›Revolutionäre‹ und ›Hochverräter‹ verhängt worden ist, zeigt höchstens das Maß der richterlichen Erbitterung an, die Einschätzung der Angeklagten durch Richtbeamte, den vermeintlichen Grad ihrer Gefährlichkeit und die Vorbildung der richtenden Kaste. Mit dem objektiven Befund haben Verfahren, Urteilsspruch und Vollstreckung wenig oder gar nichts zu tun.

Der Staat steht heute so gesichert da, wie er das den Umständen nach verlangen kann. Eine Milde, die die schlimmsten Untaten korrigiert (denn sühnen kann man diese Leiden nicht, aufheben kann man sie nicht), die Milde einer Generalamnestie wäre also das mindeste, was wir verlangen können.

Für beide Teile –? Für beide Teile.

Selbst wenn diese vorbildlichen deutschen Richter, die sich ihre Unabhängigkeit, ihre Unbestechlichkeit, ihre Gradheit monatlich mindestens ein Mal selbst attestieren, die Leute von rechts auch nur annähernd in demselben Maßstab ins Zuchthaus gesteckt hätten wie die Leute von links –: selbst dann plädieren wir für eine Generalamnestie, die den unschuldig verurteilten Max Hölz ebenso beträfe wie die Schuldigen am Rathenau-Mord, »Es war eine unmenschliche Zeit«, hat einer der Verteidiger von rechts einmal gesagt. Versuchen wir, human zu sein.

Der Anlaß ist nicht schlecht gewählt.

Achtzig Jahre ist ein hohes Alter, und wer im Abendlicht auf den letzten Höhen steht, sieht sich wohl um, alles noch einmal recht bedenkend. Ein Greis darf verzeihen, und wenn in seinem Namen hier verziehen wird, so ist das fast eine Pflicht.

Es ist aber ein unanständiges Ausweichen, wenn von traurigen kleinen Ablässen gesprochen wird; wenn der schöne Gedanke einer allgemeinen Amnestie verfälscht, umgelogen, verdorben wird, indem »die Länder an Hand von Ausführungsbestimmungen . . . « Wir kennen die Melodie.

Der Sinn einer Amnestie ist ja grade, die regulären Organe der Rechtsprechung auszuschalten, und eine höhere Macht der Staatsgewalt ordnend in die blutigen Räder greifen zu lassen. Diese Amnestie, die da von den Beamten vorgeschlagen wird und von ihnen ausgeführt werden soll, ist überhaupt keine und kann nicht befriedigen.

Wie die Juristen bei uns schon erzogen sind: sie halten eine Amnestierung der von ihnen verurteilten Männer für einen Tadel, für eine Niederlage, für eine Schlappe ihrer eignen Tätigkeit und ihrer Gesinnung. Sie sind Fleisch vom Fleisch der Richter, die die Urteile ausgesprochen haben. Krähen sind schwarz und tragen Talare, sie hacken einander kein Auge aus.

Die Durchführung der Amnestie muß den Justizbeamten, die als politisch neutral nicht anzusprechen sind, aus den Händen genommen[318] werden. Sie sind ja erst die Ursache dieser Maßnahme. Es ist Sache des Reichspräsidenten, sie auszusprechen – es wäre Sache des Parlaments, die Ausführungsbestimmungen zu genehmigen.

Was die ›Länder‹ anbetrifft, so ist auf eine humane Vollstreckung der Amnestie durch sie nicht zu rechnen. Ganz abgesehen davon, daß Bayern niemals auch nur einen Revolutionär begnadigen wird, nachdem es schon so viele Mörder, die auf Seiten der Reaktion standen, begnadigt hat, wird das Reich mit dem sanften Druck allgemein gehaltener Wünsche einen solchen renitenten Bundesstaat, über den es ja de facto gar keine Macht besitzt, niemals veranlassen können, wirklich zu amnestieren. Was da herauskommt, ist eine Bierfarce.

Der Hohn, mit dem die amtliche Verlautbarung von der nicht »vorhandenen Amnestiefreudigkeit« spricht, läßt Bittres erwarten. Ich weiß nicht, ob in den Amtsstuben der Herren Justizminister die Freudigkeit sehr groß ist, das dünnste Minimum für die Wiederaufrichtung humaner Gedankengänge in der Rechtspflege zu tun – ich glaube es nicht. Tatsächlich gibt es auch nur in einem einzigen Kreise eine brennende, eine aufpeitschende, eine glühende Amnestiefreudigkeit: das ist der Kreis derer, die auf den Gefängnishöfen im Kreis spazieren getrieben werden. Und nur auf ihn kommt es an. Der gehobene Amtsrichter, der da grade auf dem Sessel des Justizministers sitzt, ist uns ziemlich gleichgültig.

Was die deutsche Justiz gesündigt hat, kann sie wenigstens zu einem Teil heute gutmachen. Niemand erwartet es von ihr. Alle verlangen es von ihr. Man weiß nicht, was bei den wenig Amnestiefreudigen größer ist: ihre Phantasielosigkeit, sich fremde Leiden vorzustellen, ihre Herzenskälte oder ihre teuflische Korrektheit, die die Verantwortung so lange aufgeteilt hat, bis sie zum Schluß keiner mehr trägt. In Frankreich exzediert der einzelne, wenn das System, ›la routine‹, schlägt; in Rußland erschießt der Henker im Winter ein altes Mütterchen, das ganz hinten in der Reihe steht, vorher, damit es nicht so friert – in Deutschland quälen wir die Leute korrekt zu Tode.

Bevor wir sie eines Tages – sehr inkorrekt – wieder herausholen können, sprechen Bibel, Weisheit, das simpelste Gefühl des Herzens und Anständigkeit für die völlige, vorbehaltlose und generelle Amnestie der politischen Strafgefangenen.


  • [319] · Kurt Tucholsky
    Die Weltbühne, 27.09.1927, Nr. 39, S. 469.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 5, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 317-320.
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