Morpheus

[86] Bey Venus ward von Schäferinnen

Der holde Morpheus hart verklagt:

Wird sein abscheuliches Beginnen

Ihm, sprachen sie, nicht untersagt.[86]

Bey Tage sind wir Schäfern spröde:

Doch sieh, wie schalkhaft Morpheus ist!

Im Traum ist keine Hirtinn blöde;

Ja, leider! auch die Unschuld küsst.


Die Schäfer weihen ihm Gesänge:

Er heuchelt ihrer Zärtlichkeit,

Und spottet unsrer keuschen Strenge,

Die ach! uns manche Lust verbeut.

Ein Thyrsis, der zu Doris Füssen

Vor wenig Stunden trostlos lag,

Kann träumend seine Spröde küssen,

Die alles will, was Morpheus mag.


Hier unterbrach die langen Klagen

Der Traumgott voller Ungeduld,

Und sprach: o Göttinn! darf ichs wagen;

So höre mich mit gleicher Huld.

So müsse dir der Weltkreis fröhnen,

Und Amors Bogen sey beglückt,

Solang auf Wangen junger Schönen

Ein blühend Morgenroth entzückt!


Ich muß der frommen Mädchen lachen:

Sie träumen von verliebter Lust!

Welch Wunder? herrscht, wann Mädchen wachen,

Die Liebe nicht in ihrer Brust?[87]

Ich weis, was ieder Schönen fehlet,

Um die mein stiller Fittig spielt;

Und sehe was ihr Herz verhehlet,

Und oft sie selbst nur dunkel fühlt.


Manch Mädchen prangt mit scheuer Tugend,

Das ingeheim zu Amorn fleht,

Wann itzt im Frühling muntrer Jugend

Ihr Busen in der Fülle steht.

Sie seufzt, und, o gerechter Kummer!

Es jammert mich der Schäferinn:

Ich führe sie bey frühem Schlummer

In ihres Hirten Arme hin.


Liebt Chloe nichts, als ihre Heerde?

Sie glaubts! ihr Auge saget mir,

Daß Chloen Damon küssen werde;

Und ich verrath es ihm und ihr.

Die Spröde schleicht mit mir in Gründe

Zu Büschen, wo kein Fremder lauscht,

Wann beym Geschwätze sanfter Winde

Der Scherz geheimer Schmätzchen rauscht.


Ein ieder gleichet seinen Träumen:

Im Traume zecht Anakreon:

Ein Dichter jauchzt bey seinen Reimen,

Und flattert um den Helikon.

Für euch, Monaden! ficht mit Schlüssen

Ein Liebling der Ontologie;

Und allen Mädchen träumt von Küssen:

Denn was ist wichtiger für sie?
[88]

Der Traumgott wollte weiter sprechen:

Doch itzt rief ihm die braune Nacht:

Sie lag schon über dunkeln Bächen;

Und Philomela war erwacht.

Er floh, und lächelnd sprach Cythere:

Ihr Kinder! wißt nicht, was ihr wollt.

O predigt nur von strenger Ehre!

Mir seyd ihr doch im Herzen hold.

Quelle:
Johann Peter Uz: Sämtliche poetische Werke, Stuttgart 1890, S. 86-89.
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