Nachher

[127] »Wir sprechen immer von da unten!« sagte er. »Haben wir eigentlich keine andern Sorgen?« – »Wenn ich mich mit Ihnen unterhalte«, sagte ich, »das ist wie Klatsch. Man plätschert behaglich in dieser dicken Suppe – Sie wissen immer so schön, wie ichs meine . . . mit jedem kann man das nicht.« – »Danke«, sagte er.

Wir saßen an der Selbstleber-Ecke; von hier war es einigen Verdrehten gelungen, wieder ins Leben zurückzuspringen – ein Verzweiflungsakt, der nur alle paar Jahre einmal vorkam. Ein Ungewisses Astrallicht zitterte um uns. Ich fing wieder an.

»Ich muß Sie etwas fragen«, sagte ich. Er nickte zustimmend. »Kennen Sie den Haß der Nähe?« – »Sie meinen: die Geschichte mit der Ehe. Ich war vierzehn Jahre . . . « – »Nein, das meine ich nicht«, sagte ich. »Es ist etwas andres. Passen Sie auf:

Der Rennreiter steht an den Tribünen, das Pferd ist abgesattelt, er hat gewonnen, ist sauber gebadet und schön massiert, er ist guter Laune. Bei ihm steht sein Freund, der Bücherschreiber. Dem will er ein gesellschaftlich passendes Wort sagen. ›Habe gestern das neue Buch von Agnes Günther gelesen‹, sagt er, ›ein sehr schönes Buch!‹ Aber da kommt er an den Rechten. ›Was!‹ sagt der bücherschreibende Freund, ›ein schönes Buch? Die Günther und ein schönes Buch? Na, hören Sie mal . . . das ist der hundsgemeinste Kitsch, der mir jemals . . . ‹ Der Rennreiter ist ganz erschrocken. Was ist das? Er hat doch nur eine belanglose Phrase sagen wollen, irgend etwas Verbindlich-Unterhaltsames – ihm ist das Buch in Wirklichkeit völlig gleichgültig . . . Und der andre schäumt. Er zitiert Agnes Günther und Erika Händel-Manzonetti und Waldemarine Bonsels, und was Sie wollen! Und schäumt und geifert und tobt und ist ganz befangen in seinem Kram . . . «

Ein älterer, bebarteter Geist huschte vorüber, murmelte etwas von »überwertiger Idee«, bekam einen Meteorstein ins Kreuz und verschwand. Ich fuhr fort:

»Und umgekehrt ist es genau so. Der Literat besichtigt die Maschine des Ingenieurs, wird in der Fabrik herumgeführt . . . Und sagt: ›Hübsche Maschine das –!‹ Der Ingenieur lächelt, zunächst nachsichtig. ›Das ist eine belanglose Sache, lieber Freund!‹ antwortet er. ›Um Ihnen die Wahrheit zu sagen: der größte Dreck des Jahrhunderts. Unpraktisch, total verbogen, unmöglich.‹ Und dann schnurrt er Zahlenreihen ab, daß dem Besucher ganz himmelangst wird, er beschimpft seine Konkurrenten und lobt versteckt sich, preist Amerika und spielt das russische Spiel: Naplewatj na wsju Ewropu! Spuck auf ganz Europa . . . Und der Literat steht da, verdutzt, vor den Kopf gehauen und kann sich diesen Eifer gar nicht erklären . . . «

»Ja«, sagte er. »Das kenne ich.« – »Woher kommt es –?« sagte ich.

»Niemand kann sich einen Passanten vorstellen«, sagte er. »Alle glauben, man kenne die Hintergründe, wisse, wie es gemacht wird,[127] sehe die Sache auch von hinten an, gewissermaßen. Aber dem Vorübergehenden ist das ja alles so völlig gleichgültig, so ganz und gar gleichgültig. Er will nichts als die Resultate. Er geht eben so vorbei, pickt sich hier ein Körnchen und da, etwas Wissen, Unterhaltung, Anschauung – mögen die sich da die Knochen zusammenschlagen! Und wie sie schlagen! Sie packen ihren ganzen Hauskram aus, sie erzählen Einzelheiten, berichten, wie es zustande gekommen ist, und wie es hätte werden müssen . . . Sie sind nicht zu halten. Wie sie sich hassen, die Nahen –!«

»Sind Sie mal in einen fremden Familienzank hineingeraten?« sagte ich. Er horchte auf. »Die heißen Köpfe, die roten Gesichter, der Eifer, dieser Übereifer, diese für den Fremden ganz unverständliche Kraft des Hasses, der Abneigung . . . Welch ein Aufwand! Welch tönendes Geschrei!«

»Nah sind sie sich«, sagte er, »Sie rächen sich für die Nähe – sind sich verwandt, gruppenweise, alle miteinander. Sie hassen sich im Nebenmann, drum herum liegt die ganze große Welt, sie sehen sie nicht – sie können sie nicht sehen. Es sind Generale fürs Spezielle. Man möchte sie herausheben und zur Abkühlung etwas hochhalten. Wer, ich bitte Sie, wer sieht über weite Strecken, wer sieht die Welt, wer sieht alles –?«

In der Ferne zuckte eine Lichtschneide auf, es murrte schwach, wir sagten nichts mehr.


  • · Kaspar Hauser
    Die Weltbühne, 22.12.1925, Nr. 51, S. 964.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 10, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 127-128.
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