Legende

[273] Es ist 'ne Kirche wohlbekannt,

Sankt Michael vom Berg genannt;

Am Ende vom Normannenlande

Auf eines hohen Felsen Rande,

Umschlossen überall vom Meer,

Nur daß von einer Seite her,

Sowie die Flut zurücketrat,

Sich öffnet ein gebahnter Pfad.

Es kommt die Flut zweimal im Tage

Mit schnell- und starkem Wellenschlage,

Daß mancher zu derselben Frist

Mit großer Not entronnen ist.

Viel Waller zu der Kirche kommen

Zu ihres ew'gen Erbes Frommen.

Einmal an einem hohen Feste

Beeilten sich die frommen Gäste,

Zur heil'gen Messe hinzuwallen;

Doch hat die Flut sie überfallen.

Sie flohen auf des Pfades Enge

Mit Hast und mächtigem Gedränge.

Nur einer armen Schwangern war

Die Kraft geschwunden ganz und gar,

Gehemmt ihr Lauf von herben Schmerzen,

Die sich ihr regten unterm Herzen.[273]

Sie ward gestoßen von der Menge

Und fiel zu Boden im Gedränge.

So blieb sie liegen, unbeachtet,

Weil jeder sich zu retten trachtet.

Die andern waren all entronnen

Und hatten schon den Berg gewonnen,

Doch wie sie nach der Frau hinsahen,

So tät sich schon die Flut ihr nahen;

Wohl jede Hülfe war zu spät,

Drum wandten sie sich zum Gebet.

Auch jene, die, dem Tode nah,

Nicht Menschenhülfe möglich sah,

Sie hat zu Jesus und Marien

Und zum Erzengel laut geschrieen.

Die Pilger haben's nicht vernommen,

Zum Himmel ist der Ruf gekommen.

Die süße Gottesmutter oben

Hat sich von ihrem Thron erhoben.

Die heil'ge Herrin voll Erbarmen

Wirft einen Schleier hin der Armen,

Die unter solcher Decke Schutz

Bewahrt ist vor der Wellen Trutz;

Denn mitten in der Wasser Braus

Ist ihr gebaut ein trocknes Haus.

Die Ebbezeit nicht ferne war,

Nun stund am Strand die ganze Schar.

Die Frau man längst verloren gab;

Da wich die Flut vom Land hinab,

Und trat aus all der Wellen Grund

Die Frau, ganz freudig und gesund,

Und in den Armen hielt sie lind

Ein lieblich neugeboren Kind.

Da täten Geistliche und Laien

Des schönen Wunders hoch sich freuen,

Mit Staunen auf die Frau sie wiesen,

Den Herrn und seine Mutter priesen.
[274]

Quelle:
Ludwig Uhland: Werke. Band 1, München 1980, S. 273-275.
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