Das Schloß am Meere

[119] Hast du das Schloß gesehen,

Das hohe Schloß am Meer?

Golden und rosig wehen

Die Wolken drüber her.


Es möchte sich niederneigen

In die spiegelklare Flut;

Es möchte streben und steigen

In der Abendwolken Glut.


»Wohl hab ich es gesehen,

Das hohe Schloß am Meer,

Und den Mond darüber stehen

Und Nebel weit umher.«
[119]

Der Wind und des Meeres Wallen

Gaben sie frischen Klang?

Vernahmst du aus hohen Hallen

Saiten und Festgesang?


»Die Winde, die Wogen alle

Lagen in tiefer Ruh,

Einem Klagelied aus der Halle

Hört ich mit Tränen zu.«


Sahest du oben gehen

Den König und sein Gemahl?

Der roten Mäntel Wehen,

Der goldnen Kronen Strahl?


Führten sie nicht mit Wonne

Eine schöne Jungfrau dar,

Herrlich wie eine Sonne,

Strahlend im goldnen Haar?


»Wohl sah ich die Eltern beide,

Ohne der Kronen Licht,

Im schwarzen Trauerkleide;

Die Jungfrau sah ich nicht.«


Quelle:
Ludwig Uhland: Werke. Band 1, München 1980, S. 119-120.
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