Neunzehntes Kapitel.

Jim als Araber. – Pastor Alexander Blodgett zieht Erkundigungen ein. – Neue Pläne. – Familien-Trauer. – Die Erbschaft. – Rührende Großmut.

[159] Am nächsten Tage, gegen Abend, legten wir an einer kleinen Weideninsel mitten im Strome an. Auf jedem der beiden Ufer war ein Städtchen. König und Herzog planten schon wieder, wie sie wohl die beiden Orte ausbeuten könnten. Da sagte Jim zum Herzog: »Jim hoffen, Ihr sein nix lang fort, sein so viel schlimm, zu liegen ganzen Tag gebunden in Zelt.« Wir konnten nämlich nicht anders als ihn binden, denn wenn ihn zufällig jemand frei und allein angetroffen hätte, so wäre er sicher für einen entlaufenen Neger gehalten worden. Der Herzog meinte, es sei allerdings beschwerlich für Jim, und versprach, sich zu besinnen, wie es Jim bequemer gemacht würde.

Er war ganz gescheit, dieser Herzog, und kam bald auf einen Gedanken. Er verkleidete Jim als König Lear. Es war ein langes Gardinen-Kalikogewand, weiße Roßhaar-Perücke und Bart. Dann nahm er seine Schminke und färbte Jims Gesicht, Hals, Ohren und Hände in fahles Blau, wie eine vor neun Tagen ertrunkene Leiche. Er sah ganz schauderhaft aus. Dann machte der Herzog aus einer großen Dachschindel ein Schild und schrieb darauf:


»Kranker Araber – aber harmlos wenn bei Sinnen.«


Dann nagelte er dies Schild an eine Stange und steckte sie vier bis fünf Fuß vor dem Zelte auf. Jim war befriedigt. Er meinte, es wäre viel besser, als Tag für Tag gebunden da zu liegen und bei jedem Geräusch vor Angst zu zittern. Der Herzog sagte ihm, er dürfe sich's jetzt bequem machen,[160] und wenn irgend jemand sich unnötig um ihn bekümmere, solle er nur aus dem Zelt springen, sich etwas unsinnig gebärden und ein-oder zweimal aufheulen wie eine wilde Bestie, dann würden die Leute schnell ausreißen und ihn in Ruhe lassen.

Die beiden Teufelskerle hätten das »Non plus ultra« gern noch einmal versucht, weil so viel Geld dabei herauszuschlagen sei, allein sie fürchteten, die Kunde davon könnte sich bereits bis hierher verbreitet haben. Sie konnten über kein projekt ganz einig werden; da sagte endlich der Herzog, man solle ihn für ein bis zwei Stunden ganz in Ruhe lassen, er wolle sein Gehirn anstrengen und zusehen, ob sich mit dem Arkansas-Städtchen nicht doch etwas aufstellen ließe; der König dagegen wollte ohne besondern Plan das andere Städtchen besuchen im Vertrauen darauf, daß ihn die Vorsehung auf einen profitablen Weg führe – damit meinte er den Teufel, glaub' ich. In dem Ort, wo wir zuletzt angehalten, hatten wir uns alle neue fertige Anzüge gekauft. Der König zog seinen an und hieß mich auch den meinigen anziehen, was ich aucht hat.

Des Königs Anzug war ganz schwarz und er sah darin steif und fein aus. Nie hatte ich geahnt, wie Kleider einen Menschen verändern können. Vorher hatte er wie ein ganz gewöhnlicher Kerl ausgesehen; aber nun, wenn er seinen neuen weißen Filzhut lüftete und sich mit einem Lächeln verbeugte, sah er so erhaben und gut und fromm aus, daß man hätte glauben können, er sei eben aus der Arche gestiegen und könnte der alte Levitikus selbst sein. Jim reinigte das Kanoe und ich machte mein Ruder zurecht. Etwa drei Meilen oberhalb des Städtchens lag ein großes Dampfboot, das schon zwei Stunden dalag und Fracht einlud. Da sagte der König:

»So wie ich gekleidet bin, ist's, glaub' ich, besser, wenn[161] ich von St. Louis, Cincinnati oder einer andern großen Stadt angereist komme. Also zum Dampfboot hin, Huckleberry; wir wollen auf ihm das Städtchen besuchen.«

Eine Dampfschiffahrt zu machen, das ließ ich mir nicht zweimal sagen. Ich gewann das Ufer eine halbe Meile oberhalb des Städtchens und dann ging's leicht hinauf, dicht am Ufer im strömungslosen Wasser. Bald kamen wir zu einem netten, harmlos und sehr ländlich aussehenden jungen Burschen, der auf einem Sägeblock saß und sich den Schweiß von der Stirne wischte, denn es war arg warmes Wetter und er hatte ein paar große Reisesäcke bei sich.

»Fahr' ans Land,« sagte der König. Ich that's.

»Wohin, mein junger Freund?« redete er nun den fremden Burschen an.

»Zu dem Dampfboot; nach Orleans.«

»Steig' ein,« sagte der König. »Wart' einen Augenblick, mein Diener wird dir bei den Säcken helfen. Spring' raus und hilf dem Herrn, Adolfus« – ich merkte, daß er mich meinte.

Nun, ich that's, und wir drei fuhren weiter. Der junge Bursche war sehr dankbar und meinte, es sei eine harte Arbeit, bei solchem Wetter sein Gepäck zu tragen. Er fragte den König, wohin er ginge; dieser sagte, er sei den Fluß herabgekommen und früh morgens im andern Städtchen gelandet, und nun ginge er einige Meilen hinauf, um einen Freund auf seiner »Farm« zu besuchen. Der Junge sagte dann:

»Als ich Sie zuerst sah, sagte ich zu mir selbst: ›Das ist sicherlich Herr Wilks, und er kommt nicht mehr zur rechten Zeit.‹ Dann dachte ich aber: ›Nein, er kann's nicht sein, er würde nicht hier den Fluß heraufrudern.‹ Sie sind's doch nicht, was?«

»Nein, mein Name ist Blodgett – Alexander Blodgett[162] – Hochwürden Alexander Blodgett – ein Diener des ›Herrn‹. Indessen thut es mir doch aufrichtig leid, daß Herr Wilks nicht zur rechten Zeit eingetroffen ist, wenn er dadurch etwas versäumt hat, was ich nicht hoffen will.«

»Nun, die Erbschaft geht ihm nicht verloren, die bekommt er sicher; aber seinen Bruder Peter wird er nun nicht mehr am Leben finden – für den Fall, daß ihm daran gelegen war, was ich nicht wissen kann. Aber sein Bruder hätte sehr viel darum gegeben, ihn vor seinem Ende noch einmal zu sehen; er sprach von nichts anderm die letzten drei Wochen; hat ihn nicht gesehen, seit sie Knaben waren –, seinen jüngsten Bruder William – 's ist der Taubstumme, und jetzt erst Dreißig bis Fünfunddreißig alt – hat er überhaupt nie gesehen. Peter und George waren die einzigen hierzulande; George war der verheiratete Bruder; er und seine Frau starben beide letztes Jahr. Harry und William sind allein noch übrig; und sind nun leider nicht zur rechten Zeit eingetroffen.«

»Hat man ihnen denn geschrieben?«

»O ja – vor ein bis zwei Monaten, als Peter erkrankte; denn er ahnte schon damals, daß es diesmal mit ihm zu Ende gehen würde. Wissen Sie, er war ziemlich alt und Georges Töchter waren zu jung, um ihm viel Gesellschaft zu leisten, außer der Mary Jane, der rothaarigen. So fühlte er sich recht einsam, nach dem George und seine Frau gestorben waren, und es lag ihm nichts mehr am Leben. Er sehnte sich schrecklich danach, Harry zu sehen – und auch den William, denn er war einer von denen, die ungern ein Testament machen. So hinterließ er nur einen Brief für Harry und sagte, daß er darin verzeichnet hätte, wo sein Geld versteckt sei und wie er den Rest seiner Habe so zu verteilen wünschte, daß Georges Mädchen ein Auskommen hätten – denn[163] ihr Vater George hatte nichts hinterlassen. Zu einem richtigen Testament konnte man Peter Wilks nicht bringen; dieser Brief ist alles.«

»Was, meinst du, ist der Grund, daß Harry nicht kommt? Wo wohnt er?«

»O, er wohnt in England – Sheffield – predigt dort – ist nie in diesem Lande gewesen. Er mag wenig übrige Zeit haben – und vielleicht hat er gar nicht einmal den Brief erhalten.«

»Traurig, recht traurig, daß er nicht lange genug leben konnte, seinen Bruder zu sehen, arme Seele! – Du sagst, du gehst nach Orleans?«

»Ja, aber das ist nur ein Teil der Reise, von dort gehe ich in einem Segelschiff nach Rio Janeiro, wo mein Onkel wohnt.«

»Das ist eine lange Reise, muß aber recht schön sein; ich wünschte, ich könnte sie auch machen. Ist Mary Jane die älteste? Wie alt sind die anderen?«

»Mary Jane ist neunzehn, Susan fünfzehn und Joanna etwa vierzehn – das ist die Wohlthätige und hat eine Hasenlippe.«

»Die armen Dinger! so allein in der kalten Welt zu bleiben.«

»Nun, sie könnten schlimmer dran sein. Der alte Peter hatte Freunde und die werden schon dafür sorgen, daß ihnen kein Leid geschieht. Da ist Hobsen, der Baptisten-Prediger, und Vorsteher Lot Hovey, und Ben Rucker, und Abner Shackleford, und Levi Bell, der Advokat, und Dr. Robinson und deren Frauen und die Witwe Bartley, und – nun ja, eine ganze Menge; aber mit den Genannten war Peter am intimsten, und schrieb auch zuweilen von ihnen in den Briefen an seinen Bruder, und wenn dieser jetzt kommt, wird er wissen, wo er Freunde findet.«[164]

Nun, der Alte fragte und fragte, bis er den Jungen förmlich ausgepumpt hatte. Verdammt, wenn er sich nicht über jeden und alles in dem ganzen Städtchen erkundigte, über alle Wilkse, über Peters Beruf – der ein Gerber gewesen, über Georges – der ein Schreiner gewesen, über Harry – der, wie wir schon gehört, ein Geistlicher ist, und dergleichen mehr. Dann sagte er:

»Warum wolltest du denn den ganzen Weg bis zum Dampfboot hinaufgehen?«

»Weil das ein großes Orleans-Boot ist und dort vielleicht nicht gehalten hätte. Wenn schwergeladen, halten sie selbst auf ein Signal nicht immer an. Ein Cincinnati-Boot thut es, aber dies ist ein St. Louis-Boot.«

»War Peter Wilks wohlhabend?«

»O ja, ziemlich wohlhabend. Er hatte Häuser und Land, und man glaubt, daß er drei- bis viertausend Dollars in Bargeld irgendwo versteckt hielt.«

»Wann starb er, sagtest du?«

»Ich sagte es nicht, aber es war letzte Nacht.«

»Begräbnis wohl morgen?«

»Ja, gegen Mittag.«

»Ach, das ist recht, recht traurig; aber einmal müssen wir alle sterben, dieser früher, jener später. Drum sollten wir danach trachten, stets zur letzten Reise vorbereitet zu sein. Dann ist alles gut.«

»Ja, Herr, das ist am besten. – Mutter hat's auch immer gesagt.«

Als wir das Dampfboot erreichten, war es mit Frachteinladen fertig und stieß bald ab. Der König gebot mir aber, noch eine Meile weiter zu rudern an einen einsamen Ort. Dann stieg er ans Land und sagte:

»Jetzt rasch zurück und bring mir den Herzog mit und[165] die neuen Reisetaschen. Sollte er ans andere Ufer gegangen sein, geh hin und hol ihn. Sag' ihm, er soll sich so fein als möglich machen.«

Ich merkte, was er im Schilde führte, sagte aber natürlich kein Wort. Als ich mit dem Herzog zurückkam, versteckten wir das Kanoe, und sie setzten sich auf einen Holzblock. Der König erzählte ihm alles, gerade wie's der Bursche erzählt hatte, nichts ließ er aus. Und die ganze Zeit bemühte er sich, wie ein Engländer zu sprechen, und that's auch ganz gut für solch einen Kerl. Dann sagte er:

»Kannst du die Taubstummenrolle gut spielen, Sommerfett?«

»Und ob!« rief der Herzog, »hab's auf den histrionischen Brettern gethan.« So und nun warteten sie auf ein Dampfschiff.

Während des Nachmittags kamen zwei kleine Dampfer, aber sie waren nicht weit her; endlich kam ein großes Dampfboot, und wir riefen es an. Ein Kahn wurde uns zugeschickt, und wir gingen an Bord. Das Dampfboot kam von Cincinnati. Als der Kapitän hörte, daß wir nur vier bis fünf Meilen mitreisen wollten, wurde er sehr ärgerlich, fluchte und sagte, er würde uns dort nicht ans Land setzen. Der König blieb ruhig und sagte:

»Wenn Herren im stande sind, einen Dollar per Meile à Person zu bezahlen, um in einem Kahn geholt und abgesetzt zu werden, so ist wohl auch ein Dampfboot im stande, sie mitzunehmen, nicht wahr?«

»Das besänftigte den Kapitän – er war's zufrieden und wir wurden im Städtchen zu Kahne ans Land gesetzt. Etwa zwei Dutzend Männer kamen herbei, als sie den Kahn kommen sahen; und als der König sagte: ›Kann irgend einer der Herren mir sagen, wo Herr Peter Wilks wohnt?‹ da blickten sie einander an und nickten sich zu, als wollten sie sagen: ›Siehst du, was sagte ich dir?‹ Dann sprach einer weich und zart:

Es thut mir leid, Herr, aber wir können nicht mehr[166] thun, als Sie an die Stelle zu führen, wo er gestern abend noch lebte.«

Da, plötzlich, schien unsern Alten alle Kraft zu verlassen, er fiel gegen den Mann, mit seinem Kinn auf dessen Schulter, und weinte ihm seine Thränen den Rücken hinunter:

»Ach, ach,« stöhnte er, »unser armer Bruder – dahin und durften ihn nicht wiedersehn; o, das ist zu, zu hart!«

Dann wandte er sich um – schluchzend – und machte allerlei unsinnige Zeichen und da ließ auch der Herzog die Reisetasche fallen und brach in Thränen aus. Sie waren das niedergeschlagenste Paar, diese zwei Betrüger, das ich je gesehen habe.

Die Männer umgaben und bemitleideten sie und sagten allerlei freundliche Worte, trugen ihre Reisetaschen den Hügel hinauf und hielten an, wenn sie vor Schluchzen nicht mehr weiter konnten. Sie erzählten dem König alles über seines Bruders letzte Minuten, und der König wiederholte alles mit seinen Händen dem Herzog.

In zwei Minuten wußte es die ganze Stadt, und das Volk kam herbeigerannt von allen Ecken und Enden. Bald waren wir mitten in einer großen Menge und das Geräusch des Gehens klang wie ein Soldatenmarsch. Fenster und Thüren standen voll Menschen und alle Augenblicke hörte man jemand über den Zaun rufen:

»Sind sie's?«

Und jemand aus der mitlaufenden Menge antwortete:

»Darauf könnt ihr wetten.«

Als wir zum Hause kamen, war die Straße gedrängt voll Menschen, und die drei Mädchen standen in der Thüre. Mary Jane war rothaarig, das schadete ihr aber nichts, denn sie war schrecklich hübsch, und ihr Gesicht und ihre Augen waren wie verklärt – sie freute sich so, daß ihre Onkel gekommen[167] waren. Der König breitete die Arme aus und Mary sprang hinein und die ›Hasenlippe‹ sprang zum Herzog – und so hatten sie sich. Fast alle, wenigstens die Frauen, weinten vor Freude über dies Wiedersehn und die Freude der Beteiligten.

Dann gab der König dem Herzog einen geheimen Wink – ich sah es – sah sich um und erblickte den Sarg in einer Ecke auf zwei Stühlen; dann legten die beiden je einen Arm einander auf die Schultern, bedeckten mit der andern Hand die Augen, schritten langsam und feierlich hinüber – alle machten ihnen Raum, Gespräch und Geräusch hörten auf, und einige riefen »Sch!« Alle Männer nahmen die Hüte ab und senkten ihre Köpfe – man hätte eine Stecknadel fallen hören können. Am Sarge angelangt, beugten sich die beiden darüber, warfen einen Blick hinein und fingen dann an, so laut zu jammern, daß man sie fast in Orleans hätte hören können. Dann umarmten sie einander und hingen ihr Kinn einer über des andern Schulter und drei, vielleicht auch vier Minuten lang ließen ihre Augen Wasser fließen, wie ich's nie von zwei Männern gesehen habe. Und die andern machten es ihnen nach. Dann knieten sie auf den entgegengesetzten Seiten des Sarges nieder, legten ihre Köpfe darauf und thaten, als ob sie im Stillen beteten. Dies alles machte einen mächtigen Eindruck auf die Versammlung, und alles brach zusammen und schluchzte laut – die drei armen Mädchen auch, und fast jede Frau ging zu ihnen, ohne ein Wort zu sagen, küßte sie feierlich auf die Stirn, legte ihnen die Hand auf den Kopf, sah gen Himmel mit thränenvollen Augen, brach in lautes Schluchzen aus und trat, sich die Augen wischend, beiseite, um der nächsten dieselbe Gelegenheit zu geben.

Dann trat der König etwas vorwärts und fing an, eine Rede hervorzuschluchzen, voller Thränen und Beteuerungen, was für eine schwere Prüfung für ihn und seinen armen[168] Bruder der Verlust des Dahingeschiedenen sei, besonders da sie ihn nach der langen Reise von viertausend Meilen nicht mehr lebend finden konnten. Aber es sei eine Prüfung, versüßt und geheiligt durch dies schöne Mitgefühl, diese heiligen Thränen; und so danke er allen Anwesenden aus seinem und seines Bruders Herzen, denn mit ihrem Munde könnten sie es nicht, da Worte zu schwach und kalt wären. Und so jammervoll gings weiter, bis es einen anekeln konnte. Dann grölte er in »A men« heraus, und das Heulen ging wieder los.

Kaum hatte er ausgeredet, so intonierte einer der Anwesenden das »Ehre sei Gott in der Höhe« und alle fielen kräftig mit ein, und das erwärmte einem ordentlich das Herz. Musik ist doch ein herrliches Ding; zumal nach einer solchen Rührscene, wo alles so weich wie geschmolzene Butter wurde, wirkte der kernige und ehrliche Gesang ordentlich auffrischend.

Dann setzte der König wieder seine Kinnlade in Bewegung und sagte, wie sehr er und seine Nichten sich freuen würden, wenn einige der besonders nähern Freunde der Familie zum Abendessen bleiben und nachher mit bei der Asche des Verstorbenen wachen wollten. »Ja,« sagte er, »wenn unser armer Bruder, der jetzt dort liegt, reden könnte, so weiß ich, wen er nennen würde; die Namen, die ihm so lieb waren und die er oft in seinen Briefen nannte, waren folgende: Pastor Hobson und Vorsteher Lot Hovey und Herr Ben Rucker und Abner Shackleford und Levi Bell und Dr. Robinson und deren Frauen und Witwe Bartley.«

Pfarrer Hobson und Dr. Robinson waren am andern Ende der Stadt zusammen auf der Jagd; das heißt, ich meine, der Doktor expedierte einen Kranken ins Jenseits und der Pfarrer wies ihm den rechten Weg. Advokat Bell war in Geschäften nach Louisville gereist. Aber der Rest war bei der Hand und so kamen sie denn alle und schüttelten dem König[169] die Hände und dankten ihm und sprachen mit ihm. Dann reichten sie auch dem Herzog die Hände und sagten nichts aber lächelten ihn freundlich kopfnickend an, während er mit den Händen allerlei Zeichen machte und die ganze Zeit »Gu – gu – gu – gu – gu« schluchzte wie ein Säugling, der noch kein Wort sprechen kann.

So plapperte der König fort und fragte fast nach jedermann im ganzen Städtchen, nannte viele bei Namen, berührte allerlei Kleinigkeiten, die sich im Städtchen und besonders in Georges Familie und an Peter selbst ereignet hatten, und dabei that er, als ob ihm Peter alles geschrieben hätte; aber das war eine Lüge. Er hatte all das Zeug aus dem jungen Burschen herausgepumpt, den wir im Kanoe aufs Dampfboot expediert hatten.

Nun brachte Mary Jane den Brief, den ihr Onkel zurückgelassen hatte, und der König las ihn vor und weinte darüber. Er vermachte sein Wohnhaus und dreitausend Dollars Gold den Mädchen, und er schenkte die Gerberei, die ein gutes Geschäft war, nebst andern Gebäulichkeiten und Land, alles im Wert von etwa siebentausend Dollars und dreitausend Dollars in Gold, Harry und William; er bezeichnete auch, wo die sechstausend Dollars im Keller versteckt seien. Drauf sagten die zwei Betrüger, sie wollten gehen und es herauf bringen, damit es in bester Ordnung besorgt würde, und geboten mir, mit einem Lichte mitzukommen. Wir schlossen die Kellerthür hinter uns; als sie den Sack fanden, schütteten sie ihn auf die Diele aus – es war ein herrlicher Anblick, all die Goldstücke. O, wie leuchteten da des Königs Augen! Er klopfte dem Herzog auf die Schulter und rief:

»Gelt, diesmal hat's aber eingeschlagen! wer hätte so viel erwartet! Kerl, das geht über's non plus ultra!«

Der Herzog stimmte bei. Sie wägten die Goldstücke und[170] ließen sie durch die Finger gleiten und auf der Diele klingen; und der König sprach:

»Das steht fest: Brüder eines reichen Toten zu sein und Vertreter ausländischer Erben, die zurückgeblieben sind, ist jetzt der richtige Beruf für dich und mich, Sommerfett!«

Jeder andere wäre zufrieden gewesen mit dem Haufen Gold wie er war; aber nein, sie mußten ihn zählen. Sie thatens und es fehlten vierhundertfünfzehn Dollars. Der König sagte:

»Verdammt! was hat er mit den vierhundertfünfzehn Dollars gemacht?«

Sie grübelten eine Zeit lang und suchten überall herum. Dann sagte der Herzog:

»Er war ja ein recht kranker Mann und hat wohl einen Irrtum begangen – das wird's wohl sein. Am besten ist's, wir lassen's gehn und sagen nichts davon. Wir können das schon ablassen.«

»Ach, davon ist ja nicht die Rede, – ich denke an etwas anderes. Wir müssen sehr vorsichtig und genau in dieser Sache sein. Wir müssen das Geld hinaufnehmen und in Gegenwart der Anwesenden zählen, damit ja kein Verdacht geschöpft werden kann. Aber wenn der tote Mann da sagt, es sind sechstausend Dollars, dürfen wir nicht –«

»Halt! rief der Herzog, wir wollen das Fehlende dazuthun –« und er langte eine Hand voll Goldfüchse aus seiner Tasche heraus.

»Das ist eine famose Idee, Herzog – du hast einen aufgeweckten Kopf auf deinen Schultern,« rief der König. »Da hilft uns die ›non plus ultra‹-Einnahme gut aus« – und auch er langte nun Goldstücke aus seiner Tasche und stellte sie in gezählten Häufchen auf.

Es erschöpfte fast ihre ganze Barschaft, aber sie machten die Sechstausend-Summe voll.[171]

»Hör' mal,« rief nun der Herzog, »ich hab' noch eine andere Idee. Laß uns hinaufgehen, das Geld vorzählen und dann alles den Mädchen geben.«

»Herzog! Herzog! laß dich umarmen, das ist der brillanteste Gedanke, den ein Mensch haben kann. Du hast das erfinderischste Gehirn, das sich denken läßt. O, das ist grandios, wahrhaftig. Jetzt soll noch jemand mit Zweifel oder Argwohn kommen, wenn er will – dies überzeugt alle.«

Als wir hinaufkamen, sammelten sich alle um den Tisch. Der König zählte und stellte die Goldstücke auf, dreihundert in jedem Häufchen – zwanzig elegante kleine Türmchen. Jedermann sah hungrig und mundwässrig darauf hin. Dann wurde alles wieder in den Sack gethan und ich sah, wie der König schon wieder zu einer Rede Atem schöpfte. Er sprach:

»Liebe Freunde! mein armer Bruder, der dort drüben liegt, hat hochherzig an uns gehandelt, die wir hier im Jammerthal zurückgeblieben sind; hochherzig an diesen armen lieben Lämmern, die er geliebt und überwacht hat und die nun vater- und mutterlos zurückbleiben. Ja und wir, die ihn kannten, wissen, daß er noch mehr für sie gethan hätte, wenn er nicht gefürchtet, dadurch seinen teuren William und mich zu schädigen. Glaubt ihr nicht? Ich zweifle nicht im mindesten daran. Nun, schlechte Brüder wären es, die zu solcher Zeit an sich selbst dächten. Und schlechte Onkel, die zu solcher Zeit diese armen süßen Lämmer, die er so liebte, berauben könnten – ja – berauben, sag' ich. Wenn ich William recht kenne – und ich glaube, ich kenne ihn – würde er – nun, ich will ihn gleich fragen.« Er wandte sich und begann mit dem Herzog allerlei Zeichen auszutauschen und der Herzog sah ihn erst eine Zeit lang dumm und dämlich an; dann, als ob ihm plötzlich etwas einleuchtete, sprang er auf den König zu, vor Freude laut gu – gu – end, und umarmte ihn wohl fünfzehnmal, bevor er[172] ihn losließ. Dann sprach der König: »Wußt' ich's doch: dies wird wohl alle überzeugen, wie er darüber denkt. – Hier Mary Jane, Susan, Joanna, nehmt das Geld – nehmt das Ganze. Es ist ein Geschenk von ihm, der dort liegt, kalt aber selig.«

Dann sprang Mary Jane zu ihm, Susan und die ›Hasenlippe‹ zum Herzog; solch Umarmen, ans Herz drücken und Küssen habe ich niemals gesehen. Und alle drängten sich herbei mit Thränen in den Augen, und die meisten schüttelten den zwei Betrügern die Hände mit Redensarten wie:

»Ihr lieben, guten Seelen! – wie lieb! – wie konntet ihr das?«

Dann sprachen sie alle über den Verstorbenen, wie gut er gewesen, was für ein großer Verlust und dergleichen mehr. Bald drängte sich ein großer Kerl zur Thüre herein, der hatte Kinnbacken wie aus Eisen. Er stand zuhörend und zusehend und sagte nichts, und auch niemand sprach zu ihm, denn der König sprach und alle hörten ihm zu. Der König sagte, in seiner Rede fortfahrend:

– »Das waren die intimsten Freunde des Verstorbenen, darum sind sie für diesen Abend eingeladen; aber morgen, hoffen wir, werden alle kommen – wir erwarten jeden, denn er achtete jeden, er hatte jeden gern, und darum gehört sich's, daß seine Begräbnis-Orgieen recht öffentlich stattfinden.«

Und so gings fort und fort, denn er hörte sich gern reden, und gelegentlich brachte er immer wieder die Begräbnis-Orgieen mit hinein, bis es dem Herzog zuviel wurde und er auf ein Stück Papier schrieb: »Obsequien du alter Esel,« es zusammenfaltete und es gu – gu – end dem König über die Köpfe der andern hinüberreichte. Der König las es, steckte es in die Tasche und sagte:

»Armer William, obwohl tief gebeugt, ist sein Herz doch[173] stets auf dem rechten Fleck. Er wünschte, daß ich jeden bitte, zum Begräbnis zu kommen – sagt, ich soll alle willkommen heißen. Aber er hätte sich darum nicht zu kümmern gebraucht, denn ich war ja gerade dabei.«

Dann fuhr er unbeirrt fort, in größter Fassung, und brachte wieder seine Begräbnis-Orgieen vor, und wieder und wieder, wie vorher, und nachdem er es dreimal gethan hatte, rief er:

»Ich sage Orgieen, nicht weil es das gewöhnliche Wort ist, das ist's nicht – das ist Obsequien – sondern weil Orgien der richtige Ausdruck ist. Obsequien wird in England nicht mehr gebraucht, das ist veraltet. In England sagen wir jetzt Orgieen. Orgieen ist besser, denn es bezeichnet genauer, was man dabei meint. Das Wort ist zusammengesetzt aus dem griechischen ›orgo‹, draußen, außerhalb im Freien; und dem hebräischen ›giene‹, pflanzen, mit Erde bedecken, also beerdigen. So könnt ihr also sehen, daß Begräbnis-Orgieen eine offene oder öffentliche Beerdigung bedeutet.«

Es war der frechste Mensch, der mir je vorgekommen ist, und der Mann mit dem eisen-ähnlichen Kiefer lachte ihm gerade ins Gesicht. Das wunderte alle und sie riefen: »Aber Doktor!« und Abner Shackleford sagte: »Aber Robinson, hast du die Neuigkeit nicht gehört? Dies ist Harry Wilks.«

Der König lächelte lauernd, hielt seine Tatze heraus und sprach:

»Ist es meines armen Bruders lieber guter Freund und Arzt? Ich« –

»Laß deine Hände von mir!« rief der Doktor. »Du – und sprechen wie ein Engländer? du? Es ist die erbärmlichste Nachäffung, die ich je gehört. Du Peter Wilks Bruder? Du bist ein Betrüger, das ist, was du bist!«

Ach, wie sie alle entsetzt waren! Sie drängten sich um den Doktor und suchten ihn zu beruhigen, ihm auseinanderzusetzen,[174] wie Harry in vielfacher Weise gezeigt habe, daß er Harry sei, wie er jeden Namen kannte und sogar die der Hunde, und baten und beschworen ihn, Harry nicht zu nahe zu treten und das Zartgefühl der Mädchen zu schonen u.s.w. Aber es war umsonst, er brauste auf und meinte, jemand, der sich für einen Engländer ausgebe und Englands ›Lingo‹1 nicht besser nachmachen könnte, als der da, sei ein Betrüger und Lügner. Die armen Mädchen hingen sich an den König und weinten. Plötzlich wandte sich der Doktor zu ihnen und sagte:

»Ich war eures Vaters Freund und ich bin euer Freund; und ich beschwöre euch als Freund, als ein ehrlicher Freund, der euch zu beschützen und Kummer und Unglück von euch abzuwenden sucht, diesem Gauner den Rücken zu kehren, nichts mit ihm zu thun zu haben, diesem unwissenden Landstreicher mit seinem idiotischen Griechisch und Hebräisch, wie er es nennt. Er ist ein fadenscheiniger Betrüger – kommt her mit einer Masse leerer Namen, die er sich irgendwo zusammengesucht hat, und ihr nehmt sie für Beweise und eure betrogenen Freunde hier helfen euch, euch selbst zu betrügen – die sollten doch gescheiter sein. Mary Jane Wilks, du kennst mich als deinen Freund, und als einen uneigennützigen Freund. Laß dir raten und diesen erbärmlichen Gauner hinauswerfen. Ich bitte dich, thu' es. Willst du?«

Mary Jane erhob sich stolz in ihrer ganzen Größe – o, wie war sie schön! – und sagte:

»Hier ist meine Antwort.« Sie hob den Sack Geld auf und legte ihn in des Königs Hände mit den Worten:

»Nimm diese sechstausend Dollars und lege das Geld für mich und meine Schwestern an, wie du es am besten hältst, wir brauchen keinen Empfangschein darüber.«[175]

Dann umschlang sie den König mit ihrem Arm von einer Seite, und Susan und die ›Hasenlippe‹ thaten dasselbe von der andern Seite. Alles klatschte mit den Händen und trommelte stürmisch mit den Füßen auf die Diele, während der König seinen Kopf hoch hielt und stolz lächelte. Der Doktor rief:

»Wohl denn, ich wasche meine Hände in Unschuld. Aber ich sage euch allen, daß die Zeit kommen wird, wo es euch übel zu Mute werden wird.«

»Um so besser, Doktor,« rief der König höhnisch, »dann werden sie Euch wohl rufen lassen müssen« – das machte alle lachen und sie sagten, das sei ein guter Witz.

1

Aussprache.

Quelle:
Twain, Mark: Abenteuer und Fahrten des Huckleberry Finn. Stuttgart 1892, S. 159-176.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Abenteuer und Fahrten des Huckleberry Finn
Abenteuer und Fahrten des Huckleberry Finn

Buchempfehlung

Angelus Silesius

Cherubinischer Wandersmann

Cherubinischer Wandersmann

Nach dem Vorbild von Abraham von Franckenberg und Daniel Czepko schreibt Angelus Silesius seine berühmten Epigramme, die er unter dem Titel »Cherubinischer Wandersmann« zusammenfasst und 1657 veröffentlicht. Das Unsagbare, den mystischen Weg zu Gott, in Worte zu fassen, ist das Anliegen seiner antithetisch pointierten Alexandriner Dichtung. »Ich bin so groß als Gott, er ist als ich so klein. Er kann nicht über mich, ich unter ihm nicht sein.«

242 Seiten, 11.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon