Maiklage

[12] Leuchtet schon die Frühlingssonne

Über See und Aue hin?

Hat zur Stätte stiller Wonne

Sich gewölbt der Zweige Grün?

Ach! die Gute, die ich meine,

Schenkt mir keinen Maienstrahl,

Wandelt nicht im Blütenhaine,

Ruhet nicht im Quellental.


Ja! es waren schönre Zeiten,

Als in buntbekränzten Reihn[12]

Hirten mit den süßen Bräuten

Walleten zum Opferhain;

Als die Jungfrau, Krüge tragend,

Oft zum kühlen Brunnen trat,

Und der Wandrer, sehnlich fragend,

Sie um Trunk und Liebe bat.


Ach! das Toben roher Stürme

Riß den goldnen Frühling fort.

Schlösser stiegen auf und Türme,

Traurig saß die Jungfrau dort;

Lauschte nächtlichem Gesange,

Sah hinab ins Schlachtgewühl,

Sah es, wie im Waffendrange

Ihr getreuer Streiter fiel.


Und ein Alter, dumpf und trübe,

Lagerte sich auf die Welt,

Das die schöne Jugendliebe

Wie ein Traum befangen hält.

Im Vorübereilen grüßen

Sich mit Blicken, voll von Schmerz,

Die sich fest und ewig schließen

Möchten an das treue Herz.


Welkt, ihr Blumen und ihr Bäume,

Höhnet nicht der Liebe Schmerz!

Sterbet auch, ihr Jugendkeime!

Schmachte hin, du volles Herz!

In die öde Nacht der Grüfte

Sinkt, ihr Jünglinge, hinab!

Flieder wallen in die Lüfte,

Rosen blühn um euer Grab.


Quelle:
Ludwig Uhland: Werke. Band 1, München 1980, S. 12-13.
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