Abendlied

[218] Auf den Bergen liegt der Schatten,

und der See ist dunkelgrün.

Von den Sechs-Mark-fünfzig-Platten

singt Maria Ivogün . . .

Horch, die schöne Melodie:

»Tralahü – lahü – lahi!«

Dumpf tönts von der Kegelbahn – – –

. . . Was hast du am Tag getan –?


Hast du einen Brief geschrieben?

Hast du im Büro gepennt?

Hast du Unkeuschheit getrieben?

Nahmst du 101/2 Prozent

als Bankier der Industrie . . .

Tralahü – lahü – lahi –

Singt sie nicht wie Marzipan!

. . . Was hast du am Tag getan?


Hast des Staates du im stillen

dankbar-demutsvoll gedacht?

Hast du Margot Abführpillen,

die sie wollte, mitgebracht?

Dachtest du, wie Hitler schrie . . .

Tralahü – lahü – lahi –

mit dem bierigen Organ – – –

Was hast du am Tag getan?


Morgen, denkst du, bin ich schlauer.

Morgen fang ichs richtig an.

Jeder – Städter oder Bauer –

ist zur Nacht ein kluger Mann.

Aber welche Ironie –

Tralahü – lahü – lahi –:

Morgen leben alle Leute

egalweg genau wie heute.


  • [218] · Theobald Tiger
    Simplicissimus, 15.09.1930, S. 298.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 8, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 218-219.
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