Zwölftes Kapitel.

[89] Der Stadt X..., wohin sich die beiden Freunde begaben, stand als Gouverneur ein noch junger Mann vor, der, wie man es oft in Rußland findet, Fortschrittsmann und Despot zugleich war. Schon im ersten Jahr seines Dienstantritts war er so geschickt gewesen, sich nicht nur mit dem Adelsmarschall, einem pensionierten Generalstabsoffizier, großem Pferdezüchter und nebenbei sehr gastfreundlichem Mann, sondern auch mit seinen eigenen Beamten zu überwerfen. Die Differenzen, die daraus hervorgingen, hatten in dem Maße zugenommen, daß der Minister sich veranlaßt sah, einen Vertrauensmann an Ort und Stelle zu senden, um die Dinge wieder ins Geleis zu bringen. Diese Sendung war Matthias Ilitsch Koliazin, dem Sohn des Koliazin übertragen, der ehemals Vormund der Brüder Kirsanoff gewesen war. Er war gleichfalls ein Beamter von der jungen Schule, obwohl er die Vierziger schon überschritten hatte; er hatte sich jedoch vorgenommen, ein Staatsmann zu werden, und trug auch bereits zwei Sterne auf der Brust. Einer derselben war übrigens nur ein ausländischer, wenig geschätzter Orden. Gleich dem Gouverneur, über den er zu urteilen kam, galt er für einen Fortschrittsmann, und so einflußreich er auch war, unterschied er sich doch wesentlich von andern Beamten seines Rangs. Er hatte allerdings eine sehr hohe Meinung von sich und eine grenzenlose Eitelkeit, doch waren seine Formen einfach, und in seinem Blick lag etwas Ermunterndes; er hörte mit Wohlwollen zu und lachte so natürlich, daß man ihn beim ersten Begegnen für einen »guten Kerl« hätte halten können. Übrigens war[90] er ganz der Mann, wenn es die Umstände erforderten, rücksichtslose Strenge walten zu lassen.

»Energie ist unerläßlich,« sagte er, »sie ist die vornehmste Eigenschaft eines Staatsmanns.« Trotz dieser stolzen Sprache aber ward er fast immer düpiert, und jeder nur etwas erfahrene Beamte führte ihn an der Nase herum. Matthias Ilitsch machte viel Aufhebens von Guizot und bemühte sich, jeden, der ihn anhören wollte, zu überzeugen, daß er keiner von jenen zurückgebliebenen Beamten sei, von jenen Männern der Routine, wie man so viele findet; daß seiner Wahrnehmung keine der großen Erscheinungen des sozialen Lebens entgehe ... Derartige Schlagwörter waren ihm durchaus vertraut. Auch den literarischen Bewegungen folgte er; aber er gefiel sich darin, es mit einer majestätischen Herablassung zu tun, ungefähr wie ein Mann von reiferem Alter manchmal auf ein paar Augenblicke einem Auflauf von Straßenjungen nachgeht. In der Tat hatte Matthias Ilitsch die Staatsmänner aus der Regierungszeit Alexanders I. nicht sehr überholt, welche damals in Petersburg, wenn sie sich auf eine Soiree bei Madama Swetschine vorbereiteten, morgens ein Kapitel aus Condillac lasen; nur seine Formen waren etwas zeitgemäßer. Er war ein gewandter Höfling, ein höchst seiner Mann, nichts weiter; er hatte keinen Begriff von Geschäften und dabei Mangel an Geist; aber sein eigenes Interesse verstand er sehr gut. Darüber konnte ihn niemand täuschen, und dies ist ein Talent, dem man sein Verdienst nicht abstreiten kann.

Matthias Ilitsch empfing Arkad mit dem einem aufgeklärten Beamten eigenen Wohlwollen, wir möchten fast sagen mit Heiterkeit. Doch ward er bei der Nachricht[91] etwas verstimmt, daß die übrigen Eingeladenen auf dem Lande zurückgeblieben seien. »Dein Papa war immer ein Original,« sagte er zu Arkad und ließ die Quasten seines prächtigen Samtschlafrocks durch die Finger gleiten; dann wandte er sich rasch zu einem jungen Beamten in streng zugeknöpfter Interimsuniform und herrschte ihn mit Amtsmiene an: »Nun, und Sie?« Der junge Mann, dem langes Schweigen die Lippen versiegelt hatte, richtete sich auf und betrachtete seinen Vorgesetzten mit dem Ausdruck der Überraschung. Matthias Ilitsch aber, nachdem er ihn so verblüfft hatte, schenkte ihm nicht die geringste Beachtung mehr. Unsere Oberbeamten lieben es insgemein, ihre Untergebenen zu verblüffen; die Mittel aber, deren sie sich dazu bedienen, sind ziemlich verschieden. Eins zum Beispiel unter andern ist sehr beliebt, »is quite a favourite«, wie die Engländer sagen. Der Oberbeamte versteht plötzlich die einfachsten Worte nicht mehr, als ob er von Taubheit befallen wäre. Er fragt z.B. nach dem Wochentag. Man antwortet ihm untertänigst:

»Freitag, Euer Exzellenz.«

»He? Was? Was ist – Was sagen Sie?« versetzt darauf der Oberbeamte gedehnt.

»Es ist heute Freitag, Euer Exzellenz.«

»Wie, was, was ist mit dem Freitag, was für ein Freitag?«

»Freitag, Euer Exzellenz, ein Wochentag.«

»Wie, du nimmst dir heraus, mich belehren zu wollen?«

Ein Oberbeamter dieses Schlags war Matthias Ilitsch, trotz all seinem Liberalismus.

»Ich rate dir, mein Lieber,« sagte er zu Arkad, »dem Gouverneur deinen Besuch zu machen. Du verstehst mich;[92] wenn ich dir diesen Rat gebe, so darfst du darum nicht denken, ich halte noch an der alten Regel, daß man den Autoritäten den Hof machen muß; ich rate dirs, weil der Gouverneur ganz einfach ein Mann comme il faut ist; überdies hast du doch wohl die Absicht, unsere Gesellschaft zu besuchen. Ich hoffe, du bist kein Bär? Der Gouverneur gibt übermorgen einen großen Ball.«

»Werden Sie demselben auch beiwohnen?« fragte Arkad.

»Er gibt ihn ja meinetwegen,« sagte Matthias Ilitsch fast mitleidig. »Du tanzest doch?«

»Ja, aber ziemlich schlecht.«

»Um so schlimmer, es kommen einige hübsche Frauen, und zudem ist es für einen jungen Mann eine Schande, nicht tanzen zu können. Ich wiederhole dir, ich sage dies nicht aus Anhänglichkeit an den alten Brauch, ich meine durchaus nicht, der Geist stecke in den Beinen, aber den Byronismus finde ich lächerlich, er hat sich überlebt.«

»Glauben Sie denn, lieber Onkel, daß der Byronismus ...«

»Ich werde dich mit unsern Damen bekannt machen. Ich nehme dich unter meine Fittiche,« erwiderte Matthias Ilitsch mit wohlgefälligem Lächeln. »Da wirst du warm sitzen! He?«

Ein Bedienter trat ein und meldete den Präsidenten der Finanzkammer, einen Greis mit honigsüßem Blick und eingekniffenen Lippen, der für die Natur schwärmte, zumal im Sommer, wenn, wie er sagte, die fleißige Biene aus jeder Blume ihr Schöppchen zapft.

Arkad zog sich zurück.

Er fand Bazaroff in dem Gasthaus, in dem sie abgestiegen[93] waren, und es gelang seinem Zureden, daß dieser einwilligte, mit zum Gouverneur zu gehen.

»Meinetwegen,« sagte er, »wenn man den kleinen Finger gegeben hat, so muß man auch die Hand reichen. Wir sind gekommen, um die Herren Gutsbesitzer kennen zu lernen. Also lernen wir sie kennen.«

Der Gouverneur empfing die jungen Leute freundlich, aber er lud sie nicht ein, zu sitzen, und blieb selbst auch stehen. Er hatte immer eine Amtsmiene; kaum aufgestanden, steckte er sich in seine große Uniform, legte eine enganschließende Krawatte an und ließ sich die Zeit nicht, sein Frühstück in Ruhe zu nehmen, um ja nichts von seinen Geschäften zu versäumen. Er hatte im Gouvernement den Spitznamen »Bourdaloue«, keineswegs mit Anspielung auf den berühmten französischen Prediger, sondern auf das Wort »Bourde«, was bekanntlich »Flause« bezeichnet. Er lud Arkad Kirsanoff und Bazaroff zu seinem Balle ein und wiederholte diese Einladung nach ein paar Minuten, wobei er sie für zwei Brüder nahm und ihnen den Namen Kaisarof gab.

Als sie das Haus des Gouverneurs verließen, begegneten sie einer Droschke, die plötzlich stillhielt; ein junger Mann mittlerer Größe, in einem polnischen Schnurrock nach der Mode der Slawophilen, sprang heraus und lief mit dem Rufe: »Eugen Wassiliewitsch!« auf Bazaroff zu.

»Ah, Sie sinds, Herr Sitnikoff,« sagte Bazaroff, ohne stehenzubleiben. »Was führt Sie hierher?«

»Stellen Sie sich vor, ich bin ganz zufällig hier,« erwiderte dieser, wandte sich nach der Droschke, winkte fünf-, sechsmal mit der Hand und rief: »Fahr nach, fahr nach! Mein Vater«, fuhr er fort, indem er über die Gosse sprang,[94] »hat ein Geschäft hier und hat mich ersucht ... Ich habe heute erfahren, daß Sie auch hier sind, und komme eben von Ihnen her. (In der Tat fanden die Freunde bei ihrer Rückkunft in den Gasthof eine umgebogene Karte vor, welche auf der einen Seite den Namen Sitnikoff mit lateinischen, auf der andern mit slawischen Lettern trug.) Ich hoffe doch, Sie sind nicht beim Gouverneur gewesen?«

»Hoffen Sie nicht? Wir kommen von ihm her.«

»Ah, dann gehe ich auch hin. Eugen Wassilitsch, stellen Sie mich doch Ihrem Herrn ... diesem Herrn vor.«

»Sitnikoff – Kirsanoff,« murmelte Bazaroff, ohne anzuhalten.

»Es freut mich sehr,« hob Sitnikoff, gegen Arkad gewendet, mit anmutigem Lächeln an, während er seine Handschuhe, die von der ausgezeichnetsten Eleganz waren, rasch auszog. »Ich habe schon viel von Ihnen reden hören. Ich bin ein alter Bekannter von Eugen Wassilitsch und darf mich sogar seinen Schüler nennen. Ich verdanke ihm meine Umwandlung.«

Arkad warf die Augen auf den umgewandelten Schüler Bazaroffs; sein kleines, glattes Gesicht und seine regelmäßigen Züge hatten einen unruhigen, gespannten, aber beschränkten Ausdruck; seine Augen blickten stier und unstet zugleich, sein Lachen sogar, kurz und trocken, hatte etwas Wirres.

»Sie werden mir kaum glauben,« fuhr er fort; »als Eugen Wassilitsch mir zum erstenmal erklärte, man brauche keine Autorität anzuerkennen, empfand ich eine solche Freude ... ich fühlte mich wie neugeboren! Endlich doch einmal ein Mann! sagte ich mir. Apropos, Eugen Wassilitsch,[95] Sie müssen notwendig eine hiesige Dame besuchen, die ganz auf Ihrer Höhe steht, und für die Ihr Besuch ein wahres Fest sein wird; Sie müssen schon von ihr gehört haben.«

»Wer ists?« fragte Bazaroff gelangweilt.

»Eudoxia Nikitischna Kukschin. Das ist eine merkwürdige Natur, emanzipiert im vollsten Sinne des Wortes, ein wahrhaft fortgeschrittenes Weib, müssen Sie wissen! Laßt uns jetzt gleich alle drei zu ihr gehen, sie wohnt zwei Schritt von hier. Wir frühstücken da ... ihr habt doch noch nicht gefrühstückt?«

»Nein.«

»Vortrefflich! Sie lebt natürlich getrennt von ihrem Mann und ist unabhängig ...«

»Ist sie hübsch?« fragte Bazaroff.

»Nein, das kann ich nicht sagen.«

»Warum zum Teufel sollen wir sie dann besuchen?«

»Scherz beiseite, sie wird uns eine Flasche Champagner auftischen.«

»Wahrhaftig! Der praktische Mann verrät sich bald. Apropos, macht Ihr Vater immer noch in Branntwein?«

»Ja,« erwiderte Sitnikoff rasch mit erzwungenem Lächeln. »Nun, kommen Sie mit?«

»Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«

»Du wolltest ja Beobachtungen anstellen,« sagte Arkad halblaut.

»Und Sie, Herr Kirsanoff,« fügte Sitnikoff hinzu, »Sie kommen doch auch? Wir gehen nicht ohne Sie.«

»Wir können doch nicht alle drei nur so ins Haus fallen ...«

»Das tut nichts. Die Kukschin ist ein gutes Ding.«[96]

»Sie wird uns also eine Flasche Champagner auftischen?« wiederholte Bazaroff.

»Drei,« rief Sitnikoff, »ich stehe dafür.«

»Womit?«

»Mit meinem Kopf.«

»Des Papas Beutel wäre ein besseres Pfand gewesen. Aber gleichviel, gehen wir hin!«

Quelle:
Turgenjeff, Iwan: Väter und Söhne. Leipzig [1911], S. 89-97.
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